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Mbappé: Die Biografie
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eBook250 Seiten3 Stunden

Mbappé: Die Biografie

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Über dieses E-Book

Mit 17 Jahren der Durchbruch als Profi. Mit 18 der zweitteuerste Fußballer der Geschichte. Mit 19 Jahren schließlich Weltmeister und der jüngste Spieler seit Pelé, der je in einem WM-Finale traf. Trotz seiner jungen Jahre ist Kylian Mbappé schon heute ein Weltstar des Fußballs.
Dieses Buch erzählt seine Geschichte: von der Kindheit in der Pariser Banlieue bis zu den großen Erfolgen im Verein und der französischen Nationalmannschaft. Interviews mit Verwandten und Nachbarn, ehemaligen Trainern und Mannschaftskollegen zeichnen darüber hinaus ein ganz persönliches Bild des Fußballwunderkinds.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Apr. 2023
ISBN9783730706695
Mbappé: Die Biografie
Autor

Luca Caioli

Luca Caioli, Jahrgang 1958, ist ein italienischer Sportjournalist und Autor. Seine Biografien internationaler Fußballstars sind in mehr als 30 Ländern erschienen.

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    Buchvorschau

    Mbappé - Luca Caioli

    Kapitel 1

    Allée des Lilas

    Der Besuch war ihm vorab angekündigt worden, und er hat sich sorgsam vorbereitet. Mit blauem Stift hat er ein paar Gedanken niedergeschrieben. Er kann es kaum abwarten, sie vorzutragen, doch seine Großmutter sagt, er solle sich gedulden, er werde später noch dazu kommen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt: Seine Großeltern und ihre Gäste plaudern und trinken Kaffee. Er blickt auf das Notizbuch, das er auf den Tisch des kleinen, von einem großen Fernseher dominierten Wohnzimmers gelegt hat. Er hört zu, beteiligt sich hin und wieder am Gespräch. Endlich bekommt er die Erlaubnis, verbunden mit der Empfehlung, laut und deutlich zu sprechen.

    „Hallo zusammen. Kylian ist der Beste. Er ist der Held von Bondy. Alle lieben ihn. Er ist ein Vorbild für alle Kinder, die Fußball spielen. Er ist sehr gut. Wilfrid und Fayza haben ihre Kinder gut erzogen. Ethan wird in die Fußstapfen seines Bruders Kylian treten."

    Idrisse ist neun Jahre alt; er geht zur Schule, spielt Fußball in der U10 und fasst in wenigen Worten zusammen, was jeder in Bondy denkt, von Madame la Maire, der Bürgermeisterin, bis zu den Kindern, die nur wenige hundert Meter entfernt auf den Plätzen des Stade Léo-Lagrange trainieren.

    Idrisse ist der Enkel von Elmire und Pierrot Ricles, einem Ehepaar, das in den späten 1970er Jahren von Martinique nach Frankreich kam. Sie leben in der ersten Etage eines weißen Wohnhauses in der Allée des Lilas Nr. 4. Ein fünfstöckiger Sozialbau aus den 1950er Jahren in einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße im Zentrum von Bondy, einer Gegend, die manche wegen der Straßennamen hochtrabend Cité de Fleurs, Stadt der Blumen, nennen. Hierher ist die Familie Mbappé im Herbst 1998 gezogen. Steigt man die erste Treppe hinauf, sieht man einen Briefkasten, auf dem noch immer steht: „Lamari-Mbappé Lottin, 2te links".

    „Sie zogen in die Etage direkt über uns, sagt Elmire, „in eine Wohnung genau wie die unsere: 56 Quadratmeter, Wohnzimmer, Kochnische mit Blick auf das Stade Léo-Lagrange und zwei Schlafzimmer. Ich erinnere mich, dass Fayza im achten Monat schwanger war mit Kylian, als sie ankamen.

    Fayza – damals 24 Jahre alt und aus Algerien stammend – wuchs in Bondy Nord auf, im Viertel Terre Saint-Blaise. Sie besuchte das Collège Jean Zay und ging in die Sporthalle direkt gegenüber vom Haus. Im Alter von 12 und 13 Jahren spielte sie Basketball, bevor sie sich ganz auf Handball konzentrierte. Sie spielte auf dem rechten Flügel für die AS Bondy in der Division 1.

    „Sie fing ganz unten an und wurde zu einer der besten Handballspielerinnen in Bondy in den späten 1990er Jahren. Fayza hatte Charisma. Sie war eine der Leaderinnen des Teams, extrem talentiert und extrem tough", erinnert sich ein Freund der Familie.

    „Sie war eine Kämpferin auf dem Platz, aber sie war auch hitzköpfig. Es brauchte nicht viel, um sie auf die Palme zu bringen, und sie war nicht zimperlich mit den Gegenspielerinnen. Wenn man Fayza verärgerte, ließ sie es einen spüren", erinnert sich Jean-Louis Kimmoun, ein früheres Vorstandsmitglied und später Präsident des Klubs in einem Interview mit Le Parisien. „Aber abseits des Platzes war sie eine ganz liebe Person und ist es immer noch."

    „Sie redet allerdings gern viel, erzählt ein Freund des Paares. „Früher hatte sie ständig irgendwelchen Unfug im Kopf. Ich arbeitete drei oder vier Jahre lang mit ihr zusammen als Trainer in den Vierteln Maurice Petitjean und Blanqui, mittwochs und in den Schulferien in den Gemeindezentren. Dort traf sie Wilfrid, der ebenfalls Trainer war, mit seinem kleinen Bruder Pierre und Alain Mboma, dem großen Bruder von Patrick Mboma, Afrikas Fußballer des Jahres 2000. Beide liebten Sport, hatten den Schalk im Nacken und starke Persönlichkeiten. Es war nur logisch, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten.

    Als er mit Fayza in die Allée des Lilas zog, war Wilfrid 30 Jahre alt. Geboren in Douala in Kamerun, war er auf der Suche nach einem besseren Leben nach Frankreich gekommen. Nachdem er in Bobigny gewohnt hatte, zog er nach Bondy Nord, wo er einige Jahre Fußball spielte.

    „Er war ein guter Spieler, ein Zehner, ein Mittelfeldspieler, der gerne den Ball hatte, erinnert sich Jean-François Suner, technischer Direktor der AS Bondy, der von allen nur Fanfan genannt wird. „Er hätte Karriere machen können. Er durchlief die Jugendmannschaften des Klubs und spielte dann zwei Jahre für den benachbarten Verein aus Bobigny in der Division d’Honneur [höchste Amateurklasse im französischen Fußball]. Als er dort aufhörte, kam er wieder zu uns. Wir boten ihm eine Stelle an, und er kümmerte sich zunächst als Trainer und später als sportlicher Leiter um unsere Jugend. Wir arbeiteten fast 30 Jahre lang zusammen, ab der Saison 1988/89, und bauten den Klub um, bis er im Juni 2017 dann aufhörte.

    20. Dezember 1998

    Fünf Monate und ein paar Tage waren seit jenem berühmten 3:0 vergangen, seit Zinédine Zidanes zwei Kopfballtoren und Emmanuel Petits coup de grâce im WM-Finale gegen die Brasilianer mit ihrem angeschlagenen „Fenômeno" Ronaldo. Die Erinnerungen an diesen Sonntag, den 12. Juli, und den kollektiven Rausch waren noch frisch. Wie könnte man auch anderthalb Millionen Menschen vergessen, die freudentrunken auf den Champs-Elysées feierten und Siegeslieder sangen?

    Die Menge bejubelte „Black-blanc-beur" (schwarz, weiß, nordafrikanisch) und skandierte „Zidane président! Wie könnte man einen der größten Triumphe in der Geschichte des französischen Sports vergessen? Es war nur folgerichtig, dass Fayza und Wilfrid in diesem vom Fußball gesegneten Jahr das schönste aller Weihnachtsgeschenke bekamen: ihr erstes Kind. Der Junge kam am 20. Dezember zur Welt und wurde getauft auf den Namen Kylian Sanmi (kurz für Adesanmi, was auf Yoruba „die Krone passt mir bedeutet) Mbappé Lottin. Der Nachname Mbappé würde noch Anlass für viele Spekulationen sein: War Kylian der Enkel von Samuel Mbappé Léppé, genannt „Le Maréchal", dem kamerunischen Mittelfeldspieler der 1950er und 1960er Jahre? Oder war er ein Verwandter von Étienne M’Bappé, dem Bassisten aus Douala? Nein, da gab es keine Verbindung, wie Pierre Mbappé erklärt: In Kamerun ist der Nachname Mbappé in etwa so verbreitet wie Dupont in Frankreich oder Schulz in Deutschland.

    Pierre ist Kylians Onkel, auch er Fußballer. Er fing bei Stade de l’Est an und spielte später für Klubs wie Laval, Villemomble und Ivry. Als er zum Krankenhaus eilte, um seinen Neffen kennenzulernen, hatte er im Gepäck einen Minifußball als Geschenk für das Neugeborene. Im Scherz sagte er zu Fayza und seinem Bruder Wilfrid: „Ihr werdet sehen, aus ihm wird eines Tages ein großer Fußballer!"

    Einige Tage nach dem freudigen Ereignis kehrten Mutter und Sohn heim. Fayza nahm wieder ihre Arbeit in der Stadtver waltung von Bobigny auf, während Wilfrid nur über die Straße gehen musste zum Stade Léo-Lagrange, wo er seine Kids trainierte. Besonders einer hatte seine Aufmerksamkeit erregt: Er war elf Jahre alt und fünf Jahre zuvor aus Kinshasa im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, nach Bondy gekommen. Die Lage in seiner Heimat war prekär, daher hatten seine Eltern beschlossen, ihn nach Frankreich zu schicken, damit er zur Schule gehen und sich eine Zukunft aufbauen konnte. Der Junge hieß Jirès Kembo Ekoko; er war der Sohn von Jean Kembo, genannt „Monsieur But", Mittelfeldspieler der zairischen Nationalmannschaft, die zweimal den Africa Cup of Nations gewann (1968 und 1974) und sich 1973, auch dank der beiden Tore von Kembo im entscheidenden Spiel gegen Marokko, als erstes Team aus Subsahara-Afrika für die Endrunde einer Weltmeisterschaft qualifizierte. Jean nannte seinen Sohn Jirès zu Ehren des französischen Mittelfeldspielers Alain Giresse, den er sehr bewunderte, und schickte ihn nach Frankreich zu einem Onkel und seiner älteren Schwester. 1999 erhielt Jirès Kembo Ekoko seine Spielberechtigung bei der AS Bondy. Wilfrid war sein erster Trainer und wurde bald auch sein Vormund und eine Art Vater.

    „Es ist schwer zu erklären, aber es war, als wäre dieser Mensch seit jeher meine Bestimmung gewesen", sagte Jirès Jahre später. Die Familie Lamari-Mbappé Lottin nahm ihn bei sich zuhause auf; zwar adoptierten sie ihn nicht, doch er nannte sie stets Mama und Papa, denn sie waren es, die ihm Zuneigung gaben und ihm halfen, schwierige soziale Verhältnisse zu überwinden und sich den Traum von der Karriere als Fußballprofi zu erfüllen. Jirès zog in die Allée des Lilas und wurde zu Kylians großem Bruder, Vorbild, Idol und erstem Fußballhelden. Die Nachbarn erinnern sich daran, wie er an den Wochenenden vom Leistungszentrum Clairefontaine heimkam oder Fayza und Wilfrid ihn zu wichtigen Spielen brachten.

    „Die Familie stand sich sehr nahe, sie waren nette, bodenständige Leute", sagt Pierrot.

    „Wegen seiner Arbeit sahen wir Wilfrid nur selten, aber Fayza lief uns im Treppenhaus oder in den Geschäften hier im Viertel häufig über den Weg. Wir sahen Kylian aufwachsen. Sowie er laufen konnte, fing er an, in dem Zimmer über dem meiner beiden Mädchen mit dem Ball zu bolzen. Ich glaube, sonntagmorgens machte er sein Zimmer zum Fußballplatz, erinnert sich Elmire mit einem Lachen. „Wann immer wir uns begegneten, entschuldigte sich Fayza unablässig. Ich versicherte ihr, dass schon alles in Ordnung sei und dass man ein Kind ja nicht anbinden könne! Schon damals hatte er nichts als Fußball im Kopf.

    Mit einem weiteren Lachen erzählt die Großmutter von der Zeit, als der kleine Junge von oben eine Djembé-Trommel bekam, es war entweder zum Geburtstag oder zu Weihnachten. „Er hörte gar nicht mehr auf, es dauerte eine Weile, bis er von seinem neuen Spielzeug abließ. Aber abgesehen vom Fußball und der Trommelei war Kylian ein reizender, sehr höflicher Junge, der stets ‚bonjour‘ oder ‚bonsoir‘ sagte, wenn er mir begegnete. Seine Entwicklung als Fußballer haben wir nicht verfolgen können, weil die Familie ein paar Jahre nach der Geburt von Ethan, dem Nesthäkchen, das, wenn ich mich nicht irre, 2006 auf die Welt kam, in ein Wohnviertel im Süden der Stadt zog, auf der anderen Seite der Gleise, Richtung Les Coquetiers. Wir sahen ihn letztes Jahr im Mai, als er hierher ins Stadion kam, um die französische Meisterschaft zu feiern. Alle Kinder der AS Bondy waren da, mit einem Transparent, auf dem stand: ‚Danke, Kylian, alle in Bondy stehen hinter dir!‘ Das war wirklich sehr schön. Kylian verteilte Trikots an die Kinder, und Idrisse schaffte es sogar, ein Foto mit ihm zu ergattern."

    „Zum Glück sah Fayza uns und rief: ‚Wartet mal, das sind meine Nachbarn!‘, also stieg ich in den Wagen und machte das Foto, das meine Mutter jetzt hütet", erläutert der Enkel.

    „Wir verfassten zu diesem Anlass einen Brief, zusammen mit den drei anderen Familien, die hier wohnen, mit Daniel und Claudine Desramé, unseren Nachbarn aus der ersten Etage."

    Elmire steht vom Tisch auf, geht zu einer Ecke des Raumes hinüber, öffnet eine Schublade und blättert einen Stapel Papier durch. Schließlich ruft sie aus: „Hier ist er!"

    Lieber Kylian,

    Wir hoffen, dass du nicht erschrickst, wenn wir dich einfach so ansprechen. Wir erinnern uns an dich immer noch als den wohlerzogenen, zehnjährigen Jungen, den wir im Treppenhaus in der Allée des Lilas Nr. 4 trafen. Heute bist du ein großer Fußballstar und glänzt auf dem Platz. Wir verfolgen den überwältigenden Erfolg deiner sportlichen Karriere mit großer Freude. Wir reden oft über dich und deine Eltern, die wir sehr mochten. Sie haben dich sehr gut erzogen. Jedes Mal, wenn du deine Schuhe schnürst, vergiss nicht, dass deine Nachbarn deine größten Fans sind!

    Mit den besten Wünschen für die Zukunft.

    Kapitel 2

    Die Stadt, in der alles möglich ist

    Man kann es nicht übersehen. Es ragt direkt vor einem auf, wenn man auf der A3 Richtung Paris unterwegs ist. Es ist riesig, nimmt vier Etagen an der Seite der achtstöckigen Résidence des Potagers ein. Es ist eine Explosion aus Grün, aus Laubblättern und Fußbällen, die von überall herausschießen. In der Mitte steht Kylian Mbappé im Trikot von Paris Saint-Germain. Er blickt ernst drein und macht das Shaka-Zeichen. Ganz oben prangt das Motto: „Bondy: Ville des possibles – die Stadt, in der alles möglich ist". Das riesige Fresko blickt von oben herab auf eine Autobahn voller Verkehr und Staus; es überblickt die Avenue du Général Galliéni (vormals die RN3), betrachtet das Kommen und Gehen neuer Unternehmen (von Conforama bis Darty) und begleitet die Kinder, die die Straße überqueren, um zum Lycée Madeleine Vionnet zu gelangen, und die Horden von Teenagern auf dem Weg zum Collège Jean Renoir.

    Es ist eine Ehre, die Art von Wandgemälde, wie sie normalerweise Persönlichkeiten wie Zinédine Zidane vorbehalten ist, der nach dem Gewinn der WM 1998 mit einem riesigen Porträt an der Place Paul Ricard in Marseille mit Blick auf das Mittelmeer gewürdigt wurde. Oder Diego Armando Maradona, der von Jorit Agoch auf einem Gebäude im neapolitanischen Stadtteil San Giovanni a Teduccio verewigt wurde. Oder Moussa Sissoko, dessen gigantisches Poster die Fassade von Le Galion in Aulnay ziert.

    Die riesige Tafel mit Kylians Konterfei wurde von Nike gestiftet, das den jungen Stürmer sponsert, seit er 13 Jahre alt war. Der amerikanische Sportartikelhersteller hat außerdem tief in die Tasche gegriffen, um den Bau einer Sportanlage für die Gemeinde zu finanzieren; sie wurde am 6. September 2017 eröffnet, im Jardin Pasteur, wo Kylian das Dribbeln erlernte und seine ersten Tore schoss. Zwei Symbole, das Fresko und die Sportanlage, auf Wunsch der Familie Mbappé der Stadt zu Ehren, in der Kylian geboren wurde.

    Bondy im Département Seine-Saint-Denis (93) in der Region Île-de-France ist ein Vorort nordöstlich von Paris, neun Kilometer von der Porte de Pantin gelegen. Es ist die neuntgrößte Stadt im Département, eine multikulturelle Gemeinde von fast 54.000 Einwohnern, das Gebiet um den Canal de l’Ourcq nicht eingerechnet.

    Der Name Bondy erscheint erstmals zwischen 590 und 630 im Testament der Ermentrude, einer reichen Witwe, die der Kirche, die an der Kreuzung der alten römischen Rue Compoise und der Straße von Lutetia nach Meaux erbaut wurde, Land, einen Ochsenkarren, Kleidung und verschiedene Kultgegenstände vermachte. Über den Ursprung des Namens der Stadt gibt es zwei Theorien: Er soll sich entweder von Bonitius herleiten (lateinisch für Sohn des Bonit), dem Eigentümer des Landes in galloromanischer Zeit, oder aber vom gallischen Wort „bon" für einen kleinen Hügel. Im Laufe der Zeit wurde der Name zu Boniaticus, Boniasensis, Bonisiacus, Boniaticus (8. Jahrhundert), Bulzeia, Bonzeia, (12. Jahrhundert), Bondis und schließlich Bondy (17. Jahrhundert).

    Im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Name Bondy erstmals mit dem gleichnamigen Wald verbunden, dem Bois de Bondy, damals bekannt als Unterschlupf für Räuber und Banditen. Es war beim dortigen Postamt, dass in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1791 Pierre-Augustin Fremin, ein Postmeister und zukünftiger Bürgermeister, Ludwig XVI. erkannte, der als Kammerdiener verkleidet aus dem Palais des Tuileries floh. Seine Flucht war von kurzer Dauer: Der König von Frankreich wurde wenig später in Varennes verhaftet. Heute sind vom berühmten Wald nur noch ein paar Hektar ganz im Norden des Départements erhalten, doch erinnert das Wappen der Stadt und ihr Motto „Glücklich in seinem Schatten" noch an ihn.

    Ende des 18. Jahrhunderts hatte Bondy 300 bis 400 Einwohner, die das Land bearbeiteten. Ab 1821 – mit der Vollendung des Canal de l’Ourcq, den Napoleon anlegen ließ, um Wasser in die Stadt zu befördern – erlebte die Stadt eine Phase großer industrieller und urbaner Expansion. Es wurden die ersten Mühlen und Betonfabriken in der Gegend erbaut. Manche behaupten, sie seien dort nicht nur wegen des Bodens und des Wassers errichtet worden, sondern auch wegen des beständigen Nordostwinds, der den Rauch und den Qualm in Richtung der Provinzen und weit fort von den empfindlichen Nasen der hauptstädtischen Bourgeoisie trug. Zwischen 1860 und 1870, mit der Ankunft der Eisenbahn, die Paris mit Straßburg verband, ließen sich zahlreiche aus Elsass und Lothringen stammende Arbeiter, die am Bau der Strecke beteiligt waren, in der Gegend um den Bahnhof nieder. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden südlich der Stadt weitere Wohnviertel, mit Steinhäusern und einem Herrenhaus, wie sie typisch für die Region Paris sind. Richtung Norden bauten Bauern weiterhin Gemüse an, aber mit Beginn des neuen Jahrhunderts veränderte sich alles. Die Automobilindustrie boomte, Arbeiter ließen sich nahe der Fabriken nieder, und Bondy wurde, wie andere Teile des Départements Seine-Saint-Denis, zu einer Arbeiterstadt.

    Der Klassenaspekt ist nicht ganz unerheblich, bedenkt man, dass in der Stadt seit 1919 kein rechtsstehender Bürgermeister mehr gewählt worden ist. Die Bürgermeister der Stadt stellten seit jeher die Sozialisten (ausgenommen Henri Varagnat von der Kommunistischen Partei, Bürgermeister von 1935 bis 1939, der wie alle gewählten kommunistischen Amtsträger mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entfernt wurde). Sylvine Thomassin bildet keine Ausnahme. Sie kam als Kind nach Seine-Saint-Denis, arbeitete als Hebamme auf der Entbindungsstation des Hospitals Jean-Verdier und nahm sich dann der Themen Bildung und Stadterneuerung an, bevor sie im Oktober 2011 zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Sie folgte auf Gilbert Roger, der in den Senat gewählt worden war. „Ab den 1950er und 1960er Jahren entstanden im Norden der Stadt neue Viertel und große Wohnsiedlungen als Antwort auf Wohnungsnot und Slums. Damals zogen viele Heimkehrer aus Algerien sowie Immigranten aus dem Maghreb, Subsahara-Afrika und Portugal in die Stadt. Die Bevölkerung von Bondy wuchs von 22.411 im Jahr 1954 auf 51.653 im Jahr 1968. Das war die erste Migrationswelle", sagt Thomassin, als sie über die jüngere Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft der Stadt spricht.

    „Darauf folgte eine zweite, zwischen 1980 und 1990, vor allem aus Ländern südlich der Sahara: Zaire, Kamerun, Kongo und Angola. Die Wohnsiedlungen ermöglichten tausenden Familien hygienische Bedingungen und Zugang zu Trinkwasser und Elektrizität. Kurz gesagt: moderne Annehmlichkeiten. Das Recht auf Wohnraum war garantiert. Arbeiterklasse und Mittelschicht lebten glücklich und zufrieden Seite an Seite. In den Vierteln gab es eine starke und aktive Gemeinschaft; es war ein goldenes Zeitalter. Die Siedlungen bewährten sich bis zum dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zwischen 1970 und 1980. Danach zogen die Menschen ganz allmählich nur noch hierher, weil sie keine andere Wahl hatten. Die Siedlungen waren

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