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eBook165 Seiten1 Stunde

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Über dieses E-Book

In Anemos, einer postapokalyptischen verstrahlten Stadt, hat sich eine prekär ausbalancierte Gemeinschaft aus Mischwesen und Mutant*innen gebildet – für das gemeinsame Überleben braucht es die Leuchtqualle Oberon, die die Wasserversorgung der Stadt sicherstellt, aber auch die geweihbewehrte Titania, die für die wilden Feste der Stadt sorgt. Doch eines Jahres endet das Fest Walpurgis mit Oberons Tod im Liebesspiel – und das kleine Schleimtierchen Müxerl muss Oberons Aufgaben übernehmen. Denn: Was du kaputt machst, musst du richten, so verlangt es das Gesetz von Anemos. Was, so fragt Elisabeth Klar, kommt nach dem Anthropozän? Und welche Gesetze kann sich eine Gesellschaft geben, um unter widrigen Umständen nicht nur zu überleben, sondern auch leben zu wollen?
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum24. Jan. 2023
ISBN9783701747016
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    Buchvorschau

    Es gibt uns - Elisabeth Klar

    I

    1

    Es ist Frühjahr, das Licht kehrt zurück und langsam werden die Tage länger, doch noch wickeln sich die Bewohnerinnen von Anemos in Hüllen um Hüllen und finden sich ein auf dem Vorplatz des Schlosses, weil das Theaterstück wieder aufgeführt werden soll.

    Sie tummeln sich, weil sie es nun endlich wieder wagen, eng aneinander zu stehen und gemeinsame Luft zu atmen, und der Chor mischt sich bereits auf dem Vorplatz unter das Publikum. Heute werden sich die Tore des Schlosses öffnen, nicht nur für wenige wie sonst, sondern für die ganz vielen, für die gesamte Stadt, die an diesem einen Tag im Jahr für diese eine Theatervorstellung über die Schwelle der Industrieanlage treten darf, in die Höfe zwischen hohen Gebäuden, rauchenden Schloten. In ein Meer aus Lichtern, weil jede Außentreppe von unzähligen Neonröhren beleuchtet ist.

    Anemos findet zusammen für die Geschichte von Titania, Oberon und dem Müxerl, und auf kaltem Beton in beißender Luft wird eine andere, wärmere Jahreszeit beschworen und dieses andere, das größte Fest. Die Theatervorstellung kehrt jedes Jahr wieder, immer und immer wieder drängt sich die Menge auf dem Vorplatz, Chor und Zuschauerinnen mischen sich, und jedes Jahr wieder beginnt es mit demselben Satz:

    »Walpurgis kehrt wieder, immer und immer wieder«, erzählt der Chor, »und das ist es wohl, was es so wertvoll macht.«

    Die Menge wird still, sobald der Chor spricht. Das Flüstern verstummt, noch raschelt es allerdings ein wenig, noch haben nicht alle einen guten Platz gefunden. Manche reiben sich die Arme, steigen von einem Fuß auf den anderen. Auf vielen Plätzen der Stadt brennen heute hohe Feuer, in die die Bewohnerinnen von Anemos das werfen, was sie sich ersehnen – manche schreiben es auf Zettel, manche bringen kleine Objekte mit, die etwas beschwören sollen: Samen für Früchte, Knochen für Fleisch, Windeln für Kinder. Denn heute ist Imbolk – das Fest, das den Frühling ankündigt, obwohl noch Winter herrscht. Imbolk, das den Beginn des neuen Jahres markiert, und heute werden Vorsätze gefasst, Entscheidungen werden getroffen. Walpurgis und damit der Sommer sind noch Monate entfernt, noch kann man sich auf die Rückkehr der Sonne freuen – allzu bald werden die meisten sie wieder wegwünschen, sie verfluchen, und viele an ihr zugrunde gehen.

    »Wir, die wir in Anemos leben, betrauern, was geht, und wir begrüßen, was kommt«, singt der Chor, »aber wir haben gelernt, nur zu feiern, was wieder und wieder geht, was wieder und wieder kommt, alles andere tut zu weh und nicht alles lässt sich ertragen. Wir tragen genug – denn zu vieles in dieser Stadt steht still und ist zugleich beständig im Wandel. Hitze und Kälte, Dürre und Feuchtigkeit. Und vieles geht und kommt nicht wieder, und manches kommt und frisst anderes auf. Wir halten uns in den Armen, drehen uns im Kreis, und wieder ist die Welt um uns eine andere geworden. Trotzdem müssen wir weiter und weiter erzählen, was bleibt uns auch übrig?

    Es bleibt uns die Zunahme und Abnahme des Lichts. Es bleibt uns der ewige Wandel der Sonnenstunden, der nie stehen bleibt, der gleich geblieben ist in seiner Unbeständigkeit.

    Das ist das Maß unserer Zeit, zugleich das Maß unseres Lebenswillens – der Abstand zwischen den Jahresfesten. Ein Fest noch, sagen wir, wenn die Feuer unsere Felder auffressen, ein Fest noch, wenn wir über Wochen hinweg nicht aus unseren Höhlen kriechen können. Dieses Fest auslassen, sagen wir, wenn die nächste Seuche wütet, und wir feiern umso lauter, sobald es wieder geht. Dicht gedrängt stehen wir hier, weil wir uns wieder drängen können, weil wir Schulter an Schulter stehen können, und es treibt uns, treibt uns ins Theater.«

    Ein Raunen geht durch die Menge. Niemand spricht mehr sehr gerne vom vergangenen Jahr. Das nächste Samhain, das wissen alle, wird gewaltig werden, viel wird zu verabschieden sein beim nächsten Tag der Toten. Doch als der Chor die Fragen stellt, die jedes Jahr gestellt werden, hat das Publikum die Antwort bereit, wie immer.

    »Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene?«, fragt der Chor.

    Die Menge antwortet: »Ins Theater!«

    »Du hast zerrissene Stiefel?«

    Und wieder tönt es: »Ins Theater!«

    »Du hast nichts zum Tauschen und doch Hunger?«

    »Ins Theater!«

    »Du legst Vorräte an und versteckst sie gut?«

    »Theater!«

    »Du lebst in dieser Stadt, weil du sonst nirgends leben kannst?«

    »Theater!«

    »Dein Körper ergibt sich den Tumoren?«

    »Theater!«

    »Du stehst vor dem Freitod?«

    »Theater!«

    »Du hasst und verachtest die anderen und kannst sie dennoch nicht missen?«

    »Theater!«

    »Man borgt dir nirgends mehr, lässt dich nirgends mehr ein?«

    »Theater!«

    Immer lauter wird die Menge, bis sie schreit, sich das Zögern aus dem Leibe schreit, bis sie sicher ist, dass das die Antwort auf alles ist: »Theater!«

    »Es treibt uns, treibt uns auf den Vorplatz«, spricht der Chor, »jetzt, da die Tage länger werden, müssen wir spielen, müssen wir sprechen, müssen wir Pläne fassen. Und wir, der Chor, sind unter euch, wir gehören zu euch, denn jedes Jahr werden wir unter euch ausgewählt. Wir stehen dort, wo ihr steht, sind von euch kaum zu unterscheiden. Und gemeinsam warten wir, dass sich die Tore zum Schloss öffnen, dass wir eintreten, dass wir in den Höfen eine Bühne finden und uns endlich vergessen dürfen in einer weiteren Geschichte.«

    2

    Anemos heißt die Stadt, die die Industrieanlage umgibt. Sie heißt so nach der Blume, die an jeder Ecke blüht und zu einer ganz anderen Gattung gehört als jene, die Titania in ihren Treibhäusern hochzieht. Die Wiesen an den Ufern des Flusses, der die Stadt durchschneidet, sind übersäht von Anemonen, von kleinen weißen Blüten, die sich dicht an dicht im Wind wiegen. Zumindest in jenen Zeiten, in denen es noch regnet.

    Titanias Knospen locken Fremde in die Stadt, die Anemonen hingegen stellen sicher, dass es mehr als genug Wohnraum gibt und fast genug Essen und dass das trinkbare Wasser meistens für alle reicht. Sie sorgen dafür, dass weite Teile der Stadt schon vor langer, langer Zeit verlassen worden sind, überwachsen und still, obwohl hier weniger Dürre herrscht als anderswo, obwohl selbst in der schlimmsten Sommerhitze ein leichter Wind geht, obwohl hier jede immer noch einen Unterschlupf gefunden hat, in einem Keller, in einer verlassenen Wohnung, unter einem Steg.

    Geschichten ändern sich, müssen sich beständig ändern, weil Fluten kommen und dann Brände, neue Krankheiten und alte, weil Stürme das Land heimsuchen und dann wieder die Temperatur so weit fällt, dass der Boden friert, und doch sind die Geschichten über die Anemonen sehr alt und immer die gleichen geblieben.

    Kleine, weiße, herzförmige Blüten, die die gelben Staubblätter umgeben. Windröschen heißen sie auch, weil jeder zu starke Windstoß ihre Blütenblätter abreißen und überall verteilen mag. Sie wurden vor sehr langer Zeit zur Warnung erschaffen und wachsen immer noch dort, wo vieles kurzlebig ist, nicht nur sie selbst. Wo sie wachsen, ist der Boden giftig, das Wasser auch, und alles strahlt. Tumore entfalten sich in Körpern wie noch mehr Blüten.

    Die Geschichten über diese Körper hingegen ändern sich sehr wohl. Es gibt Körper, die den Windröschen keinen fruchtbaren Boden bieten. Es gibt jene Körper, die trotz der Tumore weiter atmen und sich bewegen können. Alles andere, das sich in dieser Stadt niederlässt, stellt sich auf einen frühen Tod ein.

    Nie aber ist Anemos so belebt wie zu Walpurgis, dem Fest, für das aus allen Himmelsrichtungen angereist wird. Für manche dieser Gäste ist die Nachbarschaft zu den weißen Blumen nichts Ungewöhnliches – sie wachsen vielerorts und unzählige Siedlungen und Städte könnten Anemos genannt werden. Warum nur die eine Stadt diesen Namen trägt, ist zwischen den Geschichten durchgerutscht und verloren gegangen – vielleicht ist es ein Ausdruck der Liebe für diesen Ort gewesen, die sich trotz des allgegenwärtigen Todes erhalten hat.

    Manche Gäste kommen von weiter Ferne, weil Anemos an vielen Orten bekannt ist, weil an wenigen anderen Orten die Jahresfeste so wild gefeiert werden wie hier. Weil Tanz und Spiel und Vergnügen dabei über alle Grenzen hinweg fast so hoch gehandelt werden wie die anderen Güter der Stadt, Wärme und Energie.

    Und diese Gäste von Ferne sehen vielleicht zum ersten Mal die Wiesen weiß von Blüten. Schön ist es hier, sagen sie dann, schön und gefährlich. Sie nehmen die Gefahr auf sich, für einen Tag oder zwei, haben ihren eigenen Proviant mit, essen von keinen Tellern und trinken aus keinen Bechern, waschen sich nicht mit Anemos’ Wasser und legen sich nicht auf Anemos’ Erde. Sie gehören nicht hierher und ihre Zeit hier ist begrenzt. Doch selbst sie tauschen, sofern sie wohlhabend genug sind, ihren Besitz gegen Titanias schwere Knospen, legen sich diese Knospen auf den Bauch und denken an Hitze und Schweiß, an Lust und Rausch.

    3

    Die Menge bewegt sich unter Schieben und Rufen, macht Platz vor den Toren des Schlosses – denn alle wissen, dass es nun nicht mehr lange dauert, bis Titania auftreten wird.

    »Jetzt ist die Zeit nach Jul«, erzählt der Chor, »nach der Wintersonnenwende. Es ist die Zeit nach den Raunächten zwischen den Jahren, die nach Geschichten verlangen, die Tage sind noch kurz und die Welt finster. Es trieb die wilde Jagd der Schwestern durch unsere Stadt, grau und schattenhaft dieses wütige Heer, und sind die Unholden auch weitergezogen, so treibt es immer noch Stürme und manchmal, wenn wir Glück haben, glänzenden Schnee. Wir haben uns verkrochen, erst langsam wagen wir uns wieder hervor. Noch verbrennt der Frost unsere nackten Sohlen, noch schlafen viele von uns in ihren Bauten oder unter dem Eis. Wer sich nicht unter eigenem oder fremdem Fell, unter genug Schichten Stoff verstecken kann, muss frieren. Die Imbolk-Feuer lodern, doch die Wechselwarmen unter uns wollen sich noch kaum bewegen. Und doch werden wir heute von Walpurgis sprechen, vom Fest der kommenden Hitze, und mit ihm von allem, was Walpurgis bedeutet: vom Tanz!

    Noch einmal sich aneinander reiben, noch einmal einander packen im Spiel, noch einmal da sein, wirklich da. Noch einmal triumphieren.

    Ja sagen, wenn man Ja sagen will, Nein sagen, wenn man Nein sagen will, auch das, denn das Ja und das Nein bedingen einander, können ohne einander nicht bestehen, umarmen einander im Tanz, müssen beide willkommen geheißen werden, sonst sind wir verloren.«

    »Sonst sind wir verloren!«, ruft

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