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Im Ernstfall keine halben Sachen
Im Ernstfall keine halben Sachen
Im Ernstfall keine halben Sachen
eBook422 Seiten5 Stunden

Im Ernstfall keine halben Sachen

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Über dieses E-Book

Es ist nie zu spät, um großen Spaß zu haben

Joel lebt in einem Altenheim und hasst jeden einzelnen Tag. Er will sich nicht vorschreiben lassen, wann er zu essen oder zu schlafen hat. Sein Leben dort macht ihm keinen Spaß, eigentlich ist es sogar das Leben selbst, das ihm keinen Spaß mehr macht. Also beschließt er, sich umzubringen.
Als er seinem Zimmernachbarn Frank, einem exzentrischen ehemaligen Schauspieler, davon erzählt, regt dieser Joel an, sich etwas Besonderes auszudenken für seinen letzten Akt des Widerstands. Sich sang- und klanglos zu verabschieden, kommt nicht in Frage. Und beide wollen noch mal richtig Spaß haben …

»Eine bezaubernde und ergreifende Geschichte, die es verdient hat, gelesen zu werden.«
Juliet Conlin

»Ein Ruf nach Freiheit, gerichtet an unsere Gesellschaft, mit wundervollen Charakteren und brillantem Humor.«
The Bookbag

»Eine wunderbar charmante, von Herzen kommende Geschichte.«
Leserstimme

»Wenn es ein Buch verdient hat, gelesen zu werden, dann dieses!«
Leserstimme

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum24. März 2020
ISBN9783959679152
Im Ernstfall keine halben Sachen
Autor

Dan Mooney

Dan Mooney lebt in Limerick, Irland, und ist Fluglotse, Filmemacher und Schriftsteller. Seinen ersten Text schrieb er als Zehnjähriger für eine von Kindern herausgebrachte Lokalzeitung. Für seinen Vorgänger-Roman »Me, Myself and Them« bekam er 2016 den Luke-Bitmead-Bursary-Preis verliehen. Er mag Laientheater, Katzen und Rugby.

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    Buchvorschau

    Im Ernstfall keine halben Sachen - Dan Mooney

    HarperCollins®

    Copyright © 2020 by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Titel der englischen Originalausgabe:

    »The Great Unexpected«

    Copyright © 2018 by Dan Mooney

    erschienen bei: Legend Press Ltd, London

    Covergestaltung: Büro für Gestaltung/Cornelia Niere, München

    Illustrator: Rasmus Juul

    Lektorat: Anna Koliska

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959679152

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für alle Großväter, besonders meine:

    Daniel Patrick Mooney und Joseph Michael Keane.

    Ich glaube, das Buch hätte Euch gefallen.

    Und für Christine, die Heilige von der unendlichen Geduld.

    1.

    »Miller!«, raunte Joel seinem Bettnachbarn zu. »Warum sind Sie noch nicht tot?«

    Miller, der seit über zwei Jahren im Koma lag, antwortete nicht. Seine eingefallene alte Brust hob und senkte sich kaum merklich unter der dünnen Baumwolldecke.

    »Na gut«, sagte Joel, »dann eben nicht.«

    Miller ignorierte ihn.

    Anfangs hatte Joel Monroe protestiert, als Mr. Miller zu ihm aufs Zimmer gelegt worden war. Nicht dass die Heimleitung auch nur im Geringsten auf seine Einwände eingegangen wäre. Ein Jahr bevor sie die lebende Leiche hereinrollten, hatte Lucey in diesem Bett gelegen. Joel war jeden Abend mit dem Wissen eingeschlafen, dass seine Frau da war, und wenn er morgens aufwachte, war sie bereits auf den Beinen, hatte sich angezogen, putzte, machte sich hier und da zu schaffen oder unterhielt sich leise mit einer Pflegerin, die das Frühstück brachte.

    Lucey hatte das Leben im Pflegeheim erträglich, ja fast angenehm gemacht. Mit ihr war es keine Aneinanderreihung von Demütigungen und Beleidigungen gewesen, so wie nach ihrem Tod. Lucey hatte das Zimmer dekoriert, hatte Blumen in alte Vasen gestellt, die sie auf dem Flohmarkt gefunden hatte, Fotos ihrer kleinen Familie aufgehängt, zu dritt am Strand, die kleine Eva in Joels Armen. Lucey hatte bunte Tagesdecken auf die Betten gelegt und damit die triste Sterilität des Heims vertrieben. Sie hatte es ihnen schön gemacht. Ihr ganzes gemeinsames Leben lang hatte sie das getan: Sie hatte es Joel schön gemacht. Wenn sie da war, wurde es hell, und ihr Lachen wärmte jeden Raum. Joel fand, dass man seiner Frau das fortschreitende Alter nicht angesehen hatte, denn sie war so fröhlich und energiegeladen wie eh und je, eine Naturgewalt, die keine Anzeichen von Schwäche erkennen ließ. Er hingegen war während des gemeinsamen Aufenthalts im Heim erst langsam und nach ihrem Tod immer schneller verkümmert. Ohne Lucey war es ein kalter Ort. Die Bilder hingen zwar noch an ihrem Platz, aber im Laufe der Zeit schaute Joel seltener darauf. Hin und wieder warf er noch einen kurzen Blick auf die kleine Eva in seinen Armen und fragte sich, was er verbrochen hatte, dass er in diesem Kasten eingesperrt war, eingesperrt ohne seine Lucey.

    Die Schmach, seine Frau durch Miller ersetzt zu sehen, machte Joel erheblich zu schaffen. Er hatte zu Gehör gebracht, dass er Miller nicht wollte. Er wollte überhaupt niemanden.

    Doch nach einer Weile stellte er fest, dass man sich schnell an Miller gewöhnen konnte. Er schmatzte nicht beim Essen, ihm war egal, welchen Sender Joel im Fernsehen einstellte, er erging sich nicht in bedeutungslosem Small Talk und quatschte beim Fußball nicht dazwischen. Solange keine Pfleger reinkamen, um nach Miller zu sehen, ihn umzudrehen oder zu säubern, war sein Bettnachbar absolut unauffällig. Ein lausiger Gesprächspartner, aber anspruchsloser Mitbewohner. Allerdings hielt das Joel nicht davon ab, der Heimleitung übel nachzutragen, dass sie ihm Miller untergeschoben hatte. Doch zumindest das Zusammenleben mit ihm war unkompliziert.

    »Wenn Sie Ihr Frühstück nicht wollen, haben Sie bestimmt nichts dagegen, wenn ich mich bei Ihren Eiern bediene?«

    Miller schwieg, natürlich.

    »Unterhalten Sie sich wieder mit Mr. Miller, Mr. Monroe?«, fragte Pfleger Liam, als er Joels Frühstück auf einem kleinen Klapptisch hereinbrachte. In den ruhigen Händen des jungen Mannes bewegte sich die Oberfläche des Orangensafts kaum. Jugendliche, makellose Hände, nicht so faltig wie die von Joel.

    »Total unhöflich, der Kerl«, brummte Joel. »Hat nicht einen Ton gesagt, seit er hier liegt.«

    Pfleger Liam grinste schwach über den Witz. Kannte er schon. So wie er das gesamte Heim kannte. Hier war alles abgedroschen, abgenutzt, brüchig. Man sah allem sein Alter und seine Schwäche an, selbst den Möbeln. Joel versuchte, nicht darüber nachzudenken, doch es kam ihm vor, als wäre er umgeben von Unbrauchbarkeit und Gebrechlichkeit.

    »Zeit fürs Frühstück, Joel«, sagte Liam. Als ob das Joel neu wäre.

    »Mir ist durchaus bewusst, welche Uhrzeit wir haben, Pfleger Liam«, erwiderte er unwirsch. »Ich wohne hier seit fünf Jahren, und das Frühstück kommt immer um acht Uhr morgens, nicht früher, nicht später. Seit über eintausendachthundert Tagen wird das Frühstück um acht Uhr morgens gebracht.«

    »Ist ja gut. Sie brauchen sich nicht gleich aufzuregen. Ich wollte nur etwas Nettes sagen.«

    »Also, wenn das für Sie nett ist, mein Junge, dann müssen Sie noch eine Menge lernen.«

    Liam seufzte und zwang sich zu einem Lächeln, während er das Tablett auf Joels Schoß legte. Er war an den alten Mann gewöhnt; vielleicht mochte er ihn sogar. Manchmal. Ein bisschen.

    Der Pfleger konnte es nicht leiden, wenn er »mein Junge« genannt wurde, was natürlich dazu führte, dass Joel regelmäßig Gelegenheit fand, diese Anrede zu verwenden. Es war nicht so, dass er Liam nicht ausstehen konnte, ganz im Gegenteil; Joel hatte sich in Gegenwart des jungen Mannes immer wohlgefühlt. Es lag nur an der Art und Weise, wie Liam und die anderen Mitarbeiter mit den Bewohnern sprachen, wenn das Essen kam, wenn die Medikamente ausgeteilt wurden oder Schlafenszeit war. Es klang irgendwie falsch, dieses leiernde Gesäusel, das wahrscheinlich aufmunternd und fröhlich gemeint war, aber eher das Gefühl vermittelte, ein Lehrer würde die Hausaufgaben eines Zehnjährigen kontrollieren. Joel öffnete den Mund, um sich erneut aufzuregen, besann sich aber eines Besseren. Pfleger Liam gehörte zu dem zunehmend Wenigen im Pflegeheim, das Joel überhaupt mochte.

    Für andere war es manchmal schwierig zu sehen, was Joel mochte, da man es aus seinem Verhalten nicht schließen konnte.

    Liam musste Mitte bis Ende dreißig sein, vierzig Jahre jünger als Joel, doch seine Gesichtszüge wirkten irgendwie reifer. Es hatte etwas mit seinen Augen zu tun. In ihnen lag eine gewisse Skepsis, die vermuten ließ, dass er es im Leben schwerer als nötig gehabt hatte. Ansonsten erschien der Pfleger völlig normal. Er sah nicht schlecht aus mit seinem langen, schmalen Gesicht, und er lächelte gerne und oft. Liam war groß, aber kein Riese, und relativ schlank, ohne dürr zu wirken. Eigentlich war an ihm nichts Besonderes, abgesehen eben von seinen blauen Augen mit diesem erfahrenen Blick.

    Seine Hände bewegten sich geschickt mit der Ruhe und Selbstsicherheit eines Mannes, der seinen Beruf schon lange ausübte. Gleichzeitig besaßen sie eine gewisse Behutsamkeit, eine Vertrautheit mit zarten, zerbrechlichen Dingen. Joel überlegte, ob er das zerbrechliche Ding war. Wahrscheinlich schon.

    Liam merkte offenbar, dass Joel sich auf die Zunge biss und seinen Drang unterband, den Pfleger weiter zu piesacken. Das gezwungene Lächeln des Pflegers entspannte sich zu einem aufrichtigen Grinsen. Er stopfte die Serviette in den Halsausschnitt von Joels Pyjama und sprang zur Seite, bevor der alte Mann sie herausreißen und damit nach Liam schlagen konnte.

    »Du unverschämter kleiner …«, donnerte Joel.

    »Ich hole Ihnen noch Tee«, sagte Liam schnell und verschwand lachend.

    Joel schmollte. Da hatte er sich aus einer gewissen Loyalität heraus entschieden, den Kerl nicht anzupflaumen, und schon ging der kleine Scheißer los und steckte ihm ein Lätzchen in den Ausschnitt, als wäre Joel erst zwei! Schlimmer noch, er hatte Joel beinahe so stark provoziert, dass er ihn mit einem Schimpfwort bedacht hätte. Dabei hasste Joel unflätige Ausdrücke.

    »Ist das zu glauben, Miller? Wie arrogant die jungen Leute heutzutage sind? Wie wenig Respekt sie haben?«

    Miller atmete. Ein, aus.

    »Miller, wenn Sie mit mir einer Meinung sind, dann sagen Sie jetzt nichts.«

    Miller sagte nichts.

    In der Hinsicht war sein Bettnachbar enorm umgänglich. Er teilte Joels Meinung bei einer Vielzahl von Themen.

    »Schön, dass Sie auf meiner Seite sind, alter Junge. Wenn der Pfleger wiederkommt, möchte ich, dass Sie ihm so richtig die kalte Schulter zeigen, wie nur Sie das können. Sagen Sie kein einziges Wort zu ihm!«

    »Möchten Sie noch Tee, Mr. Monroe?«, fragte Liam, als er wieder hereinkam.

    »Wir sprechen nicht mit Ihnen«, verkündete Joel dem Pfleger sachlich.

    ***

    Nach dem Frühstück wusch sich Joel und zog sich an. In letzter Zeit hatte er sein Äußeres vernachlässigt, wie er mit einer gewissen Verwunderung festgestellt hatte. Sein Leben lang war ihm sein Aussehen wichtig gewesen. Seine Kleidung sah er immer als ein Zeichen seiner gesellschaftlichen Stellung. Er war ein Geschäftsmann. Selbstständig. Er trug seine Kleidung wie eine Uniform, damit andere Menschen seinen Rang und seine Position erkannten. Wenn Joel früher morgens aufstand und sich auf den Arbeitstag vorbereitete, wusch und rasierte er sich und kämmte sich die Haare, bevor er Hemd und Krawatte anzog und sich auf den Weg zur Werkstatt begab. Hemd und Krawatte, obwohl er einen Overall überziehen und sich schmutzig machen würde, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch der Overall war ein Symbol für seine Stellung, für seine Brauchbarkeit. Ein Mann in einem fleckigen Overall konnte nicht faul sein.

    Zu Beginn seines Ruhestands behielt Joel die Angewohnheit bei, führte seine Rituale unverändert weiter. Er kleidete sich gut, rasierte sich jeden Tag. Bis Lucey starb. Da war etwas mit ihm geschehen. Mit ihr hatte ihn ein Stück Lebenskraft verlassen, und plötzlich stellte Joel um fünf Uhr nachmittags fest, dass er in Pyjama und Morgenmantel im Aufenthaltsraum saß und die von ihm so verhassten Seifenopern im Fernsehen schaute, weil an dem Tag jemand anders entscheiden durfte, welches Programm lief. Schlimmer als die himmelschreiende Dummheit der Handlung war für Joel nur noch die schiere Masse der Leute, die den Blödsinn kommentarlos schluckten. Im Pflegeheim Hilltop hatte sich gar eine kleine Gruppe suchtkranker Seifenopernfans zusammengefunden.

    Noch schrecklicher waren die Tage, an denen er im Bett blieb, überhaupt nicht aufstand, sondern auf dem kleinen Fernseher in seinem Zimmer endlos durch die Programme zappte und mit nichts, was lief, zufrieden war, mit gar nichts. Andererseits war er aber zu missmutig und antriebslos, um die Kiste einfach auszustellen und sich eine andere Beschäftigung zu suchen.

    Als er am Vortag zufällig sein Spiegelbild im Hygieneschutz über dem Salatbüfett gesehen hatte, hatte er sich über den Bartschatten auf seinen Wangen und die Flecken auf seinem Pyjama erschrocken. Sein Gesicht hatte unglaublich hager gewirkt, fast schon skelettartig, obwohl er im Ganzen noch gut dabei war. Joel fand sein Spiegelbild entsetzlich. Als Reaktion auf seinen Schock hatte er beschlossen, seinen Niedergang aufzuhalten, deshalb hievte er sich nach dem Frühstück aus dem Bett und begann entschieden, sich zu pflegen.

    Er zupfte sich die Nasenhaare. Er rasierte sich die Wangen. Er kämmte sich die Haare mit dem Wachs zurück, das sein Enkel Chris ihm vor fast fünf Monaten zu Weihnachten geschenkt hatte. Als er wieder manierlich aussah, zog er sich an: ein weißes Hemd, eine schlichte braune Krawatte und ein Wollsakko. Dazu eine braune Hose und braune Schuhe. Joel richtete sich auf und betrachtete sich vom Scheitel bis zur Sohle. Nicht schlecht, fand er. Sicherlich nicht umwerfend, aber auch nicht peinlich.

    Joel hielt sich immer noch sehr gerade. Seinem Vater, einem zuweilen brutalen Menschen, waren drei Dinge wichtig gewesen: gutes Benehmen, gepflegte Ausdrucksweise und aufrechte Körperhaltung. Jeglichen Beleg dieser drei Dinge belohnte er großzügig. Und bestrafte jede Nachlässigkeit umso heftiger. Dementsprechend maß Joel immer noch fast einen Meter achtzig. Die vielen Jahre körperlicher Arbeit und das Fußballspielen hatten ihn zäh gemacht, sodass er immer noch über relativ viel Kraft verfügte und sich nur der Ansatz eines Bauches unter den Knöpfen des Hemdes wölbte. Er hatte einen vollen Haarschopf. Noch jedenfalls. Sein Vater war bei seinem Tod kahl gewesen. Joel redete sich gerne ein, dass ihm das keine Genugtuung verschaffte, aber das war gelogen. Tatsächlich freute es ihn ein klein wenig.

    »Bleiben Sie hier und bewachen Sie das Fort, Miller! Ich bin mal kurz unterwegs.«

    Gegen neun Uhr morgens erwachten die Flure in Hilltop allmählich zum Leben, soweit man das von einem Ort sagen konnte, wo der Tod hinter jeder Ecke lauerte. Nachdem die Bewohner gefrühstückt hatten, begannen sie ihren Tag und besuchten einander in ihren Zimmern. Die Pfleger und Schwestern, die ihre Arbeit gerade erst mit der Auslieferung des Frühstücks aufgenommen hatten, waren noch voller Energie und Enthusiasmus. Das änderte sich im Laufe des Tages, unausweichlich. Wenn Rose überzeugt werden musste, dass das Haus auf der anderen Straßenseite nicht ihrem Bruder gehörte, wenn die Verwandten eines Bewohners über die Medikamente stritten, die genommen werden sollten, oder wenn die erste Windel des Tages gewechselt werden musste. Pfleger Liam behielt zwar meistens gute Laune, und Angelica, die kleine Filipina, deren lautes Lachen man von einem Ende des Gebäudes bis zum anderen hören konnte, war ebenfalls schwer kleinzukriegen, aber auch das hatte Joel ein-, zweimal erlebt. Irgendwann machte Hilltop jeden fertig. Das Leben. Das Leben machte irgendwann jeden fertig, oder?

    Das traf vor allem auf das Rhinozeros zu. Diese Frau war vom Leben zu einem harten, unnachgiebigen und auch leicht beängstigenden Wesen deformiert worden, obwohl Joel Letzteres niemals zugeben würde.

    Florence Ryan, hinter ihrem Rücken »Rhinozeros« oder kurz »Rhino« genannt, war die Direktorin und Inhaberin von Hilltop. Der Spitzname wirkte bei der zierlichen Frau leicht verfehlt; ihre Größe verlangte etwas Niedlicheres. Doch ihr Äußeres täuschte. Die Direktorin hatte den Beinamen wegen ihrer Unnachgiebigkeit und Zielstrebigkeit erhalten, mit denen sie Bewohner wie Mitarbeiter durch die Gänge scheuchte.

    Hilltop hatte vormals ihren Eltern gehört; sie war dort aufgewachsen. Hatte ihr Leben lang dort gearbeitet, sich zur Altenpflegerin ausbilden lassen, die Einrichtung geerbt und herrschte nun über das Haus mit einer Autorität, die Pol Pot zur Ehre gereicht hätte. Wie ein Schneesturm tobte sie durch die Gänge und verbreitete eine erbarmungslose Kälte. Immer begleitet von der Drohung, alles zu zerstören, was sich ihr in den Weg stellte. Selbst Liam und Angelica standen stramm, wenn das Rhinozeros unterwegs war. Dann wurden die gutmütigen Mienen der Pfleger strenger, fast ernst, als wäre die Laune des Rhinos ansteckend. Trugen Angehörige von Bewohnern bei den Angestellten wortreich ihre Beschwerden vor, so hielten sie sich spürbar zurück, wenn sie mit dem Rhino sprachen, mäßigten ihren Ton und wurden unterwürfig. Wenn das Rhinozeros mit ihnen fertig war, sie wie Putzlumpen ausgewrungen hatte, polterte es grimmig weiter.

    Mit Schaudern erinnerte sich Joel an den Tag, als das Rhino einen Verwandten dabei ertappt hatte, wie er eine Flasche Whiskey für den alten Tim Badger ins Haus schmuggeln wollte. Joel hatte miterlebt, wie das Rhino immer größer wurde, sich regelrecht aufpumpte, während der Sohn vom alten Tim vor der Direktorin zusammenschrumpfte und so klein wurde, dass es aussah, als schlotterten ihm seine Kleider am Leib. Sie hatte die Whiskeyflasche geschwungen wie einen Knüppel. Joel hätte schwören können, dass sie anschließend einen halben Meter größer war, während der Sohn vom alten Tim aussah, als würde er jeden Augenblick losheulen. Er hatte Tränen in den Augen. Joel fröstelte bei der Erinnerung.

    Während er die Flure nach einem Hinweis auf die Anwesenheit des Rhinozeros absuchte, bemühte er sich, harmlos zu wirken. Er sah und hörte jedoch nur die Geräusche der Bewohner und Mitarbeiter, die fröhlich ihrem Tagwerk nachgingen.

    »Ich glaube, sie ist noch nicht da«, sagte Una in der Tür zu ihrem Zimmer.

    »Wie bitte?«, fragte Joel.

    »Du hältst doch Ausschau nach Mrs. Ryan, oder? Ich glaube, sie ist noch nicht da.«

    Una Clarke lebte noch länger in Hilltop als Joel. Sie war mit Lucey befreundet gewesen, beim Bridge hatten sie eine Mannschaft gebildet. Una war eine gut aussehende Frau, auf die sich noch nicht der Mehltau gelegt hatte, der früher oder später jeden im Heim erwischte. Sie kleidete sich gut. Una war nie wohlhabend gewesen; einige ihrer Sachen stammten von Lucey. Wenn Joel sie in Luceys Sachen sah, biss er die Zähne aufeinander, aber er konnte es ihr ja nicht verbieten.

    »Ich habe nicht nach Mrs. Ryan geguckt. Das Kommen und Gehen dieser Frau interessiert mich nicht im Geringsten«, log Joel und versuchte gleichzeitig verstohlen, die Heimleiterin aus den Augenwinkeln zu entdecken.

    Una schmunzelte vor sich hin.

    »Du siehst sehr gut aus heute, Joel. Du kannst dich durchaus sehen lassen, wenn du dir die Mühe machst, dich vernünftig anzuziehen. Gibt es einen Grund?«

    Joel verkniff sich eine scharfe Erwiderung.

    Una trug die adrette dunkelblaue Strickjacke mit großen Goldknöpfen, die Lucey immer samstags angezogen hatte, wenn sie gemeinsam zum Wochenmarkt gingen. Samstagmorgens war immer Markt. Beim ersten Mal hatte Lucey Joel mitschleppen müssen, und er hatte gestaunt, wie reizvoll er die lebendige Atmosphäre dort fand. Danach freute er sich auf den Marktbesuch. Eine kleine morgendliche Verabredung mit seiner Frau. Sie in ihrer Strickjacke und er in seiner. Meistens kaufte sie ein seltenes Gemüse oder unbekanntes Obst und brachte es irgendwie im Essen unter – wovon er meistens nicht begeistert war. Aber sich bei Lucey zu beschweren war sinnlos. Er hatte es im Laufe der Jahre so oft getan, dass sie sein Nörgeln einfach an sich abperlen ließ, über sein Gemecker lächelte und doch das kochte, was ihr gefiel. Luceys Lächeln war etwas Wunderbares.

    Die Strickjacke stand Una gut. Joel fand es schrecklich, dass sie ihr stand. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass es gut aussah. Gleichzeitig wollte er ihr verbieten, noch länger die Sachen seiner Frau anzuziehen.

    »Hatte einfach Lust dazu«, brummte er vor sich hin. Una war nicht der Feind. Wenn Joel es recht überlegte, konnte er nicht genau sagen, wer eigentlich der Feind war.

    »Das ist doch schön. Freu mich, dass du motiviert bist.«

    Motiviert? So fühlte er sich nicht. Joel fühlte etwas anderes.

    Da war etwas Düsteres, bösartig, nicht greifbar. Etwas, was er nicht erklären konnte und was am Rand seiner Wahrnehmung zu lauern schien, reglos. Es war nicht das erste Mal, dass er es spürte, doch diesmal war es unmittelbarer, bedrohlicher. Eine Trostlosigkeit, die sich wie eine Wolke auf ihn legte, dick und schwer, die ihn bedrängte und sein Gehirn vernebelte. Er hoffte, das Gefühl gehe vorüber.

    »Tja, na ja … Dachte, ich könnte mich mal rasieren und so«, sagte er und suchte nach einer Möglichkeit, das Gespräch zu beenden.

    »Das Sakko kenne ich doch. War das nicht für besondere Anlässe?«, fragte Una.

    Sie sprach offenbar von den Gelegenheiten, bei denen Lucey ihm seine Sachen rausgelegt hatte. Joel hatte vergessen, welche seiner Kleidungsstücke für besondere Anlässe vorgesehen waren. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, wollte nicht daran erinnert werden, wie Lucey seinen Hemdkragen gerichtet hatte, wie sie die kleinen Knöpfe mit ihren zarten Händen schloss. Sie hatte ihn für Evas Taufe zurechtgemacht. Er hatte sich gegen ihre Fürsorge gewehrt, eigentlich nur der Form halber, denn in Wirklichkeit genoss er es, wenn sie solch Aufhebens um ihn machte, und weil sie umso entschlossener wurde, je mehr er sich wehrte. Eva hatte in ihrem Stubenwagen gelegen und gurgelnde Geräusche von sich gegeben.

    Was war das für ein herrlicher Tag gewesen! Sonnenschein. Lucey so schön wie immer. Alle Verwandten und Nachbarn waren zum großen Anlass gekommen. Es schien so lange zurückzuliegen, dass es fast war, als gehörte die Erinnerung einem anderen. Einem glücklicheren Menschen.

    »Ist nur’n Sakko«, murmelte Joel vor sich hin und spürte, wie sein Atem schneller wurde.

    »Und, was steht heute auf dem Plan?«, fragte Una, der sein missmutiges Gebaren nicht entging.

    »Was hier an jedem einzelnen Wochentag auf dem Plan steht, was sonst?«, gab er verbittert zurück. »Fernsehen, bis wir wie träges Vieh wieder zum Essen getrieben werden. Ein Buch lesen oder zuhören, wie Mighty Jim vor sich hin brabbelt.« Joel wusste nicht genau, warum er laut wurde. »Irgendwo eine Ecke finden, um vor sich hin zu dösen und zu hoffen, dass beim Aufwachen genug vom Tag vergangen ist, damit er einen nicht länger anödet?« Am Ende schrie er fast.

    Seine Worte überraschten ihn selbst. Sie überraschten Una. Beide standen da und sahen sich eine Weile verlegen an. Joel hatte gehört, wie die Sätze aus seinem Mund kamen, aber er hatte nicht geahnt, dass sich diese Gedanken in ihm versteckten.

    »Ähm … tut mir leid. Keine Ahnung, wo das herkam«, machte er einen zaghaften Erklärungsversuch.

    »Gibt’s irgendwas, worüber du reden möchtest?«, fragte Una.

    »Nein. Nein, ich muss mich entschuldigen. Das ist mir so rausgerutscht.«

    Sie sah ihn aufrichtig besorgt an.

    »Vielleicht läuft heute ja was Gutes im Fernsehen, hm?«, sagte er in dem Versuch, fröhlicher zu klingen, normal. »Die Sendung, die wir letzte Woche geguckt haben, war doch nicht schlecht, oder?«

    Una betrachtete ihn weiter nachdenklich.

    »Vielleicht fragen wir besser Pfleger Liam …«, setzte sie an.

    »Nein, nichts da!«, unterbrach Joel sie. »Mir geht’s gut. Vielleicht wage ich eine Partie Schach mit Mighty Jim.«

    Er war weg, bevor sie etwas erwidern konnte. Seine langen Schritte trugen ihn davon, ehe Una tatsächlich Liam holte. Joel überlegte erneut, warum er diese Sätze wohl gesagt hatte. Vielleicht weil Una Luceys alte Strickjacke trug. Oder weil er diese vage Angst vor dem Rhino hatte. Es konnte auch an seinem Frust liegen, wie ein Kind behandelt zu werden. Doch Joel vermutete, dass dieses trostlose Etwas dahintersteckte, das sich in ihm breitgemacht hatte. Ein Teil von ihm wollte es sich genauer ansehen und es verstehen, gleichzeitig fürchtete er sich davor und wollte es nicht zu genau untersuchen. Er schüttelte es ab und machte sich auf, Mighty Jim zu suchen.

    ***

    Als Joel am Nachmittag im Aufenthaltsraum über dem Schachbrett brütete, versuchte er, das quälende Gefühl zu ignorieren, das ihn seit seinem Wutausbruch am Morgen verfolgte. Doch sobald er seine Gedanken nicht unter Kontrolle hatte, kehrten sie zu der Situation zurück.

    »Das ist relativ gesehen. So etwas darf keine Sackgasse werden …«, flüsterte Mighty Jim, während er auf Joels Zug wartete. Joel hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, verstehen zu wollen, was der Alte vor sich hin brabbelte. Mighty Jim war schon seit fast zehn Jahren im Heim, sein Gesicht zerfurcht, der Rücken krumm, die Hände von Arthritis verkrüppelt. Jims Verstand hatte den hinfälligen Körper vor vielen Jahren verlassen, der Mann murmelte ständig sinnloses Zeug, ohne dass das breite Grinsen sein faltiges Gesicht verließ.

    Joel konnte sich noch daran erinnern, als Mighty Jim der Bürgermeister Jim Lincoln gewesen war. Ein scharfsinniger, cleverer Politiker mit schicken Anzügen, tadellosem Auftreten und einem Handschlag für jeden, den er traf. Der Inbegriff von Kraft, Autorität und Führungsqualität, ein gestandener Mann. Jetzt war er nicht wiederzuerkennen, aber Joel nahm an, das mache Jim nichts aus. In der Erinnerung würde der ehemalige Bürgermeister als einflussreicher Mann weiterleben, nicht als demenzkranker buckliger Alter mit grenzdebilem Dauergrinsen.

    Kaum hatte Joel zugelassen, dass seine Gedanken auf Wanderschaft gingen, kehrte die verhängnisvolle Wolke zurück, drängte sich in seinen Kopf und verbreitete Negativität und Verzweiflung. Sie war fast körperlich spürbar. Schon vorher hatte Joel sich isoliert gefühlt – genau genommen fühlte er sich allein, seit Lucey ihn zurückgelassen hatte –, doch diese Wolke war neu. Neu und beängstigend.

    Teilweise hatte sie mit Unas besorgtem Blick zu tun, vermutete er. Seit Luceys Ableben war Una immer nett zu ihm gewesen. Hatte nach ihm geschaut, hatte versucht, ihn in ihren Gartenclub zu holen, hatte ihn nach seiner Meinung zu Seifenopern gefragt und war mit Kreuzworträtseln zu ihm gekommen, um ihn um Hilfe zu bitten. Joel war mit fünfzehn von der Schule abgegangen, um eine Lehre als Automechaniker anzutreten – Schulwissen war nicht gerade seine Stärke. Zwar las er viel, allerdings nichts Anspruchsvolles. Das war Luceys Fachgebiet gewesen. Er konnte Una nicht bei ihren Kreuzworträtseln helfen, war ihr aber doch für einen Moment dankbar, dass sie ihn angesprochen hatte, trotz seiner offensichtlichen Defizite auf diesem Gebiet. Es gefiel ihm nicht, dass sie sich Sorgen um ihn machte, wo sie die ganze Zeit so freundlich gewesen war. Aber das war nicht alles. Es steckte mehr hinter seiner diffusen Wut, als er selbst erklären konnte. In erster Linie war es das furchtbare Gefühl der Verzweiflung, das sich an ihn geheftet zu haben schien und das er offenbar nicht mehr loswurde. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, den Blick nach innen zu richten und es sich ein bisschen näher anzusehen, aber so was kam für Joel nicht infrage, deshalb entschied er sich, es weiter zu ignorieren.

    Vorsichtig setzte er seinen Springer um. In Hunderten von Schachpartien gegen Mighty Jim war es Joel nicht einmal gelungen zu gewinnen. Welch furchtbare Krankheit sich auch des Gehirns seines Gegenspielers ermächtigt haben mochte, sie hatte es nicht geschafft, den Teil zu zerstören, der wusste, wie man Schach spielte. Partien mit Mighty Jim besaßen den vorhersagbaren Charme, nach immer demselben Muster abzulaufen: Jim griff an, fegte die Hälfte von Joels Figuren vom Brett und steuerte dann auf ein Patt zu, an dem nichts mehr zu ändern war. Jedes Mal sagte sich Joel, dass er keine Lust auf diesen Unsinn habe, und nahm sich vor, den alten Mann seinen Mätzchen zu überlassen, doch ein paar Tage später saß er wieder an dem Tisch, entschlossen, nur ein Mal zu gewinnen. Ein einziges Mal.

    »Wir müssen einfach mehr Verständnis füreinander aufbringen«, sagte Jim und brachte seinen Läufer in Angriffsstellung.

    »Auf jeden Fall«, erwiderte Joel und versuchte, einen Weg zu finden, dem unvermeidlichen Schlachtfest zu entkommen.

    Hinter ihnen brach eine kleine Schar Frauen in Lachen aus, Una mittendrin. Joel musste die Zähne zusammenbeißen.

    »Was ist denn da so witzig?«, fragte er Mighty Jim gereizt. Joel war schnell gereizt.

    »Die romantische Lüge im Kopf«, entgegnete Jim weise.

    Joel nickte. Er fragte sich, was Jim noch verstand und was er von Joel zu verstehen erwartete.

    »Stört dich das Lachen nicht?«, fragte er den Alten.

    »Neunzig Prozent der Menschen, die einer Religion angehören, irren sich«, erwiderte Jim und grinste breit. Fröhlich lachte er vor sich hin und richtete seinen Blick wieder aufs Schachbrett.

    Auch bei Mighty Jims Fröhlichkeit musste Joel die Zähne zusammenbeißen. Über was genau freute sich der arme Teufel eigentlich? Eine Weile betrachtete Joel das zerfurchte Gesicht ihm gegenüber. Mighty Jim wirkte glücklich. Richtig glücklich. Sein manchmal schiefes Grinsen war ehrlich; er sah oder interessierte sich nicht für die Bedingungen, unter denen er lebte. Sein langsamer Verfall oder der der Bewohner um ihn herum kümmerten ihn nicht. Die mittelmäßigen Desserts und die Pillen, die ihm unablässig in den Mund geschoben wurden, waren ihm egal. Er war senil und freute sich auch noch darüber. Die geistig Armen sind wirklich selig, dachte Joel.

    Auf der anderen Seite des Raums hatten sich wieder mehrere Bewohner zusammengefunden, um Seifenopern zu gucken. Verzückt saßen sie vor dem Fernseher. Joel schüttelte den Kopf und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, Mighty Jim zu schlagen.

    Später am Nachmittag saß er an einem Fenster im Aufenthaltsraum, von dem aus man den Hügel hinabschaute. Auf seine Weise war der Ausblick wunderschön: hohe Bäume, die den parkähnlichen Garten umschlossen und majestätisch gewesen wären, wenn sie nicht wie eine zu hohe Mauer gewirkt hätten. Joel blätterte in dem Krimi, den er gerade las, und war froh, wenigstens auf diese Weise von Hilltop fortgebracht zu werden. Das Lesen war eine willkommene Ablenkung von dem bohrenden Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Dieses Gefühl schien sein Gehirn mehr und mehr zu vereinnahmen, sein Bewusstsein zu kapern. Joel las noch intensiver. Je schneller er die Wörter verschlag, desto weniger ließ er sich von äußeren Einflüssen ablenken — so dachte er in einem Winkel seines Gehirns.

    Er las, bis ihm langweilig wurde. Dann machte er einen Spaziergang, die lange Zufahrt zum Tor von Hilltop hinunter und den Pfad entlang, der hinter den hohen Bäumen herführte, die den weitläufigen Rasen umgaben. Er lief, bis ihm langweilig wurde.

    Zur festgesetzten Uhrzeit, immer dieselbe, nahm Joel das Abendessen in seinem Zimmer ein, um ungestört Fußball zu gucken. Das Essen war gut; er hätte sich gerne darüber beschwert. Joel fand, dass das Rhino sein Geld mit der Köchin gut angelegt hatte. Offensichtlich liebte die Frau ihre Arbeit; sie war schon seit Jahren im Heim tätig, auch wenn Joel vermutete, dass eine Köchin ihres Kalibers eine andere Stelle hätte finden können. Es gab bestimmt verlockendere Arbeitsplätze als Hilltop. Beim Essen meckerte er den Fernseher an.

    »Ich weiß nicht, ob’s am Trainer oder an den beschissenen Spielern liegt, aber unsere Mannschaft ist wirklich eine Gurkentruppe, Miller, oder?«

    Miller schwieg. Beim Abendessen sagte er nie etwas.

    »Wenn Sie weiter mit Mr. Miller reden, machen wir uns irgendwann ernsthaft Sorgen um Ihre geistige Gesundheit, Joel!«

    Liam war mit den Medikamenten hereingekommen. Schon wieder. Er würde so lange bleiben, bis Joel sie eingenommen hatte. Schon wieder. Das trieb Joel plötzlich zur Weißglut.

    »Legen Sie den Kram einfach auf den Tisch, Liam«, sagte er brüsk.

    »So funktioniert das nicht, und das wissen Sie, Mr. Monroe.«

    Mr. Monroe. Das war sein Name, wenn man ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte. Wenn Pfleger Liam einen auf Kumpel machte, dann ging es »Joel hier« und »Joel da«, doch sobald er Befehle ausgeben oder Forderungen stellen konnte, war Joel plötzlich Mr. Monroe. Er hasste diese Verlogenheit.

    »Auf den Tisch, bitte!«, sagte er mit bestimmtem Ton.

    »Gerne doch«, entgegnete Liam. Offenbar hatte er seine Taktik geändert. Er legte die Medikamente auf den Nachtschrank, verschränkte die Arme und blieb stehen.

    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Joel.

    »Nö. Muss nirgendwohin, hab nichts vor.«

    »Ihre Schicht ist in

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