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Lebenslinien: Wie ich mit meiner Familie durch Asien reiste und hundert Geschichten entdeckte (Reise/Menschen/Biografien)
Lebenslinien: Wie ich mit meiner Familie durch Asien reiste und hundert Geschichten entdeckte (Reise/Menschen/Biografien)
Lebenslinien: Wie ich mit meiner Familie durch Asien reiste und hundert Geschichten entdeckte (Reise/Menschen/Biografien)
eBook347 Seiten4 Stunden

Lebenslinien: Wie ich mit meiner Familie durch Asien reiste und hundert Geschichten entdeckte (Reise/Menschen/Biografien)

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Über dieses E-Book

Sieben Länder in 96 Tagen – ein Familientrip wie eine Wundertüte. Begegnungen mit Menschen, die Faszinierendes zu erzählen haben. Traumhafte Geschichen, aber auch albtraumhafte, die ein Bild zeichnen von Lebenswirklichkeiten an anderen Enden der Welt mit all ihren Hürden, Herausforderungen und Konflikten. Geschichten voll Tragik, aber auch voll purem Glück.
Ein intensiver Einblick in gesellschaftliche Zustände und soziale Realitäten – und gleichzeitig eine berührende Sammlung von individuellen Lebensgeschichten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Dez. 2022
ISBN9783347668249
Lebenslinien: Wie ich mit meiner Familie durch Asien reiste und hundert Geschichten entdeckte (Reise/Menschen/Biografien)

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    Buchvorschau

    Lebenslinien - Marcel Grzanna

    Über dieses Buch

    Als wir aufbrachen, hielt ich ein Buch über unsere Reise für eine gute Idee. Die Route versprach jede Menge Stoff. Von Südchina ging es nach Laos, dann über Thailand weiter nach Sri Lanka und von dort nach Indonesien. Über Singapur und Australien wollten wir schließlich Neuseeland erreichen, die letzte Etappe des Trips. Die dreimonatige Reise war der Ausklang eines Lebensabschnitts. Neun Jahre hatten wir zuvor in China gelebt. Unsere Kinder waren dort geboren worden. Jetzt zog es uns zurück nach Europa.

    Ich überlegte, von Leid und Leidenschaft des Reisens zu erzählen. Von diesem Gefühl, schwitzend in einem Bus ohne Klimaanlage zu kauern, eine kaputte Sitzlehne im Rücken, während der Motor röhrt, als würde er jeden Augenblick verrecken, mit einer Handbremse, die nur dann noch Wirkung zeigt, wenn der Fahrer sie senkrecht nach oben reißt. Die Rucksäcke liegen zusammengepfercht auf dem Dach zwischen Reissäcken und Hühnerkäfigen, während man selbst stundenlang gequetscht neben einer Einheimischen hockt, deren Haut aussieht wie eine Ziehharmonika, mit Händen, aus denen Fingernägel wie Baumrinden wachsen, und die den Kindern geschälten Apfel reicht. Man zählt die Stunden bis zur Ankunft an einem Ort, dessen Namen man vor wenigen Tagen oder Wochen zum ersten Mal gehört hat, voller Vorfreude auf das Unbekannte, das seine Entdeckung mit einem Gefühl des Glücks belohnt. In jeder solcher Sekunden saugt man die Realität einer anderen Welt ein. Faszinierend, erschütternd, amüsant. Immer wieder. Aber auch schon x-fach beschrieben.

    Ich suchte nach etwas, das mich selbst überraschte. Etwas, das alltäglich schien und doch einzigartig war, das Menschen gleichermaßen faszinierte, ob sie meine Interessen teilten oder nicht.

    Fündig wurde ich an jenem Tag, an dem ich Dean traf, einen arbeitslosen Handwerker aus der englischen Arbeiterstadt Luton, Schnauzbart, geschieden, um die fünfzig. Dean war weder eine besonders schillernde Persönlichkeit noch über alle Maßen mitteilsam, geschweige denn ein Freak, der durch markantes Auftreten die Blicke auf sich zog. Er war ein stinknormaler Typ, mit dem man an der Bar gesellig ein paar Bier trinken konnte, ohne ihn am Tag darauf beim gleichen Ritual zu vermissen, wenn er nicht da war.

    Ich traf ihn im Nationalstadion der laotischen Hauptstadt Vientiane. Das Stadion sah aus wie ein Bolzplatz mit Tribüne, aber früher fanden hier mal Fußball-Länderspiele statt, deshalb sein Name.

    An diesem Sonntag stand das Stadion offen für jedermann. Mein notorisches Interesse an Sportarenen trieb uns hinein. Meine Tochter Lily, mein Sohn Mats und ich gingen an der kleinen Haupttribüne vorbei und betraten ungehindert die verrottete Laufbahn. Ein paar Hobbyfußballer kickten auf der Wiese. Es hätte niemanden gestört, hätten wir ein Grillfest auf dem Rasen des Nationalstadions veranstaltet.

    Dean stand auf der Tribüne. Sein T-Shirt war mit einem Pokal und den Jahreszahlen 56/57 bedruckt. Meine Leidenschaft für Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen zwang mich, nachzuhaken. »Was für ein Pokal ist das? Und wer hat ihn gewonnen?«, fragte ich ihn.

    »Oh, das … keiner«, antwortete er. »Das ist nur ein T-Shirt.«

    »Bist du Brite?«, fragte ich.

    »Ja, aus Luton, England.«

    »Ah«, sagte ich, »dann bist du Fan von Luton Town?«

    Dean schaute mich an, offenbar verwundert, dass ich mich in den Niederungen des britischen Fußballs zumindest vordergründig auskannte. Luton Town spielte in den 1980er-Jahren in der ersten englischen Liga und war erst nach Jahrzehnten der Abstinenz drauf und dran dorthin zurückzukehren.

    Als Teenager saugte ich damals alle Informationen auf, die mit Sport zu tun hatten. Ich legte so die Basis für meine journalistische Laufbahn als Sportreporter.

    So kamen wir über schlechten Fußball ins Gespräch und landeten zwangsläufig bei den Gründen, weshalb wir uns überhaupt an diesem Ort begegnet waren. Dean erzählte, dass er kürzlich seinen Job verloren hatte und seine Ehe in die Brüche gegangen war. Doch statt sich fortan täglich in seinem Lieblingspub frustriert volllaufen zu lassen, stellte er sich weitgehend unalkoholisiert die Frage, wie es weitergehen könnte mit seinem fortgeschrittenen Leben. Die Antwort fand er im Internet.

    Eine NGO suchte gegen eine geringe Aufwandsentschädigung Handwerker, die ihr dabei helfen sollten, eine Schule zu bauen. Der Haken daran: Die Schule sollte nicht in Luton gebaut werden, sondern in Laos. »Ich habe mir einfach gedacht, der Trip hierher wäre vielleicht eine gute Idee«, sagte Dean.

    Ich konnte ihm nur zustimmen. Es ist nie zu spät für neue Horizonte. Sich in seinem nicht mehr ganz jugendlichen Alter erstmals in ein solches Abenteuer zu stürzen, alleine und ohne den Hauch einer Idee, was ihn überhaupt erwartete, fand ich bewundernswert.

    Ausländer, die wir in Entwicklungsländern trafen, waren oft Leute mit höherer formeller Bildung und individuellen Vorstellungen darüber, wie sie ihr Leben gestalten wollten: Studenten, die sechs Monate, ein Jahr oder länger der alten Welt den Rücken kehrten, um Kraft und Erfahrungen zu sammeln für die Herausforderungen der Zukunft. Auch Abenteurer und Lebenskünstler, die daheim ihren Jobs nachgingen, nur um sich den nächsten Trip um den halben Erdball zu finanzieren, der ihnen kurzzeitig das Gefühl von Freiheit verschaffte, von dem sie für den Rest des Jahres zehrten.

    Dean war anders. Er war noch nie in seinem Leben über die Grenzen Europas hinausgekommen. Er hatte ein paar Reiseziele in einem Radius von etwa zwei Flugstunden um London kennengelernt, vor allem solche, wo die Sonne schien und Bier floss. Sonst verbrachte er seine Zeit vornehmlich in Luton.

    Von seinen Freunden und Bekannten war zuvor nie jemand in Laos gewesen. Wer es einen Hauch exotischer gewagt hatte, den zog es pauschal nach Thailand. Da gab es Sonne, Strände und britische Pubs wie Sand am Meer. Die Reiseleitung brachte einen ins Hotel, man rannte zwei Wochen arglos durch die Tropenhitze, vergaß, sich einzucremen, bis die Haut pinkfarben leuchtete, kühlte den Brand mit eiskaltem Chang Bier und aß abwechselnd gebratenen Reis oder Burger, bis zu dem Tag, an dem die Reiseleitung zur Abfahrt Richtung Flughafen in den Mannschaftsbus bat, und der Thailand-Urlaub vor allem wegen des Elefantenreitens in Erinnerung blieb, aber ansonsten das Gleiche bot wie Mallorca, nur weiter weg.

    Seine Leute würden ihn sicher schief anschauen, hatte Dean gedacht. Laos hat nicht einmal eine Küste. Ist das eigentlich ein Land oder eine Stadt? Und wenn ja, wo? Und welche Sprache sprechen die da? Der muss verrückt sein, der Typ.

    Aber all das war Dean völlig egal. Es gab nichts mehr, was ihn in Luton hielt. Keine Frau, keine Arbeit, nicht einmal mehr eine Dauerkarte für seinen Lieblingsklub. Er war entschlossen, etwas zu tun, was er noch nie zuvor getan hatte. Er suchte eine günstige Flugverbindung nach Laos und klickte »Confirm booking«.

    Als wir uns trafen, war er seit vier Monaten im Land, völlig überwältigt von den Eindrücken. Er schwärmte vom Durcheinander auf den Straßen und dem Chaos im Alltag, von freundlichen Einheimischen und der Leichtigkeit des Freundemachens. Dabei strahlte er wie durch eine Überdosis Glückshormone erleuchtet, und ich strahlte mit ihm.

    Dean schoss noch ein paar Fotos von Lily, Mats und mir auf dem Rasen des Nationalstadions. Dann verabschiedeten wir uns. Er legte seine Handflächen aneinander, hielt sie vors Gesicht und neigte den Kopf nach vorne, so wie sich Menschen in Südost-asien traditionell begrüßen und verabschieden. In Luton würden sie ihn für übergeschnappt halten.

    »Wer war der Mann?«, fragte Lily.

    »Das war Dean«, antwortete ich.

    Am Abend dachte ich über seine Geschichte nach. Sein Mut hatte ihn belohnt. Er verdiente in Laos zwar kaum Geld mit seiner Arbeit, aber er fühlte sich unendlich bereichert. Er hatte sich getraut, seine Komfortzone zu verlassen, und war aufgebrochen zu einem Abenteuer, von dem er bis vor wenigen Monaten nicht gewusst hatte, dass es für ihn infrage kam.

    »Ein guter Typ«, sagte ich zu Pia. Ich spürte, wie mir Deans Erzählung Mut und Gewissheit gab, dass es immer einen Weg gibt, der das Leben lohnenswert macht, ganz gleich wie groß die Probleme sind, die sich nach dem Aufstehen türmen. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich irgendwo eine neue.

    Wir bemerkten, wie viele unterhaltsame Stunden uns schon während der ersten Tage unserer Reise geboten worden waren. Und das nur, weil wir uns die Zeit genommen hatten, ausführlich mit Fremden zu sprechen. »Mal sehen, wen wir noch alles treffen und was für Geschichten wir noch hören werden«, sagte ich.

    Es war der Augenblick, in dem mir klar wurde, was diese Reise Einzigartiges zu bieten hatte: zufällige Begegnungen mit Menschen und die einmalige Chance, ihnen ihre Geschichten zu entlocken. Und ich konnte nicht ahnen, wie häufig ich in den kommenden Monaten gebannt fremden Menschen zuhören sollte, weil sie mich mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen faszinierten.

    Manches, was ich hörte, half mir, die soziale Realität zu verstehen, in der diese Menschen lebten. Es vermittelte mir eine konkrete Vorstellung der gesellschaftlichen Zustände in den Ländern, die wir bereisten. Anderes eröffnete mir Perspektiven auf Dinge, die mir zuvor verborgen geblieben waren, oder lieferte mir Hintergründe zu Themen, mit denen ich mich nie intensiv beschäftigt hatte, weil die Berührungspunkte fehlten. Wieder anderes fesselte mich durch seine Einzigartigkeit.

    Es war eine ungeheure Vielfalt, die auf mich einprasselte, doch all die Geschichten liefen an einem Punkt zusammen: Sie zeichneten Bilder der Lebenswirklichkeiten Dutzender Menschen aus vielen Teilen der Welt im 21. Jahrhundert, mit all seinen Klippen, seinen Herausforderungen, seinen Konflikten, seinem Elend, aber auch seinem Glück. Sie boten die Stoffe, aus denen Träume, aber auch Alpträume sind.

    Lily und Mats konnten meine Begeisterung manchmal nicht so recht teilen, Erwachsenenzeugs eben. Sie mussten so oft geduldig warten auf ihr Essen, den Spielplatz, den Strand, ihre Gute-Nacht-Geschichte, die Weiterfahrt. Sie nahmen es hin, manchmal verständnisvoll, manchmal gleichgültig, manchmal genervt.

    Oft waren sie und Pia Teil der Unterhaltungen oder sogar ihr Ausgangspunkt. Zum Beispiel als uns Manju in Sri Lanka erzählte, dass er seinen Onkel umgebracht hatte, oder als Tony, der Taxifahrer in Singapur, uns erklärte, wie er Millionen Dollar an der Börse verlor, oder als Julian und Katya uns von ihrer Haftstrafe in China erzählten. Mats saß im Flugzeug zwischen mir und dem Bischof, als der mir gestand, dass die Enthaltsamkeit ihm zunehmend schwerfiel. Mats war es auch, der in Melbourne darauf bestand, dem Mann auf Rollschuhen zuzuschauen, der sich dann als philippinischer Slum-Junge entpuppte, der in Australien in der Lotterie gewonnen hatte. Und gemeinsam mit Lily und Mats bestaunte ich auf dem Tennisplatz in Laos dieses junge Mädchen, deren Vater sein Vermögen aufs Spiel setzte, um ihr die Chance zu geben, Profi zu werden.

    Wenn es den Kindern zu lang wurde, sagte Lily einfach: »Papa, nicht schon wieder reden!« Mats stimmte ihr zu. Aber ich fand so oft kein Ende, weil ich auf immer mehr Einzelheiten Antworten suchte. Ich wollte diese Geschichten ja nicht in Bierlaune in der Kneipe nacherzählen, sondern ich wollte tiefer gehen. Ich suchte nach den Schlüsseln zu den Archiven, wo all die Details lagerten, die mich so in ihren Bann zogen.

    Alle Geschichten in diesem Buch beruhen auf wahren Begebenheiten und sind mir so wie hier dargestellt von den Protagonisten selbst vermittelt worden. Literarische Freiheit habe ich mir in wenigen Fällen lediglich dort erlaubt, wo es darum ging, emotionale Einordnungen zu treffen, wenn manche Protagonisten sich schwertaten, ihre Gefühlswelt detailliert in Worte zu fassen. Alle Protagonisten und Protagonistinnen haben zudem ihr Einverständnis gegeben, dass ich über sie und die zum Teil sehr intimen Details ihres Lebens schreiben darf. Für manche Begegnungen bot sich ausreichend Zeit, um vor Ort alle Fragen zu beantworten. Andere Geschichten bedurften einer intensiven Nachrecherche per Telefon oder per E-Mail.

    Der Aufbruch

    Was für ein Gepäckberg, der sich da vor uns türmte. Das sieht nach Umzug aus, nicht nach Rucksackreise, dachte ich. Er bestand aus gefühlten fünfzig Prozent unserer Habseligkeiten, von denen der andere Teil im Containerhafen von Shanghai auf seine Abfertigung nach Europa wartete. Für unseren 96-Tage-Trip durch mehrere Zeit- und Klimazonen waren wir auf alles vorbereitet: bittere Kälte, drückende Wärme, Regengüsse, Sonne, Strand, Berge, schmuddelige Hotels, Hunger, Durst, kalte Duschen, schlechte Laune, schlappe Kinderbeine, Langeweile, Durchfall oder anderweitige Erkrankungen und und und …

    Pias Hauptargument für das Ausmaß ihrer organisatorischen Meisterleistung lautete, dass vor allem während der für die ersten beiden Monate geplanten Reiseroute bei der Versorgung mit Hygiene- und Gebrauchsartikeln Probleme entstehen könnten. Ich überzeugte sie immerhin davon, dass acht große Pakete Feuchttücher ausreichten und wir weitere acht, obgleich schon verpackt, trotz eines Windelträgers in unserer Gruppe zurücklassen könnten. Jetzt schleppten wir zumindest ein paar Kilo weniger, aber der Berg wurde deshalb auch nicht kleiner.

    So standen wir vor dem Check-in-Schalter mit zwei Reiserucksäcken, einem Alltagsrucksack, einer großen Damenhandtasche für Allerlei, zwei Kinderrucksäcken für Kuscheltiere, Spielzeug und Malsachen, einem Kinderreisebett, einer Kindertrage, einem faltbaren Kinderwagen, zwei Schlafsäcken, zwei Tretrollern, einer Fototasche, einem Jutebeutel mit Lebensmitteln und einer großen Sporttasche auf Rädern, gefüllt mit Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken und: zweihundert Windeln. Im Laufe der drei Monate reduzierte sich vor allem der Windelvorrat auf ein Minimum. Von den Feuchttüchern brachten wir drei Pakete mit nach Europa.

    Nach einem Drei-Stunden-Flug landeten wir in Jinghong, einer charmanten Kleinstadt in der Provinz Yunnan in Südchina, nahe der laotischen Grenze. Der Plan lautete, am Folgetag mit dem Bus die Grenze zu überqueren.

    Früh genug erreichten wir morgens den örtlichen Busbahnhof und vertrieben uns die Wartezeit bis zur Abfahrt. Lily und Mats rasten auf ihren Rollern von einem Ende des Bussteigs zum anderen, ich als mobiler Wegweiser darum bemüht, Auffahrunfälle mit Fußgängern zu vermeiden.

    Plötzlich bogen zwei Gestalten um die Ecke. Ein junger, europäisch ausschauender Mann mit Jesusbart und eine junge Frau mit mittelblondem Haar. Sie wirkten in Eile und hatten die Augen starr geradeaus gerichtet. Ohne irgendwen eines Blickes zu würdigen, stapften sie auf den Abfahrtssteig zu mit dem Zielort Luang Namtha, Laos. Auch unsere Route. Gegen Mittag erreichten wir den Grenzübergang in Boten. Mit all unserem Gepäck mussten wir zu Fuß durch den Zoll. Wir hielten den gesamten Verkehr auf. Der Mann mit dem Jesusbart bot an, meinen Rucksack zu tragen. Er sprach Englisch mit französischem Akzent. Das war freundlich, aber mir war das Angebot peinlich. Wir schleppten Gepäck im Kleinlasterformat an die laotische Grenze und sollten jetzt um Hilfe bitten, um alles hinüberzubekommen? Nein, danke. »Passt schon«, sagte ich lächelnd. Er lächelte zurück.

    Länger als acht Stunden dauerte die Fahrt. Wir waren schon weit gekommen, als zwei junge ausländische Reisende den Bus anhielten, um zuzusteigen. Sie fanden zwei freie Plätze im vorderen Teil, in der Reihe gleich vor dem Mann mit dem Jesusbart und dessen Begleiterin. Aus der letzten Reihe beobachtete ich, wie die beiden mit dem einen der neuen Fahrgäste ins Gespräch kamen. Nach kurzer Zeit sagte der Neuling kein Wort mehr. Mit geöffnetem Mund blickte er die beiden abwechselnd ungläubig an. Das weckte meine Neugier, aber sie saßen zu weit entfernt, um sie anzusprechen.

    Nach der Ankunft in der Dämmerung von Luang Namtha verlor sich ihre Spur. Durch Zufall liefen sie uns eine Stunde später wieder über den Weg. Im Restaurant unserer Unterkunft nahmen sie am Nebentisch Platz. Wir erkannten uns. »Hey, wie geht’s?«, fragte ich.

    »Gemütliches Bett, warme Dusche – alles, was wir brauchen«, antwortete der junge Mann. Er hieß Julian. Er war ein hagerer Typ mit hohen Wangenknochen und einem spitzen Kinn, das von wucherndem Flaum bewachsen war. Seine dünnen dunkelblonden Haare fielen ihm gewellt vom Scheitel über die Ohren bis fast auf die Schultern. Seine Freundin hieß Katya. Sie war etwas kleiner als er und ihr Akzent osteuropäisch. Sie hatte ein rundes Gesicht, aus dessen blauen Augen beim Lachen Offenheit und Herzlichkeit strahlten.

    »Waren die letzten Nächte nicht so schön?«, fragte ich.

    »Geht so«, sagte er. »Wir sind heute aus dem Gefängnis entlassen worden.«

    »Wie bitte?«

    »Ja, heute Morgen sind wir raus.«

    Ich hatte eine Menge üble Geschichten aus chinesischen Gefängnissen gehört. Die Privilegien, die man in China als Bürger einer rechtsstaatlichen Wirtschaftsmacht genießt, werden den Erzählungen nach an der Pforte hinterlegt, bis man wieder herauskommt. Es genügte in der Vergangenheit manchmal schon, eines Wirtschaftsverbrechens nur denunziert zu werden, um möglicherweise mit Mördern und anderen Schwerstkriminellen monatelang eine Zelle mit einem Klo teilen zu müssen. Deswegen war ich keineswegs neidisch auf die Erfahrung, die Julian und Katya gemacht hatten. Aber ich war gespannt darauf, davon zu hören. »Wieso?«, fragte ich.

    Julian antwortete unverblümt und öffnete damit zwangsläufig neue Türen. Wir verwickelten uns immer tiefer in das Frage-und-Antwort-Spiel. Schließlich tauschten wir E-Mail-Adressen aus. Wer weiß, dachte ich noch. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Handwerker Dean noch nicht getroffen, und die Idee für dieses Buch war noch nicht geboren.

    »Wieso?«

    Es dauerte mehrere ellenlange E-Mails, bis ich wirklich verstanden hatte, weshalb wir in diesem Teil der Welt über Julians und Katyas Haft in China sprachen. Wie es so weit kommen konnte. Die Antwort auf diese Frage wurzelte sechzehn Jahre in der Vergangenheit, als Julian gerade einmal sechs Jahre alt war. Damals lebte er mit seiner Familie auf einer französischen Militärbasis in Neu-Kaledonien, ziemlich in der Mitte gelegen zwischen der Ostküste Australiens und den Fidschi-Inseln im Pazifischen Ozean.

    Als kleiner Junge war Julian dort dem Tod einst sehr, sehr nahegekommen. Und sein Überleben und der Weg, den er seitdem bis an diesen Ort in Laos zurückgelegt hatte, war die logische Konsequenz daraus.

    Katya und Julian

    Es war ein sonniger Morgen, als der kleine Julian mit ein paar Freunden auf dem Gelände Fußball spielte. Der Tag wäre wie jeder andere verlaufen, wäre nicht versehentlich der Ball über den Zaun des Camps gesegelt. Doch ein missglückter Schuss eines Freundes veränderte alles.

    Julian sah, dass das elektrische Gatter des Zauns noch einen Spalt geöffnet war. Ihm blieben wenige Sekunden, bis es einrasten würde – Zeit genug, um noch schnell hindurchzuhuschen, glaubte das Kind. Es hetzte dem Ball hinterher und verließ sich darauf, dass der Sensor eine erneute Öffnung des Gatters auslösen würde, sobald er ein Objekt registrierte. So wie bei einer Fahrstuhltür, die sich wieder öffnet, wenn man mit dem Bein die Lichtschranke unterbricht. Mit einem flinken Satz wollte Julian die Technik überlisten, um keine Zeit zu verlieren. Stattdessen aber verlor er beinahe sein Leben.

    Der Sechsjährige war viel zu klein, um von dem Sensor überhaupt bemerkt zu werden. Ehe er auf der anderen Seite ankam, erwischte das Gatter ihn an der Brust, schleuderte ihn mit aller Wucht zurück gegen den Metallpfosten, klemmte ihn ein und drückte zu. Julian schrie auf vor Schock und Schmerz, die Augen hatte er weit aufgerissen. Er versuchte, sich zu befreien, irgendwie, indem er panisch mit Händen und Füßen strampelte. Doch gnadenlos verrichtete die Technik ihre Aufgabe und quetschte den Körper des Kindes gegen den Rahmen. Die Wachsoldaten am Gatter brauchten einige Augenblicke, um zu begreifen, dass dort ein Kind um sein Leben kämpfte. Es war ein ungleicher Kampf. Immer kraftloser wurden seine Bewegungen, bis seine Gliedmaßen nur noch schlapp hinunterbaumelten. Erst dann öffneten die Soldaten die Einfahrt und befreiten den schwer verletzten Jungen.

    Julians Spielkameraden waren losgelaufen, um die Mutter ihres Freundes zu informieren. Aus vollem Leibe brüllten sie die Frau an. Als deren Verstand endlich realisierte, dass etwas Fürchterliches mit Julian geschehen sein musste, rannte sie los, panisch vor Angst. Sie war Ärztin und stets darauf vorbereitet, hautnah mit dem Tod konfrontiert zu werden. Doch jetzt kämpfte ihr eigenes Kind um sein Leben. Es raubte ihr fast den Atem.

    Wenige Augenblicke später erreichte sie das Gatter. Julians Herz schlug nicht mehr, und seine Lungen konnten den Körper nicht mehr mit Sauerstoff versorgen. Verzweifelt begann seine Mutter mit der Reanimation. Rhythmisch drückte sie dem Kind mit den Handflächen auf den Brustkorb, zehnmal, zwölfmal. Dann drückte sie seinen Kopf in den Nacken, hielt ihm die Nase zu, öffnete seinen Mund und pustete mehrere Ladungen Sauerstoff in den Rachen des Kindes. Dann wieder die Stöße auf den Brustkorb. Die Sekunden verrannen. Julians Mutter gab nicht auf. Sie pumpte wie mechanisch um das Leben ihres Sohnes: fünf Minuten, sechs Minuten. Mit jedem Wimpernschlag schwand die Hoffnung.

    Julian hat heute keine Erinnerungen an diese Augenblicke, in denen er sich an der Schwelle zum Tod befand. Seiner Mutter sind sie immer noch allgegenwärtig. Jahre später erzählte sie ihm, dass er quälend lange sieben Minuten ohne Herzschlag blieb, bis das Organ wie durch ein Wunder seine Arbeit fortsetzte.

    Seine Mutter hatte schon nicht mehr daran geglaubt, aber Julian lebte. Doch seine Lunge war so gequetscht, dass er aus eigener Kraft nicht mehr atmen konnte. Er lag im Koma, und nur die Maschinen hielten ihn noch am Leben. Es gab wenig Grund zur Hoffnung. Die Mediziner bereiteten die Eltern darauf vor, dass ihr Kind die nächsten Tage wohl nicht überstehen würde. Diese Nachricht riss ihnen die Seele aus dem Leib. Warum, schoss es ihnen immer wieder durch den Kopf. Warum?

    Sie suchten in Gedanken nach einem Abzweig, der das Unglück ungeschehen gemacht hätte. Doch was sie sich auch zusammenspannen, am Ende führten alle Fantasien wieder auf den Pfad der Verzweiflung und an das Krankenbett des Jungen. Julian aber weigerte sich zu sterben. Extrem hartnäckig. Er weigerte sich tagelang, wochenlang, sogar monatelang. Unbeweglich, mit geschlossenen Augen und ohne ein Signal der Anstrengung kämpfte der Knirps mit einem irrsinnigen Willen um seine Zukunft.

    Seine Eltern lebten in all der Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Würde ihr Ältester je wieder aufwachen? Und wenn ja, in welchem Zustand wäre er dann? Könnte er noch sprechen oder alleine essen, würde er überhaupt noch wahrnehmen können, was um ihn herum geschieht? Oder würde er gefangen in seinem Körper zum Pflegefall, nur noch ein hilfloser Organismus ohne die Fähigkeit, selbstständig zu überleben? Die Ungewissheit über all diese Fragen marterte die Familie tagein, tagaus - bis zu jenem Tag, an dem das Schicksal Julian ein zweites Leben schenkte.

    Mehr als ein halbes Jahr nach dem Unfall geschah es. Julians Großmutter war zu Besuch und hatte vor der Glasscheibe des Krankenzimmers Stellung bezogen. Plötzlich schaute sie durch das Fenster und konnte kaum fassen, was sie sah: Der Junge öffnete seine Augen - plötzlich und ohne Ankündigung, als wäre nichts gewesen. Oma blieb vor Freude beinah das Herz stehen. Wer hat schon das Glück, einen solchen Moment zu erleben. Völlig überwältigt schnitt sie ein paar Grimassen in Richtung des Jungen. Freudentränen liefen über ihre Wangen.

    Julian erinnerte sich, dass er seine Großmutter anschaute und überhaupt nicht verstand, was los war. Er spürte einen Schlauch in seinem Rachen. Wie war der wohl dort hingekommen? Julian zog das Ding einfach heraus, ohne zu ahnen, welch große Symbolik diesem Moment innewohnte. Es war wie das Durchtrennen einer Nabelschnur. Es war der Tag seiner Wiedergeburt.

    Die Eltern konnten ihr Glück kaum fassen. Die monatelange Ungewissheit brach sich Bahn durch das dicke Fell seelischer Schutzmechanismen und mündete in einem Schwall aus Erleichterung und Dankbarkeit. Da saß dieser Racker nun vor ihnen, als ob nichts geschehen wäre, und bereitete ihnen die glücklichste Stunde ihres Lebens. Das Sprechen fiel ihm noch schwer, aber nach ein paar Tagen war alles wie vorher. Julian sprach, lief und aß wie vor dem Unfall. Körperlich und geistig hatte er das Drama schadlos überstanden.

    Spuren hinterließ das Unglück trotzdem. Auf einer Ebene, die Julians Leben nachhaltig beeinflusste. Er hatte sehr früh die Endlichkeit seines eigenen Daseins begriffen und verstanden, dass einem nur dieses eine Leben zur Verfügung steht, um Träume wahr werden zu lassen. Diese Erkenntnis nehmen viele Menschen für sich in Anspruch. Aber wer kann schon von sich behaupten, sie wirklich verinnerlicht zu haben und umzusetzen. Arrangieren sich die meisten von uns nicht einfach mit den Umständen und leben ein Leben, in dem es darum geht, existenziell einfach einigermaßen abgesichert und unfallfrei durchzukommen?

    Ich glaube, dass Julian privilegiert ist wegen dieser extremen Erfahrung, die er in seiner Kindheit durchgemacht hat. Sie erleichtert es ihm und anderen Betroffenen, Grenzen zu überschreiten. Vornehmlich die eigenen. Das finde ich beneidenswert. Hätte ich deswegen mit ihm tauschen wollen? Sowieso nur, wenn mir jemand versichert hätte, dass die Geschichte gut ausgeht.

    Nachdem Julian begonnen hatte, sich mit solchen Gedanken zu beschäftigen, schrieb er eine Liste von Dingen und Abenteuern, die er unbedingt erleben wollte. Manche Dinge waren schnell erledigt: ein Fallschirmsprung oder die Pilgerreise über den Jakobsweg, die er kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag unternahm. Doch Julian schmiedete damals auch größere Pläne wie die Besteigung des Mount Everest, einen Fußmarsch durch die Antarktis, das Durchschwimmen des Ärmelkanals oder einen Spaziergang auf dem Mond. Der rechte Zeitpunkt würde sich schon ergeben.

    Als Kind eines Militärangehörigen hatte er das Leben als ständigen Aufbruch zu neuen Horizonten kennengelernt. Geboren in Frankreich wuchs er auf in Neu-Kaledonien, Japan, Neuseeland und Australien. Nie in seinem Leben hatte Julian an einem Ort mehr Zeit verbracht als drei Jahre. »Wenn du so herumkommst, dann fühlst du dich überall zu Hause«, sagte er.

    2013 studierte er in Edinburgh. Nach dem Abschluss fragte er sich, was nun kommen könnte. Peking, Moskau und São Paulo faszinierten ihn. Unschlüssig griff er zu einer dänischen Zwei-Kronen-Münze. Sollte das Geldstück die Krone zeigen, würde er nach Peking ziehen, andernfalls bekäme Moskau seine Chance. Er warf die Krone, schrieb sich für einen Sprachkurs an einer Universität ein und zog nach China.

    An der Uni traf er Katya. Sie war Russin und nahe der ukrainischen

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