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TRECKERTRAUMA: Krimikomödie
TRECKERTRAUMA: Krimikomödie
TRECKERTRAUMA: Krimikomödie
eBook327 Seiten4 Stunden

TRECKERTRAUMA: Krimikomödie

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Über dieses E-Book

Marge Siebenthal ist nach ihrem Wellness-Urlaub in der Lüneburger Heide überdurchschnittlich entspannt.
Doch das ändert sich schnell, als sie zuerst ihr Wohnmobil in einen Graben steuert, weil sie jemandem ausweichen muss, den außer ihr scheinbar niemand gesehen hat, und kurz darauf auch noch in einem Schuppen ein menschliches Skelett findet, welches kurz darauf verschwunden ist. Als die Polizei eintrifft, hat sie einige Mühe, zu beweisen nicht verrückt zu sein.
Überraschend trifft sie auch wieder auf Adrian Faber, den Quiz-Freak, den sie auf einem Campingplatz in der Holsteinischen Schweiz kennengelernt hatte. Gemeinsam mit ihm versucht sie, die seltsamen Vorfälle zu enträtseln … sofern sie nicht von Traktoren überfahren wird. Mit Skeletten am Steuer.
Der etwas andere Regionalkrimi – eine Wechseljahre–Odyssee durch das Weserbergland, voller skurriler Charaktere, Skelette und mörderischer Gärtnereien.
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum20. Jan. 2023
ISBN9783958357440
TRECKERTRAUMA: Krimikomödie

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    Buchvorschau

    TRECKERTRAUMA - Inka Neumarkt

    Prolog

    Der Trecker kam näher. »Ich habe geklopft.« Die riesigen Reifen wirkten immer größer, je näher sie kamen. Marge sprach lauter. »Ganz oft habe ich bei Ihnen geklopft.« Von vorn wirkte der Traktor wie ein bösartiges Insekt, ein grünes Monster, eine Killer-Heuschrecke. Mit weißen Lampenaugen. Zu allem Überfluss prangte auf der Nase ein albernes Wappen mit einem hüpfenden Reh. »Glauben Sie mir doch! Auch laut, ich habe auch sehr laut geklopft …« Aus dieser Perspektive hatte Marge das Fahrzeug noch gar nicht gesehen. Sah der Fahrer denn nicht, dass jemand vor ihm stand? Er kam immer noch näher. Gefährlich nahe. Genaugenommen wurde es gerade platzmäßig ziemlich knapp. Marge reckte sich, wippte auf die Zehenspitzen, um vielleicht einen Blick in die Fahrerkabine werfen zu können. Auf den Fahrer. Was ihr schließlich gelang. Und wie von allein sanken ihre Arme nach unten. Über dem Lenkrad nickte ein Totenschädel, die leeren Augenhöhlen schienen sie anzustarren. Nicht mehr winken, Marge, das hat keinen Zweck. Der Trecker würde nicht stoppen.

    Kapitel 1

    Das Schlimmste hatte Marge hinter sich: ihre Ehe, ihren fünfzigsten Geburtstag und die Lüneburger Heide. Vor ihr lagen die unendlichen Weiten einer neuen, unbekannten, aufregenden … Heidschnucke? Was sollte das denn jetzt? Marge brachte den Wagen zum Stehen. Zum Glück rechtzeitig. Was keine Selbstverständlichkeit war. Bei ihren Fahrkünsten. Angeblich gab es Menschen, die gern Auto fuhren. Marge nahm die Hände vom Lenkrad. Die Heidschnucke nickte. Sie stand da, mitten auf der Straße, und wartete auf ihre Kollegen, die, wie Marge nun bemerkte, bereits am Straßenrand herum blökten. Großartig. Die Lüneburger Heide würde sie also irgendwann hinter sich haben. Mäh!, sagte das Schaf vor dem Wagen, sah Marge eindringlich an, nickte erneut, und drehte sich ganz langsam um die eigene Achse, bis es ihr den zottelhaarigen Schnuckenpo zugedreht hatte. Genau so blieb das Vieh stehen. Na, vielen Dank! Es war ja nichts Persönliches. Das mit der Lüneburger Heide. Marges Bedürfnis, die Region möglichst schnell hinter sich zu lassen, hatte nichts mit dem schwarz-weißen Sandboden zu tun oder mit den lila blühenden Heidekraut-Teppichen, über die also gerade eine Schafherde getrampelt war, um genau hier, genau vor ihr, die Straße zu überqueren. Plüschige, wollige, haarige Heidschnucken. Die ganz sicher noch nie etwas von Waxing gehört hatten. Oder Sugaring. Was angeblich viel angesagter war und viel angenehmer. Marge ruckelte ein wenig auf ihrem Sitz hin und her. Ihre Bikini-Zone brannte nicht mehr, aber der Gedanke daran war noch da. Genau wie die Frage, warum man weiterhin von Bikini-Zone sprach, wenn man doch vollkommenen Kahlschlag betrieb. Wie sähe denn dann der Bikini aus? Sie schüttelte sich. Dachte an das Geräusch, das die Zucker getränkten Baumwollstreifen beim Abreißen angeblich nicht gemacht hatten, und fast standen ihr die Haare auf den Armen zu Berge. Wenn da noch welche wären. Warum strickte man daraus eigentlich keine Pullover? Aus den ganzen Haaren, die man den Gästen im Beauty-Hotel Heide Queen gierig, brutal und für sehr viel Geld vom Leib riss? Der haarige Heidschnucken-Schwanz wackelte hochkonzentriert hin und her. Sie nutzten noch andere Methoden im Beauty-Hotel Heide Queen, um den Gästen klarzumachen, dass diese ihr Geld nicht sinnlos verschleudert hatten. Es wurde geknetet und drainiert, entschlackt und stimuliert. Marge hatte mal davon gehört, dass man bei wilden SM-Spielchen ein Stopp-Wort vereinbaren würde, mit dem man notfalls sofort alles abbrechen konnte, falls es einem zu schmerzhaft wurde. Die Beauty-Botschafter der Heide Queen würden ein solches Stopp-Wort lächelnd überhören. Sie bauten auf das altbewährte Prinzip: Nur Medizin, die bitter schmeckt, kann funktionieren. Sie hoben ihre perfekt gestylten Augenbrauen nicht einmal an, wenn sie mit ihren Schönheitsbehandlungen loslegten, die deutlich von der Inquisition inspiriert worden waren. Ihre sehr guten Behandlungen, wer würde da widersprechen. Mäh!, sagte das Schaf. Na bitte. Bald wären alle Schäfchen auf die andere Seite getrottet. Dann könnte es weitergehen. Sie waren gründlich in diesem Schönheitshotel und verließen sich darauf, dass man nicht zwischendurch stiften ging, wenn man das Komplett-Paket gebucht hatte, da eine Rückerstattung des Reisepreises ausgeschlossen war, sofern man mit der Kur einmal angefangen hatte. Marge bewegte den Kopf hin und her, ließ ihre Nackenwirbel knacken. Das hatte sie früher auch nicht gekonnt. Vor den Massagen. Dabei hatten sie so nett ausgesehen, die zarten jungen Frauen in ihren frisch duftenden, türkisfarbenen Overalls. Noch drei Schafe mussten über die Straße, und das Aufsichtsschaf musste natürlich auch weg, dann konnte es weitergehen. Marge hatte sich das komplette Beauty-und-Wellness-Paket zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Eigentlich hatte sie diese Wellness-Tortur mit ihrer besten Freundin Arielle durchstehen wollen. Deren runden Geburtstag hatten sie letztes Jahr auch mit einer Kurzreise gefeiert, allerdings in ein Schlemmer-Hotel, das war dann irgendwie doch etwas anderes gewesen. Ja. Arielle war letztes Jahr fünfzig geworden. War also älter als Marge. Was die Sache bei genauerer Betrachtung noch ein kleines bisschen frustrierender machte. Wenn sich Marge durch diese Dinge noch herunterziehen lassen würde. Würde sie nicht mehr. »Bähhh!«, machte sie, bevor die Wächter-Schnucke dazu kam, die sich wieder ganz langsam umdrehte, Marge mit ihrem schwarzen Kopf zunickte. Die Sache? Das war die Unverschämtheit, mit der sich ihre sogenannte beste Freundin Arielle den Zusatz die Schlampe redlich verdient hatte: nämlich die Bumserei, die sie mit ihrem Mann, also Marges Mann, im Wohnmobil veranstaltet hatte. Ohne sich die Hüfte auszurenken. Im Wohnmobil der Eheleute Marge und Clemens Siebenthal, seines Zeichens Dr. med. und der Arsch. Jahrelang hatte das Wohnmobil auf einem Campingplatz am Gorinsee gestanden und Marge hatte angenommen, dass sich ihr Mann dort im Planen fiktiver Reisen erging, oder Modellbahn-Magazine las, oder in der Nase bohrte, oder was Männer eben taten, wenn sie allein waren und sich mal so richtig entspannen wollten. Er hatte sich entspannt. Aber nicht allein. Sondern mit seiner Sprechstundenhilfe, und das war ein so unverschämtes Klischee, dass Marge einfach nie darauf gekommen wäre. Auch deshalb nicht, weil sie es Arielle, der Schlampe, nicht zugetraut hätte. Nicht? Sei ehrlich, Marge. Die Heidschnucke vor ihr auf der Straße rührte sich nicht. Glotzte einfach. In das Wohnmobil, in dem Marge nun saß, sich über die Haare strich. Noch einmal. Sie würde eine Weile brauchen, um sich an ihren neuen Look zu gewöhnen, ihre neue Frisur. Sie hatte sich nicht nur von sämtlicher Körperbehaarung getrennt, sondern auch von einer Menge Haupthaar, hatte ihre langen dunklen Haare kurz schneiden lassen, eine Typveränderung war in Trennungsphasen schließlich nicht die schlechteste Lösung, und dieser Schnitt sollte sie, nach Aussage der türkisfarbenen Overalls, deutlich jünger machen. Oben waren die Haare sehr kurz, an den Seiten sprangen ein paar lockige Strähnen herum. Sie sah die Heidschnucke an. Deren Haare waren oben auf dem Kopf ziemlich kurz, einige lockige Strähnen umspielten die Seiten. Marge strich sich über den Kopf. Wie fünfzig sah die Heidschnucke wirklich nicht aus. Dazu trug das Tier Wolle, nicht Leinen, wie Marge. Die hatte sich, unter anderem, ein perfekt geschnittenes dunkelrotes Leinenkleid aus der Hotelboutique gegönnt und würde sich durch zerstörte Ehen, verlogene Freundinnen oder was auch immer noch kam, nicht mehr aus der Ruhe bringen lassen. Weil sie ein Buch gelesen hatte. Natürlich hatte Marge in ihrem Leben bereits etliche Bücher gelesen, aber im Aufenthaltsraum des Hotels hatte sie, man mag das Zufall oder Schicksal oder schlampig aufgeräumt nennen, ein Buch über den perfekten Weg zu Achtsamkeit, Gelassenheit und Selbstliebe entdeckt, und sich damit sehr, sehr intensiv beschäftigt. Zwischen den ganzen Anwendungen und dem, zugegeben, sehr guten Essen. Den noch besseren Getränken. Die zwar nicht Teil der offiziellen Schönheitskur waren, bei der schwor man auf gequirltes Gemüse, aber in einem kleinen Lokal nahe dem Hotel sehr stilvoll ausgeschenkt worden waren. Deren Geist hatte vielleicht auch ein ganz klein wenig zu ihrer Gelassenheit beigetragen. Marge glühte gewissermaßen vor innerer Wärme und Achtsamkeit. Und Resilienz. Was, das hatte Marge auch aus dem Buch, im Grunde nichts anderes hieß als: Lasst mich in Ruhe mit eurem Mist. Die Ereignisse der letzten Tage machten ihr absolut nichts mehr aus. All das konnte ihr gar nichts mehr anhaben, war fern von ihr, betraf sie nicht … Verdammt! Wann würde dieses blöde Schaf endlich seinen dämlichen Hintern von der Straße bewegen? Sie schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. War da nicht bei allen Autos die Hupe? Das Schaf wirkte nicht so, als ob es eine Hupe gehört hätte. Könnte sie irgendwann auch noch mal weiterfahren? Weit weg von der Heide Queen. Aber die Sache mit Clemens, dem Arsch, hatte sie geklärt. Auch dass sie vor nicht einmal einer Woche über eine Leiche in einem Erdbeerwagen gestolpert war und mit einem Mörder in einem Wohnwagen gesessen hatte, schien ihr wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit. Das stand gewissermaßen auf einem anderen Blatt. Eines, das der Wind längst weit, weit fortgeweht hatte. Komm schon, du Schaf, geh weiter! Hü! Oder was sagte man da? Wo war bloß die dämliche Hupe? Clemens, der Arsch, hatte gesagt, er würde sie verklagen. Wegen des Wohnmobils, in dem sie also nun irgendwo, ganz kurz vor Ende der Lüneburger Heide, herumstand. Das sie dem Arsch unter dem Hintern weggezerrt hatte. Weil der sein Ding in dem Ding … Guck nicht so, du Schnucke, so war es schließlich. Weil Marge ihn dabei erwischt hatte, wie er mit Arielle, der Schlampe, im Wohnmobil rumgepimpert hatte. Marge hatte sich das Gefährt geschnappt, war damit abgehauen, und war in einige Turbulenzen geraten. Schließlich war ihr Mann, den der Verlust des Wohnmobils härter getroffen hatte als die Flucht seiner Frau, tatsächlich noch hinter beiden her gefahren, zu einem Campingplatz in der Holsteinischen Schweiz, traf sie dort allerdings nicht mehr an. Weil er zu spät kam. Was alle Lisa-Marie zu verdanken hatten. Die zwar ebenfalls Sprechstundenhilfe in der Praxis Siebenthal war, aber nicht mit dem Doktor schlief. Sie war auf Marges Seite. Irgendwann hatte sich Marge dazu herabgelassen, mit Clemens, dem Arsch, zu telefonieren. Sehr deutlich hatte sie ihm klargemacht, dass er ihr das Mobil jetzt eine Weile überlassen musste, da sie es nämlich sonst zu Klump fahren würde. Über diese Möglichkeit hatte sie davor bloß ausgiebig nachgedacht, sie tatsächlich auszusprechen war ein hilfreicher Schritt in die richtige Richtung gewesen. Offenbar brachte sie ihr Anliegen sehr überzeugend vor, denn am Ende hatte ihr Mann ein ergebenes »Also gut« durch die Zähne gezischt. Nach dem Auflegen hatte er garantiert gesagt, dass sie schon wieder vernünftig werden würde. Würde sie! Nicht wahr, Schnucki? Mäh! Sie würde sich von ihm trennen, da gab es keine zwei Meinungen. Die Heidschnucke legte den Kopf schief und trottete von der Straße. Fein. Erst einmal würde Marge also weiterfahren und irgendwo ein wenig Urlaub machen. Nachdem sie den … oh … nachdem sie den Schäfer über die Fahrbahn gelassen hatte. Der ihr sehr nett zuwinkte. Strahlend lächelte. Ein ziemlich junger Schäfer, sonnengebräunt, muskulös. In einer sehr engen Hose. Marge lächelte zurück. Und würgte den Wagen ab, den sie gerade angelassen hatte. Mist. Aber das Ding war riesig. Also das ergatterte Wohnmobil, das sie nun unter dem Hintern hatte, obwohl sie Campen nicht ausstehen konnte. Müsste sie diesen Flugzeugträger noch sehr viel länger herum steuern, könnte sie kein noch so flotter Haarschnitt jünger als achtzig machen. Am nächsten Ort, der ihr für einen Aufenthalt angenehm erschien, würde sie garantiert nicht im Wohnmobil übernachten. Das Teil gehörte auf einen Hotelparkplatz und sie in ein richtiges Bett. Irgendwo. Irgendwann. Jetzt ging es aber erst einmal weiter. Denn vor ihr lagen die unendlichen Weiten einer neuen, unbekannten, aufregenden Zukunft. Sie war ausgeruht, entspannt und schön wie nie. Zumindest ging sie einfach mal davon aus. Alles war gut. Fehlte nur noch der passende Soundtrack. Den sie sich eingeschaltet hätte, wenn sie gewusst hätte, wie. Irgendwo hatte der Bordcomputer vermutlich auch eine Radiofunktion. Vermutlich gleich neben der Hupe. Warum durfte man heutzutage eigentlich nicht bloß irgendwo auf einen Knopf drücken, warum musste man alles mit einem Computer machen? Bestimmt gab es irgendwann auch digitale Schnürsenkel. Doch nur ganz kurz kräuselte Marge die Stirn, besann sich schnell wieder ihrer neuen, positiven Lebensausrichtung, und begann zu singen. Von Hotel California bis Atemlos, über My heart will go on und Mercedes Benz, von Hänschen Klein über Body Count zu Fiesta Mexicana – sie ließ wirklich nichts aus und wäre wohl selbst ein wenig irritiert von ihrem Repertoire gewesen, wenn sie nicht völlig entspannt gewesen wäre, heiter und ausgeglichen. »… aus der Sternenmitte – bin ich der dritte – von links …«

    Sie zuckte auch nur ganz sacht zusammen, als sie irgendwann einen Trecker am Straßenrand stehen sah. Obwohl sie gerade erst ein Erlebnis mit einem Treckerfahrer hinter sich hatte, das man nicht unbedingt an die großen Glocken, äh, die große Glocke hängen musste. Schnell schüttelte Marge die Erinnerung fort und sang weiter. »… und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt …« oh, ja, sie liebte diesen Refrain »… und bring die Liebe mit – von meinem Himmelsritt …« Sie warf noch einen letzten Blick auf den Trecker, »… denn die Liebe, Liebe, Liebe …« schaute dann wieder nach vorn, »… Liebe, die …« auf die Straße. »Scheiße!« Marge schnappte nach Luft. »Was? Wie?« Sie kreischte vor Schreck. Wieso stand dort plötzlich jemand? Direkt vor ihr. Verdammt! Ihre Hände schlossen sich so fest ums Lenkrad, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, ihre Beine zuckten unkontrolliert, sie roch ihren Schweiß, hörte sich keuchen. Und riss das Wohnmobil von der Straße. Fuhr in den Straßengraben, der zum Glück nicht tief war, eher ein Rinnstein. War das ein Knall? Hatte sie nicht einen Knall gehört? Hatte sie nicht gerade einen Knall gehört, wie bei einem Aufprall? Oh, Gott! Sie hatte jemanden umgefahren. Ihre Hände umklammerten noch immer das Lenkrad. Verdammt! Reglos saß sie im Wagen, starrte durch die Frontscheibe. Starrte. Reglos. Das ging doch nicht. Sie musste etwas tun. Aussteigen, nachschauen, was passiert war. Wenn sie jemanden umgefahren hatte, musste sie aussteigen und nachsehen und helfen. Einen Krankenwagen rufen. Sie konnte nicht einfach hier sitzen bleiben. Sie konnte. Sie konnte. Scheiße! Sie konnte sich nicht rühren. Soweit es ihr Blickfeld zuließ, betrachtete sie die Kabine. Hier hatte sich nichts verändert. Kein Airbag war aufgeploppt, es war ihr auch nichts auf den Kopf gefallen, einzig die Flasche Kräuterlikör aus der Heide war vom Beifahrersitz gerutscht, lag nun im Fußraum davor, unversehrt. Wie gern würde sich Marge mit ihren unbehaarten Armen über ihre unbehaarten Beine streichen, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren. Aber sie konnte sich einfach nicht bewegen. Bloß ihre Unterlippe zitterte. Wie verrückt. Ja, verrückt schien das richtige Wort zu sein. Sie würde sich gern den Schweiß von der Stirn wischen. Wirklich. Sie konnte sich nicht rühren. Komm schon, Marge, atmen, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vier… Vergiss es! Selbst wenn sie bis dreihundertsechsundzwanzig zählte, säße sie noch immer in Schock-Starre auf ihrem samtweich gepeelten Hintern. Waren das Tränen oder Schweißtropfen, die ihr über die Wangen liefen? Was würde geschehen, wenn sie sich nie wieder bewegen könnte? Würde sie dann ewig hier sitzen, für immer erstarrt, mitten auf der Straße, verhungern, nein, eher verdursten, während sich der Mensch, den sie umgefahren hatte, vor ihrem Kühlergrill zu Tode röchelte? Marge ging fest davon aus, dass es derart mit ihr enden würde. Doch dann riss jemand die Wagentür auf, und fragte, ob alles in Ordnung sei.

    »Scheiße, nein!«

    Als ihr auffiel, dass sie brüllen konnte, konnte sie sich auch wieder bewegen. Sollte ihr das zu denken geben? Zumindest nicht jetzt. Marge wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich zur geöffneten Tür. Das war doch der Typ, der neben dem Trecker gestanden hatte. Neben einem verdammten, beschissenen Trecker, weshalb sie überhaupt hingesehen hatte, also weg von der Straße. Nur seinetwegen war sie im Graben gelandet. Zornig funkelte sie ihn an. Kurze dunkelblonde Rastasträhnen wippten über seiner hohen Stirn, sein Gesicht war etwas zu fleischig und etwas zu rot. Nach einem Blick auf die Hände, die er ihr helfend entgegenstreckte, hüpfte Marge schnell allein aus dem Wagen. Nun hielt er ihr die rechte Hand zum Schütteln entgegen. Eine Pranke mit schwarzen, rissigen Fingernägeln, antiken Ölflecken und einer ungestillten Sehnsucht nach Pflegecreme. Marge knickte leicht in den Knien ein, stützte sich schnell und demonstrativ mit beiden Händen am Wohnmobil ab. Nickte zum Gruß. Er steckte seine Hand in die Tasche. Na, ging doch. Was denn passiert sei, wollte er wissen. Und als Marge sagte, sie habe jemanden überfahren, wurde ihr gleich wieder ganz komisch.

    »Ich hab mir auch schon mal überlegt, mit einem Wohnmobil rumzufahren …«, sagte der Mann. Zitternd ging Marge um den Blonden herum, der offenbar nicht begriffen hatte, was ihm gerade mitgeteilt worden war, und sah sich vor dem Wohnmobil um. Aber dort war niemand, lag niemand auf der Straße oder im Graben. Sie untersuchte die Schnauze des Campers. Auch dort war nicht das Geringste zu sehen. Wie war das möglich? Sie hatte den Knall doch ganz deutlich gehört. Oder war das Einbildung gewesen? Aber ganz sicher hatte sie jemanden auf der Straße gesehen. Wirklich, Marge? Es deutete nämlich absolut nichts darauf hin.

    »… also nicht unbedingt mit so einem riesigen Geschoss. Schau mal, wenn man so einen umgebauten VW-Bus hat? Man braucht ja nicht viel. Ist dann ja schön. Mensch, Urlaub. Bisschen Weißbrot, bisschen Wein. Sagen die Leute so.«

    Marge hörte nicht richtig zu, nicht nur wegen des Ohrensausens, das ihr leichtes Schwindelgefühl begleitete. Noch immer stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Gleichzeitig war ihr eiskalt. Sie stand unter Schock. Das war ihr durchaus bewusst.

    »Direkt an den Strand. Wo man das machen kann. Im Urlaub sind ja Leute immer so nett. Ich hab noch nicht so viel Urlaub gemacht. So oft bin ich noch nicht, ich bin noch nicht …«

    Sie würde nicht mehr in das Wohnmobil steigen können. Auf gar keinen Fall. Sie sah durch die Windschutzscheibe, in den Innenraum, sofort wurde das Zittern stärker.

    »Oder Oliven. Magst du Oliven?«

    Müsste sie nicht um den Wagen herumgehen? Um sich zu vergewissern, dass nicht doch irgendwo jemand lag? Ihr war schwindelig. Was sollte sie denn jetzt machen? Sie stand hier irgendwo mitten in der Pampa, und ihr wurde fast schlecht, wenn sie den Campingwagen bloß ansah.

    »Und du?«

    »Was?« Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass der redselige Mann inzwischen zu ihr gekommen war, mit ihr vor dem Wohnmobil stand, direkt neben ihr, und es fiel ihr auch nur auf, weil er mit seiner Schulter gegen ihre Schulter stieß. Kräftig und kumpelig. Eine Geste, die sie nicht einmal bei Menschen mochte, die sie gut kannte. Angewidert verzog sie das Gesicht. Was aber offenbar nicht weiter auffiel.

    »Ich bin Jörg. Jörg Römer.« Fröhlich lächelnd streckte er ihr die Hand hin. Schon wieder. »Und wie heißt du?«

    »Siebenthal. Marge Siebenthal.« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust.

    »Toll«, dröhnte Jörg und klopfte ihr auf die Schulter. Marge zuckte zusammen.

    »Also, Marge mit dem Wohnmobil. Wo willst du denn hinfahren?«

    Wenn sie das wüsste. Aber dass sie keine Antwort auf diese Frage parat hatte, störte Jörg nicht im Geringsten, er redete ohnehin bereits weiter.

    »Gibt ja viele schöne Ecken. Überall. Muss man sich alles mal ansehen. Irgendwann. Heute aber nicht. Da bin ich ja auch nur mit dem da unterwegs.« Er nickte rüber zum Trecker, der auf der anderen Straßenseite im Graben stand. »Also nicht mehr unterwegs. Der sollte, ich meine, ich bin da nur zum Probieren. Den hätte ich beinahe günstig. Der sollte eigentlich, ich sag jetzt mal: Schrottplatz. Der Typ, dem der gehört. Hatte der vor. Ich hab gesagt, den krieg ich doch wieder hin, ich krieg die alle immer wieder hin. Jetzt will der den wieder …«

    Wieder setzte das Summen in Marges Ohren ein. Anhand der Satzsplitter, die trotzdem noch zu ihr durchdrangen, kam Marge schließlich dahinter, dass Jörg den Trecker für einen Kumpel repariert hatte. Er hatte gerade eine Probefahrt gemacht, und ihm war der Sprit ausgegangen.

    »… Tankanzeige nicht so wichtig, gewissermaßen Spielkram …«

    »Ich verstehe.« Allmählich bekam Marge das Zittern unter Kontrolle. Sie schüttelte ihre Hände, ließ die Schultern kreisen, spürte, wie ihre Körperwahrnehmung zurückkehrt. Das hatte nicht nur Vorteile. Leider spürte sie nämlich auch, wie furchtbar ausgetrocknet ihr Mund war, die Zunge klebte am Gaumen und beim Schlucken spürte sie ein leichtes Kratzen im Hals. Außerdem musste sie mal aufs Klo. Ziemlich bald. Im Camper gab es notfalls eine Toilette. Sie sah zum Wagen, sah schnell wieder weg. Keine Chance. Das Ding würde sie nicht mehr betreten.

    »Schwager. Jetzt mal.« Jörg zog sein Telefon aus der Tasche. Schön, er wollte also seinen Schwager anrufen. Irgendwann tat er es sogar. Zum Glück war auf der Straße, an der sie herumstanden, fast kein Verkehr, und an den Seiten war reichlich Platz. Um zu warten. Auf den Schwager. Der kommen sollte, um sie abzuholen. Zumindest nahm Marge an, dass das beim Telefonat abgemacht worden war. Hier abholen. Marge sah sich um. Wo war sie hier eigentlich? Sie hatte gesungen und war gefahren, war gefahren und hatte gesungen, dabei hatte sie nicht sonderlich auf die Gegend geachtet, durch die sie fuhr. Schon seit langer, langer Zeit fuhr sie nicht mehr durch die Heide. Ländlich sah es aus. Mehr war ihr nicht aufgefallen, es war ihr auch nicht wichtig gewesen, Hauptsache, die Straße war breit genug für den Camper, und es war nicht viel los. Sie waren von Feldern umgeben, und in der Ferne erhoben sich sanft ein paar Berge. Oder Hügel? Niedrige Berge, entschied Marge, auf die hier und da ein Städtchen getupft war, auch mal ein Wald. Wieder kam Jörg ihr reichlich zu nah, drückte ihr eine Hand gegen das Schulterblatt und schob sie über die Straße. Zum Trecker. Es war gut, nicht mehr direkt neben dem Camper zu stehen, noch besser wäre es, wenn Jörg endlich aufhören würde, zu reden. Sehnsüchtig sah sie jedem Auto entgegen, das die Straße entlang kam. Wie lange würde der Schwager wohl brauchen? Ungeduldig trippelte Marge auf der Stelle. Konzentrierte sich auf das Summen im Ohr. Blickte sehnsüchtig die Straße entlang. Da! Endlich, endlich kam ein dunkelblauer, sehr neuer Wagen angefahren und hielt direkt neben dem Trecker. Schwungvoll ging die Fahrertür auf, und ein sehr gepflegter Mann mit kurzen, nussbraunen Haaren stieg aus, ging schnurstracks auf Marge zu.

    »Ich bin Heiko Brettschneider«, sagte er mit einer Stimme aus Lebkuchen, und hielt ihr die Hand zur Begrüßung hin. Die Marge sofort schüttelte.

    »Marge Siebenthal«, sagte sie. »Schön, dass Sie da sind.«

    »Wie meinen Sie das?« Das war doch wohl eine total blöde Frage. Er sah ihr tief in die Augen. Mit so einem Blick, der sogar nervös machte, wenn man bereits nervös war. Ein Kollege von Clemens, dem Arsch, hatte diesen seltsamen Blick auch drauf gehabt. Ein Neurologe, wenn sich Marge richtig erinnerte. Einmal war er bei ihnen zum Abendessen gewesen, und immer wenn er sie ansprach, hatte er diesen irritierenden Blick

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