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Mein Leben als Sonntagskind
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eBook695 Seiten14 Stunden

Mein Leben als Sonntagskind

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Über dieses E-Book

»Eine ganz besonders mitreißende Geschichte. Judith Visser weiß genau, wie man den Leser verlockt und seine Neugier entfacht.« Hebban

Jasmijn ist ein ganz normales junges Mädchen. Kontaktfreudig und bei allen Mitschülern beliebt. Ein Sonntagskind, dem die Welt offensteht. Doch es gibt einen Haken: So ist sie nur in ihrem Tagebuch. Denn die wahre Jasmijn ist anders. Sie redet nicht. Nur mit ihrer Hündin Senta. Und mit Elvis Presley, mit dessen Postern sie ihr Zimmer tapeziert hat. Denn beide antworten nicht, und das ist gut. Dann muss Jasmijn sich nicht fragen, was gemeint ist. Oder überlegen, was sie antworten soll. Wie schaffen es andere Menschen bloß, dass sie immer wissen, wie sie sich verhalten sollen? Mit Senta und Elvis an ihrer Seite macht sich Jasmijn auf, dieses Geheimnis zu ergründen und ihr Glück zu finden.

Der Bestseller aus den Niederlanden: ein berührender Roman über das Erwachsenwerden mit Autismus

  • »Judith Visser trifft den Leser direkt ins Herz.« Noordhollands Dagblad
  • »In klarer, schnörkelloser Sprache gibt Visser Einblicke in eine autistische Welt, die so anders ist und verwirrend parallel existiert.« Neue Presse
  • »Auf einfühlsame Weise gelingt es Judith Visser, die selbst am Asperger-Syndrom leidet, die Gefühlswelt eines jungen autistischen Mädchens einzufangen.« Lübecker Nachrichten
SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum2. Mai 2019
ISBN9783959678698
Mein Leben als Sonntagskind
Autor

Judith Visser

Judith Visser wurde in Rotterdam geboren. 2006 debütierte sie mit ihrem Roman »Tegengif«. Sie gewann zweimal den Preis »Beste Rotterdamse Boek«. Ihr jüngstes Buch, »Mein Leben als Sonntagskind«, stand auf Platz 5 der niederländischen Bestsellerliste und gewann den Hebban Literatuur Clubprijs 2018. Erst im Erwachsenenalter hat Judith Visser erfahren, dass sie am Asperger-Syndrom leidet. Dank ihrer Erfahrungen versteht sie es, die Gefühlswelt eines jungen autistischen Mädchens auf wunderbar einfühlsame Weise einzufangen.

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    Buchvorschau

    Mein Leben als Sonntagskind - Barbara Heller

    HarperCollins®

    Der Verlag dankt der niederländischen Literaturstiftung

    für die Förderung der Übersetzung

    Copyright © 2019 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH

    Copyright © 2018 by Judith Visser

    Originaltitel: »Zondagskind«

    Erschienen bei: HarperCollins,

    an imprint of Uitgeverij HarperCollins Holland, Amsterdam

    Published by arrangement with

    HarperCollins Holland, a division of Harlequin Enterprises Limited

    Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text

    wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

    Covergestaltung: Favoritbuero GbR, München

    Coverabbildung: Illustration by Sarah Wilkins

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959678698

    www.harpercollins.de

    Zitat

    »A writer’s duty is to register what it is like for him or her to be in the world.«

    ZADIE SMITH

    1997

    Ein Fußgänger. Verdammt. Ich kannte die Verkehrsregeln, konnte sie aber, wenn es drauf ankam, nicht abrufen. In jeder Fahrstunde schnappten sie unter einer Lawine von Reizen aufs Neue nach Luft. Musste ich ihn vorbeilassen? Oder musste er mich vorbeilassen? Der Schweiß drang mir aus allen Poren und sammelte sich zwischen den Schulterblättern …

    »Jasmijn«, hörte ich Jaap neben mir sagen, »du weißt doch: Meine vier Räder stehen still …«

    »… wenn mein rechter Fuß es will«, ergänzte ich. Ich musste grinsen über die Eselsbrücke, die nach anderthalb Jahren Fahrschule immer noch lustig und notwendig war. Ich bremste. Der Fußgänger überquerte die Straße, ich wurde wieder ernst und gab Gas. Wir näherten uns einem Kreisverkehr. Das Lenkrad war feucht von meinen verschwitzten Händen. Konzentration. Ich drückte den Rücken fester gegen die Lehne und holte tief Luft. Überblick – Überblick war alles. Aber gerade daran haperte es bei mir. Das große Ganze existierte für mich nicht, ich sah nur eine Unmenge von Einzelheiten, die nie ein Gesamtbild ergaben. Ich sah eine Möwe in der Luft. Das Nummernschild des Autos vor mir: SP – NN – 80. Sofort machte mein Gehirn daraus: Stolzer Panther, Niemals Neidisch, 80 Kilo. Ich rückte meine Sonnenbrille zurecht, die ich auch bei bewölktem Himmel trug. Ohne die dunklen Gläser waren meine Augen den Ampeln und Blinklichtern nicht gewachsen. Wenn ich sie ungeschützt ansah, blinkte einfach alles.

    »Achtung«, sagte Jaap, »Fuß auf die Bremse.«

    Abstand halten vom Stolzen Panther vor mir. Abwarten, was die Autofahrer machten, die von links kamen. Der vorderste – Haariger Philosoph, Wirkt Jünger, 41 Jahre – verließ den Kreisel. Okay, ich konnte weiterfah…

    »Pass auf!« Der Fahrlehrer stieg auf seine eigene Bremse.

    Jetzt erst sah ich die Radfahrerin rechts von mir. Sie schaute mich groß an. Reflexartig machte ich eine entschuldigende Geste. Sie fuhr kopfschüttelnd weiter.

    Hinter uns wurde laut gehupt.

    »Jasmijn …« Ein Stöhnen schwang in Jaaps Stimme mit. »Bieg nach dem Kreisverkehr rechts ab. Dort kannst du kurz halten und den Motor abstellen.«

    Jaap blätterte im Theoriebuch der Fahrschule. In dem Grübchen zwischen seiner Nase und der Oberlippe glitzerte eine kleine Schweißpfütze. »Hier.« Er hielt mir das Buch hin. »Das ist so eine Situation wie eben.«

    Ich sah mir die Abbildung an und unterdrückte ein Gähnen. Mich dem Tempo des Verkehrs anpassen, Schritt halten mit dem sich ständig verändernden Strom, das machte mich fertig. Kaum hatte ich registriert, was vor mir geschah, war neben oder hinter mir schon wieder eine andere Situation entstanden. Jaap erfasste mit einem Blick das komplette Bild, ich dagegen sah erst den Lastwagen, dann das Auto, dann irgendwelche Radfahrer, Fußgänger, Mopedfahrer oder was auch immer. Als Autofahrer musste man aber in der Lage sein, alles gleichzeitig wahrzunehmen – ein Zwinkern, und schon sah alles wieder ganz anders aus. Die Bilder scheuerten wie Feuersteine über meine Netzhaut, bis mir Funken aus den Pupillen sprangen.

    »Siehst du, was ich meine?«, fragte Jaap. »In so einem Fall musst du darauf achten, dass …«

    Seine Stimme verebbte. Meine Augen brannten immer heftiger. Ich schloss sie, nur ganz kurz.

    »… verstehst du, Jasmijn?«

    Dunkelheit, endlich.

    »Jasmijn!«

    Ich schreckte auf und schob meine heruntergerutschte Brille hoch.

    Jaap klappte das Buch mit einem Seufzer zu. »Bist du eben tatsächlich eingeschlafen?«

    Er wirkte nicht verärgert, eher besorgt. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Furche gebildet, und er schüttelte leicht den Kopf. »Hör zu …« Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn. »Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber hast du dich mal untersuchen lassen? Psychologisch, meine ich. Ich frage deshalb, weil ich seit über vierzig Jahren Fahrstunden gebe, aber noch nie erlebt habe, dass jemand so extrem auf den Verkehr reagiert. Nach gut hundert Stunden muss ich immer noch jedes Mal eingreifen. Das Steuer übernehmen, auf die Bremse treten. Du fährst Automatik, da ist viel weniger zu tun, und trotzdem sehe ich keinerlei Fortschritte. Ich habe sogar das Gefühl, du fährst von Woche zu Woche schlechter.«

    Meine Hände verkrampften sich im Schoß. »Dabei geb ich mir alle Mühe«, murmelte ich frustriert.

    »Ich weiß. Aber vielleicht gibt es ja irgendwelche Pillen oder so, damit du dich besser konzentrieren kannst. Dann schaffst du den Führerschein vielleicht doch noch. An deiner Stelle würde ich mal den Hausarzt fragen.«

    Ich schwieg.

    Jaap sah mich eindringlich an. »Bevor es noch Tote gibt …«

    Es war ein Scherz, das merkte ich an dem Lachen in seiner Stimme.

    Aber es war ein hoffnungsloses Lachen.

    Ein Sonst-weiß-ich-auch-nicht-weiter-Lachen.

    Ich war damals neunzehn, und den Führerschein habe ich nie geschafft. Aber zum Arzt bin ich gegangen, wenn auch erst ein paar Jahre später. Er überwies mich zu einem Psychologen, und nach sechs gründlichen Untersuchungen, in die auch meine Eltern einbezogen wurden, lautete die Diagnose: Asperger-Syndrom. Eine Form von Autismus. Eine angeborene Störung der Informationsverarbeitung, die die Kommunikation erschwert und den Umgang mit anderen zum Problem machen kann. Ich vertiefte mich in das Thema und stieß auf Bücher voller Lösungen für Probleme aus meiner Kindheit.

    Nicht ich war anders, mein Gehirn war anders.

    Jeder Mensch ist einzigartig, auch Menschen mit Autismus. Es gibt genug Aspies, die sich im Verkehr durchaus zurechtfinden, oder solche, die sich nicht ständig mit Essen vollstopfen müssen, weil ihnen sonst der Treibstoff fehlt, der sie funktionieren lässt. Es gibt Autisten, die ein Gespräch mehrere Stunden durchhalten, ohne zusammenzubrechen, die ganz entspannt die Schulbank drücken und das Leben auch ohne »Hilfshund« meistern.

    Aber dies ist meine Geschichte.

    Die Geschichte von Jasmijn Vink, geboren in Rotterdam an einem Sonntag im Winter 1978.

    1. Kapitel

    Ich war vier, als ich zum ersten Mal aus der Schule weglief. Es war mein erster Tag an der Prinses Marijkeschool, und ich verstand nicht, warum meine Mutter mich hergebracht hatte. Noch nie war ich ohne sie oder ohne Senta irgendwo gewesen. Senta war meine beste Freundin. Sie war zwei Jahre jünger als ich, und für andere war sie ein Hund. Ihr eines Ohr stand hoch, das andere hing herab, und nachts schlief sie bei mir im Bett. Meine Mutter löste meine Finger aus Sentas dichtem, weichem Fell und sagte, Senta werde jetzt mit ihr nach Hause gehen.

    »Und ich?«, fragte ich.

    »Du bleibst ein Weilchen hier, das hab ich dir doch erklärt.«

    Ich schüttelte heftig den Kopf. Meine Mutter hatte gesagt, wir würden in die Vorschule gehen, und ich hatte gedacht, das wäre etwas Ähnliches wie einkaufen zu gehen. Von Dableiben hatte niemand etwas gesagt!

    »Lassen Sie mich das machen«, hörte ich eine unbekannte Stimme. Eine blonde Frau trat zu uns. Sie streckte die Hand aus, um Senta zu streicheln.

    Senta und ich wichen zurück.

    Die Frau ging vor mir in die Hocke. »Du bist Jasmijn, nicht wahr? Ein schöner Name. Ich bin Fräulein Marleen, und du bleibst erst mal bei mir. Mama holt dich dann in drei Stunden wieder ab.«

    Ich drehte mich entschlossen um und lief mit Senta zum Ausgang.

    »Nein, Jasmijn.« Die Frau fasste mich am Handgelenk. »Du musst schön dableiben. Die anderen Kinder kommen auch gleich. Es wird dir hier gefallen, du wirst sehen.«

    Ich riss mich los. Ich würde doch nicht bei einer Frau bleiben, die ich gar nicht kannte!

    Meine Mutter legte mir die Hand auf den Kopf. Sie hatte mir heute mit viel Geduld die Haare geflochten. Wenn eine Strähne in der Bürste hängen blieb, hatte ich nicht mal »Au« sagen müssen; sie hatte sie ganz vorsichtig wieder herausgezogen. Sie wusste immer, was in mir vorging, und deshalb würde sie mich ganz bestimmt nicht hier zurücklassen.

    Die Frau sagte etwas zu ihr, so leise, dass ich es nicht verstand.

    Meine Mutter nickte.

    »Sieh mal, Jasmijn.« Die Frau zeigte in eine Ecke. »Das ist unsere Puppenecke. Schön, nicht wahr?«

    Ich folgte ihrem Finger mit den Augen, wurde aber durch die kahlen Fenster abgelenkt, durch die gleißendes Sonnenlicht hereinfiel. Auch die Neonröhren an der Decke verbreiteten ein grelles Licht. Darunter standen Stühle im Kreis, und in der Ecke, die mir die Frau gezeigt hatte, lagen die Puppen wild durcheinander. Ein rothaariges Mädchen packte eine davon an den Haaren und schwenkte sie im Kreis herum.

    Meine Mutter hatte gesagt, Colette würde auch hier sein, aber ich sah sie nirgends.

    »Komm«, sagte die Frau, »du kannst mit Mathilde spielen.«

    Warum ließ sie mich nicht in Ruhe? Ich drehte mich um. Ich musste meiner Mutter klarmachen, dass wir jetzt wirklich gehen mussten. Aber wo sie eben noch mit Senta gestanden hatte, stand jetzt eine andere Mutter. Ein schreiender Junge hing an ihrem Arm. Ich trat einen Schritt zur Seite und schaute an ihnen vorbei. Dann sah ich in die andere Richtung und sperrte die Augen auf. Mama! Senta!

    Die Frau nahm mich an der Hand und zog mich in die Puppenecke.

    Senta! rief ich im Kopf. Senta!

    Aber Senta kam nicht.

    Das grelle Licht brannte mir in den Augen. Und überall waren Stimmen, so laut, als würden mir alle Kinder gleichzeitig in die Ohren schreien.

    »Gib das her!«, rief ein Junge, der Ramon hieß.

    »Nein!« Colette rannte weg. Sie hielt ein Feuerwehrauto hoch über den Kopf.

    Ramon stürmte schreiend hinter ihr her.

    »Fang mich doch, fang mich doch!« Colette machte kreischende Sirenengeräusche. Ihr schien es hier zu gefallen.

    Ich setzte mich in der Puppenecke auf den Boden und hielt mir die Ohren zu. Der Boden dröhnte von Ramons Gestampfe. Sein roter Pulli – so rot wie Colettes Feuerwehrauto und Mathildes Wangen – blitzte mir in die Augen. Die ganze Welt war rot, und das Rot schlug mir gegen den Kopf. Bum-bum-bum. Ich kniff die Augen zu. Auch die Ohren hielt ich mir immer noch zu, aber der Lärm rann durch meine Finger wie Sand. Jemand stieß mich gegen die Schulter und trampelte davon. Der Boden zitterte, und das Zittern kroch in meinen Körper. Meine Zähne klapperten.

    Tatü-tata! Tatü-tata!

    Gib her!

    Fang mich doch!

    Hahaha!

    Ich zog die Knie an, drückte den Kopf dazwischen und hielt die Arme wie ein Dach darüber. Dann hob ich das Gesicht vorsichtig wieder und öffnete das linke Auge einen Spalt. Die hin und her hüpfenden Flecken waren jetzt nicht mehr nur rot, sondern auch lila. Blau. Grellgelb. Die Welt war ein Ausmalbild, und alle Felder explodierten. Peng-peng-peng!

    Die Frau stand in einer Ecke. Ein Junge neben ihr schlug mit der Faust gegen einen Turm. Alle Klötzchen prasselten zu Boden, aber niemand schien den ohrenbetäubenden Lärm zu hören.

    Niemand außer mir.

    »Hab dich!«, brüllte Ramon auf der anderen Seite des Klassenzimmers.

    Colette kreischte.

    Ich bekam keine Luft mehr. Taumelnd rappelte ich mich hoch. Ich musste zu Senta. Nach Hause. Zu warmer Milch mit Honig. Zum Surren der Nähmaschine meiner Mutter.

    Die Frau stand noch immer in derselben Ecke, mit dem Rücken zu mir.

    Wieder presste ich die Hände auf die Ohren, und dann rannte ich, so schnell ich konnte, hinaus. Zwischen den fremden Jacken an der langen Hakenreihe im Flur suchte ich meine eigene heraus, dann lief ich mit großen Schritten zum Ausgang und drückte mit beiden Händen fest gegen die Glastür. Sie flog auf. Ich rannte über den Schulhof, am Sandkasten und der Grünfläche vorbei, weg von dem ganzen Radau.

    Nie wieder würde ich in die Vorschule gehen.

    Mein Magen knurrte. Zu Hause würden wir Brot mit Thunfischsalat essen, hatte meine Mutter gesagt. Ich lief in die Richtung, aus der wir heute Morgen gekommen waren. Jetzt waren da keine Mütter mit Kindern mehr, keine Fahrradklingeln, kein Reden und Lachen. Aber im Kopf hörte ich immer noch den Lärm, vor dem ich geflüchtet war. Ich lief schneller. Wenn ich Senta wiedersah, würden all die Geräusche verschwinden. Bei ihr ging es mir immer gut.

    Aber … Moment mal …

    Ich blieb stehen.

    War das der richtige Weg? Alles war auf einmal so groß.

    Langsam machte ich noch einen Schritt. Die Straße, in der wir wohnten, würde ich erkennen, das wusste ich. Geertruidenbergstraat hieß sie. Dort musste ich in die zweite Tür und dann vier Treppen hoch. Das Haus gegenüber sah genauso aus wie unseres, auch mit drei Stockwerken. Zwischen den beiden Häusern standen ein paar Bäume, und für Leute mit Auto gab es Parkplätze. Wir hatten kein Auto.

    Ich machte noch einen Schritt und noch einen.

    Meine Jacke hielt ich mit den Händen gegen die Winterkälte zusammen. Zuknöpfen konnte ich sie nicht, das machte immer meine Mutter. Manchmal schaute ich ihr dabei zu, aber ihre Finger bewegten sich so schnell, und wenn ich es selbst probierte, verhedderte ich mich. Ich blieb auf dem Bürgersteig; über die Straße durfte ich noch nicht allein.

    Mein Bruder schon, der war acht.

    Der scharfe Wind machte meine Finger rot und steif. Ein Auto fuhr vorbei. Der Mann hinterm Lenkrad drehte sich nach mir um. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht, um mich unsichtbar zu machen. Wenn mich jemand anschaute, war es, als würden seine Augen mich berühren. Wieder dröhnte mir das Getöse der Vorschule in den Ohren. Ich ging schneller. Immer wenn ich an eine Querstraße kam, bog ich um die Ecke, sodass ich kein einziges Mal den Bürgersteig verlassen musste. Dann konnte mir niemand böse sein.

    Den Springbrunnen links kannte ich. Hier fütterten Oma und ich doch immer die Enten! Und dort drüben kamen wir vorbei, wenn ich mit meiner Mutter einkaufen ging; der Bäcker am Plein gab mir dann immer einen Eierkeks, den ich mit Senta teilte.

    Ich war ganz nahe an zu Hause!

    Vor mir schob eine Frau einen ratternden Einkaufswagen über das Pflaster. Auf einer Bank saßen ein paar Opas und rauchten. Irgendwo bellte ein Hund, aber es war eher ein Kläffen, nicht Sentas Bellen. Das konnte es auch gar nicht sein, Senta war ja zu Hause. Und ich …

    Ich wusste nicht mehr, wie ich nach Hause finden sollte.

    Ich blieb stehen. Was nun?

    Nach dem Weg fragen ging nicht, mit Erwachsenen konnte ich nicht sprechen. Nur mit meinen Eltern und mit Opa und Oma, sonst mit niemandem. Manchmal war das schlimm, zum Beispiel, wenn der Bäcker hinter der Theke hervorkam und mir den Eierkeks gab. Dann hätte ich »Danke« sagen müssen, aber ich wusste nicht, wie ich meine Stimme aus dem Kopf herausbekommen sollte. Ich nahm dann den Eierkeks und lief schnell aus dem Laden.

    »Sie ist ein bisschen schüchtern«, hatte meine Mutter gesagt, als ich wieder einmal hinausrannte.

    Vor ein paar Tagen hatte sich der Bäcker zu mir herabgebeugt und gefragt: »Hast du vielleicht deine Zunge verschluckt?«

    Senta hatte ihn angeknurrt. Sie wollte nicht, dass jemand sein Gesicht so nahe an meines brachte, sie wusste, dass ich dann keine Luft mehr bekam.

    Ich hatte nicht auf die komische Frage reagiert.

    Die Zunge konnte man doch gar nicht verschlucken, die war doch im Mund festgewachsen.

    »So ist sie eben«, hatte meine Mutter noch gesagt. Das sagte sie immer, zu jedem. Meine Mutter machte sich keine Sorgen darüber, dass ich schwieg.

    Ich ging weiter. Meine Zehen waren steif vor Kälte, aber ich blieb nicht stehen, denn direkt vor mir befand sich ein niedriges rotes Gebäude, das ich kannte. Bürgerhaus nannte es meine Mutter. Es hieß De Middelburgt, das wusste ich. Da trank sie manchmal Tee mit Colettes Mutter und ein paar anderen Müttern.

    Vielleicht war sie jetzt auch dort!

    Die Türen standen weit offen. Eine angenehme Wärme zog mich nach drinnen, in einen Saal, in dem Erwachsene an kleinen Tischen saßen. Sie hatten Spielkarten in den Händen. Blaue Rauchschwaden schwebten über ihren Köpfen. Alle redeten durcheinander, ein lautes Geschnatter, eine Vorschule voller Erwachsener. Ich sah mir jedes Gesicht und jeden Hinterkopf genau an, aber nirgends entdeckte ich die braunen Locken meiner Mutter.

    Neben mir war ein langer Gang. Vielleicht würde der mich zu ihr bringen. Ich ging an einer Wand mit Bildern von Vögeln und Bergen entlang und kam wieder in einen Saal mit Tischen. Der Saal war leer.

    Wo war meine Mutter?

    Was, wenn ich nie wieder nach Hause fand?

    Aus dem ersten Saal kam dröhnendes Erwachsenengelächter. Und ganz in meiner Nähe hörte ich Schritte. Ein dumpfes Geräusch, nicht das Klack-klack der Absätze meiner Mutter. Die Schritte kamen näher.

    Hinter mir stand eine Tür einen Spalt offen.

    Ich schlüpfte hinein.

    Endlich war der Lärm der Vorschule in meinem Kopf verstummt. Hier würde ich bleiben, in der stillen Kabine, auf dem zugeklappten Deckel. Ich hatte die Tür verriegelt, und meine Füße baumelten über dem Steinboden. Ab und zu benutzte jemand die Toilette nebenan und ging dann wieder hinaus. An der Wand war ein Lichtschalter, den ich aber nicht anrührte. Die Dunkelheit war schön.

    Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, obwohl ich seit Kurzem die Uhr lesen konnte. Mein Bruder hatte es mir beigebracht. Er war gut mit Zahlen, ich nicht. Mit Buchstaben schon, die kannte ich alle. Ich konnte sogar schon lesen. Besser als Emiel.

    Im Dunkeln formte ich Klopapierkügelchen. Ganz viele weiße Kügelchen. Unter der Tür war ein Lichtstreifen, sodass ich sie ein bisschen sehen konnte. Sie lagen überall. Auf meinem Rock, auf meiner Strumpfhose, auf dem Boden, in meinen Händen. Sie waren bei mir, ohne Lärm zu machen. Sie waren ganz still. Sie waren lieb.

    Ich drückte sie an mein Gesicht. »Ihr seid meine Freunde«, sagte ich.

    Dann schloss ich die Augen.

    »Hallo?«

    Ich rieb mir die Augen; meine Wimpern waren vom Schlaf verklebt.

    »Hallo?«, tönte es noch einmal. Eine Frau. Sie klopfte an meine Tür.

    Um mich herum war es dunkel. Ich saß auf etwas Hartem.

    »Ist da jemand drin?«, rief die Frau.

    Ah, jetzt wusste ich wieder, wo ich war. Ich sprang auf. Meine Freunde wirbelten zu Boden und senkten sich wie Schneeflocken um meine Füße. Mein Bauch fühlte sich leer an, wie Luft. Der Thunfischsalat wartete auf mich, aber ich konnte nicht weg, solange da eine Frau vor meiner Tür stand. Jemand, der Fragen stellte. Ich verharrte reglos, die Hand an der Türklinke.

    »Alles in Ordnung da drin?«

    Ich klopfte an die Tür. Das hieß »Ja«. Jetzt konnte die Frau gehen.

    »Haben Sie sich eingesperrt?«

    Ich trat gegen die Tür. Die Frau musste weg. Ich musste raus, zurück zu dem Wasser mit den Enten, zurück in die Straße, in der die Vorschule war. Wahrscheinlich war es jetzt endlich Mittag, und meine Mutter und Senta warteten schon auf mich. Wir würden zusammen nach Hause gehen, und ich konnte meiner Mutter sagen, dass ich nie wieder in die Schule gehen würde.

    Die Frau ging weg. Ich hörte, wie die große Tür auf- und zugemacht wurde.

    Endlich war es wieder still.

    Ich öffnete den Riegel, steckte den Kopf durch die Tür und kniff die Augen gegen die plötzliche Helligkeit zusammen. Niemand war zu sehen. Schnell trat ich aus der Kabine und …

    »Jasmijn!« Tante Teun, Colettes Mutter, kam hereingestürzt und sah mich groß an. Sie hatte immer knallblaue Flecken über den Augen, als hätte sie sich verletzt. Lidschatten nannte sich das.

    »Kind!«, rief sie.

    Ich starrte sie an. Ich hatte ihre raue Stimme nicht erkannt, aber als ich jetzt ihr Gesicht sah, passte wieder alles. Wie oft hatte ich sie schreien hören: Nein, Colette, Pfoten weg, Colette! Gib mir mal meine Kippen, Colette!

    »Ja, um Himmels willen, Kind, warst du die ganze Zeit da drin?« Tante Teun schüttelte den Kopf, als wäre das die Antwort auf ihre Frage.

    Nur war es nicht die richtige Antwort.

    Ich wollte zur Tür hinaus, kam aber nicht an ihrem dicken Körper vorbei.

    Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Weißt du überhaupt, dass deine Mutter schier durchdreht vor Angst? Sie sucht dich überall, und dein Vater ist extra von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie haben sogar bei der Polizei angerufen. Alle sind in heller Aufregung!«

    Ihr Gekreische klatschte gegen die gefliesten Wände. Ich hielt mir die Ohren zu.

    »Weißt du, was«, sagte sie, »ich bring dich jetzt nach Hause. Deine Oma ist da, falls jemand anruft. Komm.«

    Ich rührte mich nicht. Wovon redete sie?

    »Komm, Kind.« Sie fasste mich am Arm. »O Gott, deine armen Eltern!«

    Meine Mutter saß auf der Sofalehne. Ihre Wangen waren nass und verschmiert, ihre Unterlippe zitterte. Ihre Finger zupften an der schwarz glänzenden Spirale der Telefonschnur. Den grauen Hörer hatte sie am Ohr. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ihr sonst so fröhliches Gesicht sah aus wie ein fleckiges Gemälde. »Ja, sie ist wieder da«, sagte sie ins Telefon. »Das mache ich, ja. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

    Mein Vater sah mich kopfschüttelnd an. Emiel saß still neben meiner Mutter auf dem Sofa. Opa war nicht da, er radelte auf der Suche nach mir immer noch durch die Gegend. Auch meine Eltern hatten mit dem Rad nach mir gesucht, waren aber sofort zurückgefahren, als ihnen auf der Straße jemand sagte, Tante Teun habe mich gefunden.

    Oma ging neben mir in die Hocke und sagte leise: »Ich hab gebetet, dass du wohlbehalten zurückkommst, Mijntje. Wir hatten solche Angst.«

    Ich schluckte. »Alle sind böse auf mich.«

    Aber warum? Ich hatte doch nur versucht, nach Hause zu kommen. Wo ich hingehörte. Und dann war ich eingeschlafen.

    Oma strich mir den Pony zur Seite und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Papa und Mama waren in Sorge, weil sie dich lieb haben. Es ist schon fast Abend! Seit heute Morgen suchen dich alle, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Verstehst du das?«

    »Wo ist Senta?«, fragte ich. Senta war bestimmt nicht böse auf mich. Senta freute sich immer, wenn sie mich sah.

    Meine Mutter legte den Hörer auf und wischte sich über die Augen. »Geh ruhig nach Hause«, sagte sie mit rauer Stimme zu Oma. »Ich ruf dich später noch mal an.«

    Oma nickte und ging. Ihre Schritte entfernten sich, dann fiel die Haustür ins Schloss. Ich kletterte auf das Sofa am Fenster, um ihr nachzuwinken. Oma schaute immer noch mal hoch. Sie und Opa wohnten in der Gasse schräg um die Ecke, im letzten von sechs ebenerdigen kleinen Häusern.

    »Jasmijn«, sagte meine Mutter, noch immer heiser.

    Ich drückte meine Nase ans Fenster. Draußen wurde es schon dunkel. Omas kurze graue Locken sahen im Licht der Straßenlaternen silbern aus. Ich hob die Hand und …

    Mein Vater trug mich vom Fenster weg.

    »Ich muss doch Oma nachwinken!«, sagte ich strampelnd.

    »Jetzt nicht.« Er setzte mich aufs andere Sofa, neben Emiel. »Wir müssen reden, Jasmijn.«

    Ich sah mich um. Der Aschenbecher auf dem Tisch war noch nie so voll gewesen. Zerknüllte Papiertaschentücher lagen daneben. »Wo ist Senta?«, fragte ich wieder.

    »Weißt du, mit wem Mama eben telefoniert hat?«, fragte mein Vater.

    »WO IST SENTA?«, brüllte ich.

    »Die ist bei Opa«, sagte Emiel. »Sie hilft ihm suchen.«

    »Aber ich bin doch hier!« Ich hatte Senta so vermisst! Tränen brannten mir in den Augen. Mittag war längst vorbei. Es gab kein Brot mit Thunfischsalat. Keine Milch.

    Keine Senta.

    »Weißt du, mit wem Mama telefoniert hat?«, wiederholte mein Vater. »Mit der Polizei, Jasmijn. Mit der Polizei!«

    »Fräulein Marleen hat angerufen, um mir zu sagen, dass du weg bist.« Meine Mutter putzte sich die Nase und warf ein weiteres Papierknäuel auf den Couchtisch. »Erst dachte sie, du hättest dich irgendwo im Klassenzimmer versteckt, und hat dich überall gesucht, aber du warst verschwunden. Du kannst nicht einfach weglaufen! Das verstehst du doch, oder?«

    Ich schluckte. Wie sollte ich etwas verstehen, was mir niemand erklärt hatte?

    »Wir haben die Polizei angerufen, weil wir mit dem Schlimmsten gerechnet haben. Wir hatten Angst, du könntest …« Ihre Schultern zuckten.

    Mein Vater legte den Arm um sie. »Ganz ruhig, Pien. Nicht mehr dran denken. Sie ist wohlbehalten wieder da, nur das zählt.«

    Meine Mutter putzte sich erneut die Nase. »Wie um alles in der Welt bist du denn in De Middelburgt gekommen?«

    »Ich hab dich gesucht! Dich und Senta!«

    »Und unterwegs bist du mit niemandem mitgegangen?«

    Ich schüttelte den Kopf.

    Mein Bauch knurrte. Vielleicht war noch Thunfischsalat übrig.

    »Und sonst warst du nirgends? Du warst den ganzen Tag im Bürgerhaus? Ganz allein?«

    »Nicht allein.« Mit Freunden. Ich dachte an die weißen Kügelchen. Wir hatten es gut gehabt zusammen, es war gemütlich gewesen im Dunkeln.

    Meine Mutter schlug mit der flachen Hand aufs Sofa. »Verdammt! Ich hab’s gewusst! Wer war bei dir? Was ist passiert?«

    Ich blinzelte. Das waren zwei Fragen auf einmal.

    »Tante Teun sagt, sie hat dich in der Toilette gefunden«, sagte mein Vater. »Wer war da sonst noch?«

    Ich zeigte auf die Papiertaschentücher. »Solche wie die. Nur kleiner.«

    Meine Mutter griff sich an den Kopf und schüttelte sich.

    »Und … was hast du … dort gemacht?«, fragte mein Vater ganz langsam.

    Ich zuckte mit den Schultern. »Geschlafen. Ich war müde.«

    Mein Vater strich meiner Mutter sanft über den Rücken. Auch Emiel schniefte jetzt. Er zog sich den Pulli über die Nase hoch, sodass man nur noch seine Augen sah.

    Mein Vater setzte sich neben mich und hob mich auf seinen Schoß. »Jasmijn, jetzt hör mal gut zu, ja?«

    Ich nickte.

    »Du darfst nie wieder aus der Vorschule weglaufen. Hast du gehört?«

    Wieder nickte ich. Ich hatte es gehört. Aber ich verstand es nicht.

    »Mama und ich wissen, wie schwer es für dich ist, dich dort einzugewöhnen, aber das war jetzt gerade mal der erste Tag. Du musst durchhalten, Kind.«

    »Aber da ist so ein Krach.« In die Schule wollte ich schon, nur ohne die anderen Kinder.

    »Das ist alles eine Frage der Gewöhnung, Jassie, weiter nichts.«

    »Darf Senta dann dableiben?«

    »Nein«, sagten meine Eltern gleichzeitig.

    Ich schluckte. Meine Tränen saßen immer erst mal in der Kehle.

    Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an. »Senta kann nun mal nicht überallhin mit.«

    Ich wünschte, ich wäre nie vier geworden. Auf einmal war alles anders. Warum?

    »Wenn es dir morgen zu viel wird, dann setzt du dich in eine ruhige Ecke und denkst an was Schönes«, sagte mein Vater. »Okay?«

    Es klingelte. Emiel machte auf.

    Ein Trippeln war im Flur zu hören, gefolgt von Opas Schritten.

    »Senta!« Ich sprang auf. Mein Vater auch, aber meine Mutter legte ihm die Hand auf den Arm.

    »Lass sie«, sagte sie leise.

    Draußen im Flur schloss ich die Augen, während Senta mir schwanzwedelnd übers Gesicht leckte.

    Als meine Mutter mich am Abend ins Bett brachte, sah sie wieder normal aus. Mein Vater würde in ein paar Stunden zur Arbeit gehen. Er war Wachmann in einem Postgebäude. Nicht nur tagsüber, auch nachts. Doppelschichten nannte sich das.

    Meine Mutter ging zu meinem Kassettenrekorder. »Was möchtest du hören? Die Kassette, die drin ist?«

    Ich nickte.

    Früher hatte sie mir vor dem Schlafengehen vorgelesen, und ich hatte erstaunt die Seiten betrachtet. Diese kleinen Zeichen, die man Buchstaben nannte, redeten, mit einer Stimme, die man nur im Kopf hören konnte! Als ich drei war, hatte mir meine Mutter das Lesen beigebracht. Sie lieh in der Bibliothek Bücher für mich aus, und ab und zu kaufte sie welche auf einem Straßenmarkt. Das waren die besten, denn die durfte ich behalten. Manchmal stand vorn der Name des Vorbesitzers drin. Den strich meine Mutter durch und schrieb meinen darunter: Jasmijn Vink.

    Zurzeit hörte ich Märchen, wenn abends das Licht ausging. Zum Geburtstag hatte ich drei Märchenkassetten bekommen, und inzwischen kannte ich die Geschichten alle auswendig. Es war schön, genau zu wissen, wie es weiterging und was jeder sagte. Manchmal sprach ich leise mit, dann war ich selbst in einem Märchen.

    Meine Mutter drückte die Daunendecke wie eine Mauer um mich herum, schaltete den Rekorder ein und machte das Licht aus. »Schlaf gut, Jassie.«

    Senta legte mit einem zufriedenen Seufzer ihren Kopf auf mein Kissen.

    Ich schlang den Arm um sie und drückte die Nase in ihr Fell.

    2. Kapitel

    »Guten Morgen, guten Morgen, ein neuer Tag beginnt. Guten Morgen, guten Morgen, wenn wir zusammen sind. Ob Regen oder Sonnenschein …«

    Wir saßen im Stuhlkreis. Colette sang am lautesten von allen. Auf ihrer Zunge klebten Kekskrümel. Es war meine zweite Woche in der Vorschule, und wir sangen das Lied jeden Morgen. Das war schön, alle Stimmen waren dann wie eine einzige. Man hörte keine anderen Geräusche mehr, nur Nick trommelte mit den Händen den Takt auf seine Knie. Das störte aber nicht, seine Musik machte unseren Gesang erst komplett. Beim Trommeln schaute er mit seinen hellen Augen vor sich hin, als würde er etwas sehen, was für die anderen unsichtbar war.

    »Hände stillhalten, Nick«, forderte Fräulein Marleen ihn immer wieder auf. »Wenn das nicht geht, dann setz dich drauf.«

    Gestern hatte ich ihn einmal angelächelt, zum Trost. Ich wusste, wie er sich fühlte. Auch er durfte nicht anders sein als die anderen.

    »Ob Regen oder Sonnenschein, wir wollen heut zusammen sein.«

    Alle sangen begeistert mit, nur mein Mund blieb bei der letzten Zeile geschlossen. Ich wollte nicht mit den anderen zusammen sein.

    Ich blieb lieber für mich.

    Nach dem Singen sah ich mich im Klassenzimmer um. Überall lagen Puppen und Autos herum. Meine Mutter hatte gesagt, ich würde in der Schule etwas lernen – aber was? Ein Buch hatte ich hier noch nirgends gesehen. Und Fräulein Marleen konnte ich nicht fragen, weil ich bei ihr immer noch nicht wusste, wie ich meine Stimme gebrauchen sollte.

    Zum Glück hatte ich heute mein eigenes Buch dabei. Mein Vater war auf die Idee gekommen, obwohl er selbst nur Zeitung las. Wenn die anderen nachher spielten und Lärm machten, würde ich lesen. Das Buch hatte ich zwischen die Spielsachen in der Puppenecke gelegt. Am liebsten hätte ich gleich angefangen, es war so eine spannende Geschichte. Von Zwillingen. Ich hatte es von Oma und Opa bekommen. Einfach so, ohne Weihnachten oder Geburtstag. Auch Emiel hatte etwas bekommen, einen Tunnel für seine Eisenbahn. Ein Buch war nichts für ihn, im Lesen war er nicht so gut. Er musste mit dem Zeigefinger die Wörter entlangfahren und laut mitsprechen. Und auch dann ging es nur holprig.

    Aber andere Dinge konnte er gut.

    Emiel konnte rechnen. Und sich die Schuhe zubinden. Und ganz allein die Tür aufschließen. Eine Flasche zuschrauben, einen Ball fangen. Aus einem Glas trinken, ohne zu kleckern. Mit Erwachsenen reden. Emiel konnte sogar dann reden, wenn jemand im Radio oder im Fernsehen dazwischenplapperte.

    Eigentlich konnte er alles, was die anderen auch konnten, nur ich nicht.

    Mit der Zeigefingerspitze kramte ich im Durcheinander der Buntstifte nach dem Braun. Die Farben lagen kreuz und quer in der Schachtel, das Rot neben dem Blau statt neben dem Orange, und mehr als die Hälfte der Stifte war abgebrochen. Zu Hause lagen meine Buntstifte alle am richtigen Platz. Gespitzt.

    »Woanders ist nie alles genauso wie daheim«, hatte meine Mutter gesagt. »Auch daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

    Das versuchte ich auch, aber das Braun hatte ich immer noch nicht gefunden. Eine andere Farbe konnte ich nicht gebrauchen; ich malte Senta, und die war nun mal nicht rot oder lila.

    Colette saß neben mir. Die Leute auf ihrem Bild hatten blaue Gesichter, wie die Schlümpfe. Ich versuchte, nicht hinzuschauen.

    »Nanu, wie kommt denn das hierher?«, ertönte plötzlich Fräulein Marleens Stimme.

    Ich sah auf. Fräulein Marleen stand mit meinem Buch in der Hand in der Puppenecke. Ich ging zu ihr und streckte die Hand danach aus. Vom Umschlag lachten mich Saskia und Jeroen fröhlich an.

    »Nein, nein, Jasmijn.« Fräulein Marleen hielt das Buch hoch. »Das ist kein Spielzeug. Vielleicht gehört es den Vorlesemüttern. Ich lege es mal weg.«

    Ich schüttelte heftig den Kopf, den Arm immer noch ausgestreckt.

    Fräulein Marleen ging an mir vorbei zum Pult, das Buch fest in der Hand. Es verschwand in ihrer Schublade. Als sie sich umdrehte, stießen wir beinahe zusammen. »O Gott, hast du mich erschreckt! Was machst du denn da hinter mir?«

    Ich zeigte auf die Schublade.

    Sie seufzte. »Ich hab doch gesagt, dass ein Buch kein Spielzeug ist. Geh wieder an den Maltisch.«

    Ich blieb stehen, den Blick noch immer auf die Schublade gerichtet.

    »Nun mach mal kein Theater. Komm mit.« Sie nahm mich an der Hand und zog mich in die Mal-Ecke. Colette sah neugierig zu uns auf.

    Ich riss mich los und lief mit großen Schritten zum Pult zurück.

    »Ja, was ist denn, Kind?«, rief sie. »Sag doch einfach, was los ist!«

    Ich zeigte auf die Schublade, und Fräulein Marleen zog sie auf und nahm das Buch wieder heraus. »Sieh mal, damit kannst du doch gar nichts anfangen. Es ist …« Sie hatte die erste Seite mit Saskia und Jeroen aufgeschlagen, und jetzt wanderte ihr Blick zwischen dem Buch und mir hin und her. »Oh«, sagte sie.

    Ich nickte.

    Ihre Wangen röteten sich. »Dann sag das doch!« Es klang verärgert. »Wie soll ich wissen, was du meinst, wenn du dich weigerst, zu sprechen?« Sie klappte das Buch zu und drückte es mir in die Hand.

    Ich schlug es auf und schaute auf meinen Namen, geschrieben in der engen kleinen Schrift meiner Mutter.

    3. Kapitel

    »Schau, genau das meine ich. Das ist das beste Beispiel.«

    Ich spähte hinter meiner Mutter hervor, um zu sehen, wovon Fräulein Marleen redete. Es war ein seltsamer Anblick: eine Lehrerin auf einem Stuhl am Esstisch, mitten in unserem Wohnzimmer. Schnell zog ich den Kopf wieder zurück. Ich wollte sie nicht sehen. Lehrerinnen gehörten in die Schule und nicht hierher.

    »Da siehst du, womit ich zu kämpfen habe, Paulien«, fuhr Fräulein Marleen fort. »Wie sie sich da hinter dir versteckt. In den ersten Wochen dachte ich noch: Ach, es ist eben alles neu für sie. Ich wusste ja auch, dass sie nie im Kindergarten war. Da ist die Vorschule schon ein kleiner Schock. Deswegen konnte ich es noch halbwegs verstehen, als sie weggelaufen ist, aber inzwischen sind wir einen ganzen Monat weiter, und sie spricht immer noch nicht.«

    »Mit niemandem? Auch nicht mit Colette?«

    »Na gut, mit fast niemandem. Mit Colette sehe ich sie schon ab und zu tuscheln. Und heute Morgen hat sie Danke gesagt, als Nick ihr einen Buntstift gegeben hat.« Fräulein Marleen seufzte. »Aber mit mir redet sie nicht.«

    Meine Mutter rührte in ihrem Tee.

    »Spricht sie denn zu Hause? Mit dir, mit deinem Mann?«

    »Natürlich. Sie ist einfach ein bisschen schüchtern, das ist alles.«

    Ein Knarren sagte mir, dass Fräulein Marleen auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. »Ich hatte eigentlich gehofft, dein Mann könnte bei unserem Gespräch dabei sein«, sagte sie. »Die Sache geht ja euch beide an.«

    »Ja, das verstehe ich, aber Wim ist bei der Arbeit. So kurzfristig konnte er seinen Dienst nicht tauschen.«

    Fräulein Marleen wusste natürlich nicht, dass mein Vater fast immer bei der Arbeit war. Wenn er Nachtdienst hatte, schlief er nach dem Essen vor, und ich durfte ihm eine Geschichte erzählen. Dann krabbelten Senta und ich auf das große Bett, und oft dachte er sich den Anfang aus. »Es war einmal ein Mädchen mit einem Hund …«, sagte er, und dann musste ich weitermachen. Das Mädchen hieß natürlich immer Jasmijn, der Hund hieß Senta, und beide konnten tun und lassen, was sie wollten. Ohne Vorschule und ohne Fräulein Marleen.

    Ohne Lärm.

    »Jasmijn?« Fräulein Marleens Stimme klang jetzt näher.

    Senta, die neben mir lag, schaute auf.

    »Jasmijn, siehst du mich mal an?«

    Nein. Ich kniff die Augen zusammen und presste mein Gesicht dichter an den Rücken meiner Mutter. Der glatte Stoff ihrer Bluse lag kühl an meiner Wange. Meine Mutter beugte sich ein wenig vor und drehte sich halb zu mir um. »Hast du gehört, Jasmijn?«

    Ich reagierte nicht. Wenn ich so tat, als wäre Fräulein Marleen nicht da, verschwand sie vielleicht einfach.

    Fräulein Marleen seufzte. »So geht das wirklich nicht. Zum Haareraufen ist das, Paulien!«

    Ich linste durch meine Finger. Fräulein Marleen raufte sich überhaupt nicht die Haare. Sie hielt die Hände in der Luft, wie manche Jungen in meiner Klasse, wenn sie sich beim Kriegsspielen dem Feind ergaben.

    »Ich hatte gehofft, in ihrer vertrauten Umgebung würde Jasmijn sich anders verhalten«, sagte sie. »Aus sich herausgehen, verstehst du? Aber sie kapselt sich nach wie vor völlig ab. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

    Immer wenn Fräulein Marleen den Buchstaben K aussprach, ploppte ein Spucketröpfchen in ihrer Stimme. Das Ploppen blieb in der Luft hängen und vermischte sich mit dem Klimpern von Mamas Armreifen, dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, dem Gurren der Tauben auf dem Dach, dem Motorengeräusch vorbeifahrender Autos. Mit den Doe-Maar-Songs, die Emiel in seinem Zimmer hörte. Es waren vertraute Geräusche, das Zuhause-Orchester, und da gehörte Fräulein Marleens Spucke-K nicht dazu.

    Wieder drehte sich meine Mutter zu mir um. Ich hoffte, das Gespräch mit der Lehrerin würde ihr endlich klarmachen, dass die Vorschule einfach nichts für mich war. Dass ich hierbleiben musste, zu Hause, so wie ich es gewohnt war. Hier gab es kein Geschrei. Hier wurden die Farbstifte nicht falsch eingeräumt. Hier gab es keine Puppen mit nur einer Socke. Hier trampelte niemand um mich herum, und hier erschrak ich nicht jedes Mal zu Tode, wenn der Klötzchenturm einstürzte.

    »Jas …«, sagte meine Mutter sanft. »Wenn du in der Schule bist, musst du auf Fräulein Marleen hören. Das haben wir doch besprochen.«

    »Ich will aber nicht mehr in die Schule, Mama.«

    »Alle Kinder gehen in die Schule. Das muss nun mal sein.«

    »Aber warum?«

    »Das ist das erste Mal, dass ich sie richtig sprechen höre«, sagte Fräulein Marleen. »Und sogar in ganzen Sätzen – ungewöhnlich für ihr Alter.«

    Meine Mutter fuhr fort: »Wir haben doch abgemacht, dass du zwischendurch lesen darfst, wenn du dir sonst Mühe gibst mitzumachen.«

    »Ich will aber nicht mitmachen!« Die Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu.

    Meine Mutter nahm meine Hand. »Ich weiß, aber es muss sein. Du bist jetzt vier. Da gehen alle Kinder in die Vorschule.«

    Das hatte sie schon oft gesagt, aber logisch wurde es deswegen nicht. Ich war nicht »alle Kinder«.

    Fräulein Marleen stand auf. »Ich lass euch mal allein, dann könnt ihr weiter darüber reden. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Paulien.«

    Meine Mutter ging mit Fräulein Marleen auf den Flur hinaus. »Könnte man sich denn nicht irgendetwas einfallen lassen, damit sie sich in der Vorschule wohler fühlt?«, hörte ich sie leise fragen. »Mehr lesen zum Beispiel?«

    »Lesen und Schreiben lernen die Kinder in der ersten Grundschulklasse«, antwortete Fräulein Marleen. »Bis dahin sind es noch zwei Jahre. Bei uns liegt der Akzent auf dem sozialen Umgang, im Wechsel mit Basteln und Spielen.«

    Ich wusste nicht, was »sozialer Umgang« war, aber es klang schrecklich.

    4. Kapitel

    Meine Mutter hielt mir die dicke Kapuzenjacke hin. Den Bauch noch warm vom Haferbrei, zwängte ich die Arme hinein und schaute zu, wie sie die Knöpfe zumachte.

    Senta lief schwanzwedelnd um uns herum.

    »Du bleibst hier«, sagte meine Mutter zu ihr, während sie ihre Stiefel anzog.

    »Was?« Ich sah sie fragend an. »Warum?«

    »Papa und ich finden es besser, wenn Senta erst mal nicht mehr bis zur Schule mitkommt. Dann fällt es dir hoffentlich leichter, reinzugehen.«

    Ich ließ mich auf den Boden fallen und schlang die Arme um Senta. »Sie kommt mit!«

    Meine Mutter seufzte. »Ich will diese Szenen auf dem Schulhof nicht mehr.«

    Ich drückte Senta an mich. Ich hatte sie bekommen, als ich zwei war, und konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals nicht da gewesen war. Sie gehörte zu mir. Sie war da, wenn ich einschlief, sie war da, wenn ich aufwachte. Wenn ich auf die Toilette musste, wartete sie vor der Tür auf mich. Es wäre in der Vorschule längst nicht so schlimm, wenn sie immer bei mir sein könnte. Warum begriff das niemand?

    »Jetzt mach schon«, sagte Emiel. »Serge hat neue Murmeln, und wir wollen noch damit üben, bevor es klingelt.«

    Ich drückte Sentas Ohr wie ein Schmusetuch an meine Wange, aber meine Mutter zog mich hoch und trennte uns. »Von heute an gehen wir zusammen mit Colette und Tante Teun zur Schule. Tante Teun hat Colette gebeten, dich ein bisschen in ihre Obhut zu nehmen, damit du dich nicht so allein fühlst.«

    Als ich an Mutters und Emiels Hand im Treppenhaus die letzten Stufen hinuntersprang, sah ich durch die große Scheibe in der Haustür Colette und Tante Teun draußen stehen. Colette hatte nichts auf dem Kopf und hielt auch nichts in den Händen. Es stimmte nicht, was meine Mutter gesagt hatte.

    Colette hatte überhaupt keinen Hut.

    Am Abend stach meine Mutter ein paar weitere Löcher in das Lederarmband ihrer Uhr. Dann schnallte sie mir die Uhr ums Handgelenk. »Wenn du nächstes Mal nach Hause willst, schaust du drauf. Dann siehst du, wie der große Zeiger immer ein Stückchen weiterrückt. Und dass du einfach Geduld haben musst.«

    Ich hielt mein Handgelenk ans Ohr. Ein leises Ticken war zu hören, wie ein zweiter Herzschlag.

    »Das wird dir helfen, durchzuhalten«, sagte meine Mutter. »Von jetzt an weißt du, wann es kurz vor halb zwölf oder Viertel nach drei ist und ich mit Senta auf dich warte.«

    Ich strich mit den Fingern über die glatte viereckige Uhr. Vielleicht würde meine Haut im Sommer ringsherum braun werden, so wie bei Opa nach dem Urlaub in Uddel. Wenn er seine Armbanduhr abnahm, sah man einen weißen Streifen.

    »Ich will sie Papa zeigen«, sagte ich. »Darf ich ihn wecken?«

    Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Papa ist eben erst eingeschlafen. Er hat heute wieder Nachtdienst, das weißt du doch.«

    »Colette sagt, ihr Vater kommt jeden Tag zum Abendessen nach Hause und muss erst am nächsten Morgen wieder weg.«

    »Das ist deshalb so, weil Onkel Frits in einem Büro arbeitet. Da sind die Arbeitszeiten anders.« Meine Mutter schaltete die Nähmaschine ein und schob den Stoff unter die Nadel. Sie nähte ein rotes Trägerkleid für mich.

    »Warum sucht sich Papa dann nicht auch eine Arbeit in einem … Büro?«

    »Für so was braucht man ein Diplom. Papa musste nach der Grundschule gleich anfangen zu arbeiten.«

    »Warum?«

    Meine Mutter unterdrückte einen Seufzer. Ich wusste, dass ihr meine »Warum-Anfälle«, wie sie es nannte, manchmal zu viel wurden. Aber ich ertrug es einfach nicht, wenn etwas nicht logisch war.

    »Weil er Geld verdienen musste. Bei Opa und Oma Vink musste jeder mit zwölf anfangen zu arbeiten, das war damals so.«

    Mein Vater hatte dreizehn Geschwister, und ich geriet fast in Panik, wenn ich mir vorstellte, wie es sein musste, in solch einem Trubel aufzuwachsen. Wahrscheinlich war es dort genauso zugegangen wie bei mir in der Schule. Mein Vater hatte nirgends Ruhe gehabt.

    »Gott sei Dank findet Papa seine Arbeit super«, sagte ich.

    »Ach ja?« Meine Mutter nahm den Fuß vom Pedal und sah mich mit hochgezogenen Brauen an.

    »Klar! Sonst würde er doch keine Doppelschichten machen.« Manchmal war es, als wäre ich diejenige, die etwas erklären musste, und nicht meine Mutter.

    »Ah«, sagte sie nur. »Klar.«

    5. Kapitel

    Mein Vater schnarchte laut, deswegen schlief meine Mutter, wenn er nachts zu Hause war, mit Ohrstöpseln. Eigentlich waren es gar keine Stöpsel, mit einem Stöpsel verschloss man ja eine Flasche. Ich nahm einen von Mamas Nachttisch und drückte ihn zusammen. Er fühlte sich fest und doch weich an. Als ich ihn losließ, nahm er langsam wieder seine ursprüngliche Form an.

    »Was machst du?«, rief meine Mutter aus der Küche, wo die Koteletts in der Pfanne brutzelten.

    »Nichts!«, rief ich zurück. Ramons Klötzchenturm war heute wieder eingestürzt und donnerte noch durch meinen Kopf. Jeden Tag versuchte ich von Neuem, den Krach zu überhören, mich auf mein Buch zu konzentrieren. Aber das Holzgepolter dröhnte mir in den Ohren, genauso wie der ganze übrige Lärm. In solchen Momenten rückte der große Zeiger meiner Uhr besonders langsam vor.

    Ich steckte mir den Stöpsel ins Ohr. Das ovale Ding fiel sofort wieder heraus und landete geräuschlos auf dem blauen Teppichboden. Senta schnupperte daran und sah dann fragend zu mir auf.

    »Der ist zu groß«, erklärte ich ihr.

    »Was sagst du?«, rief meine Mutter. »Du weißt, dass Senta nicht aufs Bett darf, ja?«

    Ich hob den Ohrstöpsel auf und ging damit in die Küche. »Ich brauche eine Schere, Mama.«

    Meine Mutter wendete die Koteletts im zischenden Fett. »Wofür?«

    »Um das hier durchzuschneiden.« Ich zeigte ihr den Ohrstöpsel. Sie sah ihn an, sagte aber nichts. »In der Schule ist es immer so laut«, erklärte ich.

    Sie nickte langsam. »Ich verstehe. Komm mit.«

    Wir gingen ins Wohnzimmer, wo die Schere neben der Nähmaschine lag. Meine Mutter nahm mir den Ohrstöpsel aus der Hand, teilte ihn mit einem einzigen vorsichtigen Schnitt in zwei Hälften und gab sie mir. »Bitte sehr. Aber nur benutzen, wenn du sie wirklich brauchst, und auf keinen Fall in den Mund stecken.«

    Ich versprach es.

    Am nächsten Morgen saß ich mit den passend zugeschnittenen Ohrstöpseln in der Tasche meines neuen Trägerkleides im Klassenzimmer. Ab und zu fühlte ich nach, ob sie noch da waren. Außer an der Schnittkante waren

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