TIBO: Der Esel mit dem grünen Ohr
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Buchvorschau
TIBO - Daniela Streitenberger
KAPITEL 1
TIBO UND SEINE FREUNDE
Das ist Tibo. Der kleine Esel. Auf den ersten Blick ein ganz gewöhnliches Maultier. 4 Beine, 1 Schwanz, silbergraues Fell, 2 Augen und 2 Nüstern, auch 2 Ohren gehören dazu.
Doch halt! Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass eines der beiden Ohren grün ist. Richtig grün. Das ist für einen Esel eine ziemlich einzigartige Besonderheit.
Tibo lebt auf einem Bauernhof mitten im Grünen. Ringsum Wiesen und Felder. Auch einige andere Tiere wohnen dort.
Da sind zum Beispiel Tiffy und Hannelore. Die beiden Hühnerschwestern.
Für Tiffy ist es das Wichtigste und Schönste der Welt, sich hübsch zu machen. In einer alten Damenzeitschrift, die ein Windsturm ihr einst in den Hühnerstall geweht hat, studiert sie die neusten Schminktipps. Hannelore strickt den lieben langen Tag Wollsocken für den Winter.
Nebenan auf der Weide steht Glorietta die Kuh.
Das Singen ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Ab und an gönnt sie sich eine Pause und legt sich auf die Wiese. Die Sonnenstrahlen und das saftige Weidegras genießt sie dann ausgiebig.
Auch Berta das Schwein ist eine Bewohnerin des Hofes.
Sie ist schon etwas in die Jahre gekommen und deshalb am liebsten für sich alleine in ihrem Stall. Früher war sie als schönstes Schwein des Dorfes mehrmals ausgezeichnet worden. Über ihrem Strohlager hängen die Medaillen mit der blauen Schärpe. Oft sieht sie hinauf und erinnert sich mit melancholisch an die früheren Zeiten.
Der Chef unter den Tieren ist Sir Henry. Ein wunderschöner, großer, dunkelbrauner Hengst.
Er hat die Obhut über seine Mitbewohner und achtet mit liebevoller Sorgfalt darauf, dass immer alles Rechtens zugeht. Er kann streng sein, wenn es darauf ankommt. Doch tut er das meistens deshalb, damit niemandem etwas Schlimmes zustößt.
Ach ja, und da ist auch noch Freddy die Spitzmaus.
Er ist ziemlich frech und er hat ein großes Herz. Auf seinen täglichen Streifzügen nach Essbarem, bekommt er so einiges mit, was auf dem Bauernhof so vor sich geht. Manchmal muss er ganz schön aufpassen, dass er nicht in eine der Mausefallen tappt. Aber der kleine Kerl ist schlau. Er kennt die Schlupfwinkel und Geheimgänge, die ihm immer wieder als Ausweg und Versteck dienlich sind. Seine Lieblingsstücke sind seine Sonnenbrille und die ärmellose Jeansjacke, die er von einer entsorgten Kinderpuppe im Müll gefunden hatte.
Tibo hat schon immer ein grünes Ohr. Allerdings wusste er selbst nichts davon, denn in einem Stall gibt es keinen Spiegel. Irgendwann kam der Tag, an dem er das erste Mal nach draußen auf den Hof ging.
Voller Aufregung streckte er zuerst seine Nase vorsichtig durch die Stalltür, dann schon etwas mutiger seinen Kopf und schließlich stand er ganz an der frischen Luft. Herrlich. Mit kleinen Schritten bewegte er sich vorwärts. Erst langsam und dann immer schneller trabte er über den Hof. Bis er auf einmal ein ziemlich merkwürdiges gackern hörte: „Gack. Gack. Gack. Sieh nur! Gack. Gack. Gack. Der hat ein grünes Ohr! Gack. Gack. Gack. Wie komisch. Gack. Gack. Gack." Tibo blieb stehen und sah sich suchend um. Da er niemanden finden konnte, auf den diese Beschreibung passte, zog er weiter.
Doch nach ein paar Metern vernahm er erneut ein seltsames muhen: „Muhuhuuuu! Was ist denn daaaaas! Muhuhuuu. Hat man sowas schon gesehen? Muhuhuuuuu!" Glorietta die Kuh stand auf der Weide am Zaun und prustete laut vor sich hin. Wieder blieb Tibo stehen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum sie so laut lachte. Also ging er davon.
Als er am Schweinestall vorbeikam, grunzte jemand vor sich hin: „Oink. Oink. Sowas, oink, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Oink. Oink. Die Welt, oink, wird immer verrückter. Jetzt laufen schon Esel mit grünen Ohren rum. Oink. Oink." Berta das Schwein war offensichtlich fassungslos. Aber warum? Was hatte sie nochmal gesagt? Esel und grünes Ohr. Ja, Tibo war ein Esel. Aber er hatte kein grünes Ohr. Erneut sah er sich um und suchte nach Zutreffendem. Vergeblich. Etwas verunsichert setzte er seinen Weg fort.
„Sag mal, warum hast du denn ein grünes Ohr?, fragte plötzlich eine Stimme. Der kleine Esel blieb stehen. „Ja, genau dich meine ich.
„Mich?, fragte er und blickte in die Augen von Sir Henry dem Hengst. „Ich habe doch kein grünes Ohr.
„Doch. Sieh her. Das große Pferd deutete mit seinem Vorderhuf auf eine Pfütze auf dem Boden. Tibo beugte seinen Kopf leicht nach vorne und erkannte sein Spiegelbild. Tatsächlich! Sein linkes Ohr war richtig grün. Nun wurde ihm auch klar, dass all die anderen Tiere deshalb gelacht hatten. Und er schämte sich. Er schämte sich so sehr, dass er sofort in seinen Stall zurückgaloppierte und sich versteckte. Zusammengekauert in einer Ecke, rollten ihm dicke Tränen über die Wangen. „Niemand mag mich mit so einem hässlichen grünen Ohr
, dachte er. „Ich habe keine Freunde."
„Hey! Was isn mit dir los?, piepste eine Stimme unter dem Heu hervor. „Warum biste denn so traurig?
Tibo blickte in die Richtung aus der die Laute kamen. Vor ihm am Boden saß Freddy die Spitzmaus. Er hatte sich ein großes Stück Käse aus der Bauernküche stibitzt und gerade als er sich genüsslich den ersten Bissen genehmigen wollte, tropfte eine Träne direkt auf seinen Kopf. „Oh, schniefte der Esel. „Entschuldige bitte, aber ich weiß nicht mehr weiter. Alle Tiere lachen über mich wegen diesem blöden grünen Ohr. Am liebsten würde ich es weghaben.
„Echt?, erwiderte Freddy kauend. Er hatte sich in der Zwischenzeit über das Käsestück hergemacht. „Das ist doch voll cool. Sowas hat nicht jeder. Damit biste was ganz Besonderes.
Es war unvorstellbar, dass der Mäuserich das ernst meinte. „Cool? Was Besonderes? Du irrst dich. Die anderen lachen mich aus deswegen."
Die Spitzmaus ließ sich nicht beirren. Mittlerweile hatte er sein Mittagessen beendet, wischte sich mit der Mäusepfote die letzten Krümel vom Mund und stellte sich in seiner vollen Größe vor den zehnmal größeren Gesprächspartner. „Jetzt hör mir mal zu, mein Freund. Wenn ich sage dein grünes Lauscherchen is der Hammer, dann is es das auch. Und die anderen haben keine Ahnung davon was gut aussieht und was nich. Sieh mich an. Ich bin zwar klein, aber ich hab richtig Spaß. Wenn ich mir wünschen würde ich wäre so groß wie ein Elefant, dann muss ich ja traurig und einsam werden. Denn das wird nie passieren. Ich bin so wie ich bin und das is gut so. Und egal was die anderen denken oder sagen, ich geh trotzdem raus und freue mich an allem