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Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 1)
Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 1)
Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 1)
eBook655 Seiten9 Stunden

Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst (Teil 1)

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Über dieses E-Book

Anno 1581 in Marburg: Die Kaufmannstochter Sylviane verliert durch einen Brand Heim und Familie, gerät in die Fänge des gefürchteten Hexenjägers Heron von Thyrnau, der charismatische Jesuit Roman Vitas treibt mit ihr ein Doppelspiel und ein Todfeind verfolgt sie mit unversöhnlichem Hass. Doch Sylviane nimmt den fast aussichtslosen Kampf auf - gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Hexenwahn, findet schließlich ein dunkles Geheimnis, die große Liebe und den Verrat. Dabei spielt ein rätselhaftes Familienamulett eine besondere Rolle, im Guten wie im Bösen. Bald gibt es nur noch einen einzigen Ausweg, aber wem kann sie noch trauen? Denn die Christenheit ist gespalten. Religionskämpfe, Teufelsfurcht und Wetterkatastrophen beherrschen das Leben der Menschen. Es ist der Vorabend eines großen Krieges, die Lunte brennt ... Ein abenteuerlicher historischer Roman über Verfolgung, Selbstbehauptung und Rache, und darüber, dass Irrwege manchmal auch Wege sind. (Der Roman besteht aus zwei Teilen; mit Band 2 ist die Geschichte abgeschlossen).
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Dez. 2018
ISBN9783746987699
Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 1)
Autor

Thyra Maris

Thyra Maris ist ein Pseudonym der Autorin. Geboren 1962 im Ruhrgebiet, aufgewachsen zwischen Kohle und Stahl, lebt Thyra Maris seit dreißig Jahren am Niederrhein. Nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit kann sie sich seit dem Eintritt in den Ruhestand mit mehr Zeit und Hingabe ihrer wahren Leidenschaft widmen – dem Schreiben. Gerne vertieft sie sich in längst vergangene Epochen, um das Denken und Fühlen der Menschen von einst zu verstehen und ist stets auf der Suche nach wenig bekannten historischen Details. Jedes Zeitalter birgt seine eigenen Herausforderungen. Und so stellt sich immer wieder die spannende Frage: Woher kommen wir? Wo stehen wir heute? Wohin werden wir gehen? Aus diesen Überlegungen ist der vorliegende historische Roman »Feuertanz, stirb - damit du leben kannst« entstanden. Er besteht aus zwei Teilen; mit Teil 2 ist er abgeschlossen. Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Neuzeit – eine Ära des Umbruchs und der Veränderung, und erleben Sie ein Abenteuer voller Intrigen, Geheimnisse und Liebe! Begleiten Sie Charaktere, die für ihre Überzeugungen alles riskieren und sich zahlreichen Gefahren stellen müssen. Hinweis: "Feuertanz" erlebt eine großartige Verjüngungskur! Die Neuauflage ist im Anmarsch: Mit einem wundervoll gestalteten Innenteil, einem überarbeiteten Text und neuen historischen Details wird die Geschichte noch fesselnder. Die Veröffentlichung gebe ich noch bekannt! (✿◠‿◠) (Okt. 2023)

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    Buchvorschau

    Feuertanz - Thyra Maris

    WETTERLEUCHTEN

    - ERSTES BUCH –

    Tag des Feuers

    Seit dem frühen Morgen war Severin vom Pech verfolgt gewesen, aber davon hatte er sich nicht beirren lassen. Was war schon eine zerdepperte Schüssel? Verschüttete Milch? Eine Beule am Kopf? Ein Steinchen im Haferbrei, das ihn beinahe den Zahn gekostet hätte? Oder der Streit mit dem Knecht, weil der wieder mal vergessen hatte, die Stalltür zu schließen und folglich die Hühner Besuch vom Marder bekommen hatten? Immerhin hatte er nur drei verloren. Pah! Irgendwann würde er dem Marder das Fell über die Ohren ziehen, und dann hatte es sich ausgehühnert.

    Es war nicht mehr weit bis zur Stadt, über die, weithin sichtbar, das Landgrafenschloss thronte. Fast konnte er schon die höher gelegenen Fachwerkhäuser am Hang zählen. Fröhlich pfiff er ein Liedchen vor sich hin; er freute sich darauf, seinen Bruder wiederzusehen. Eine Feldmaus huschte über seine Füße und verschwand flink im Strauch. Spontan fiel ihm ein, was er neulich in der Vorratskammer vorgefunden hatte – winzige Krümel, dunkler als Brotkrumen. Das konnten nur Mäuse gewesen sein. Diese kleinen Diebe!! Als Erstes würde er auf dem Markt neue Fallen besorgen.

    Heut‘ Abend hat euer letztes Stündlein geschlagen, dachte er spöttisch und bekam direkt Lust, ein Jagdlied zu singen, gerade so, wie es die hohen Herren während der Hatz zu tun pflegten. Häsleins Klage¹ passte gut. Kurzerhand dichtete er den Text um und schmetterte: »Du arme Maus im weiten Feld, wie grausam werd‘ ich dir nachstell ’n …«

    Bis er es roch. Und sah.

    Das Unheil.

    Abrupt blieb ihm die Strophe im Halse stecken. Und er rannte los … rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben, querfeldein, sprang über Pfützen und Äste, hetzte durch Büsche und Brennnesseln.

    Nur weiter! Immer weiter!

    Der Himmel über Marburg färbte sich blutig-rot.

    Er rannte nicht mehr, er flog. Bald konnte er fast überdeutlich jeden Stein in der Stadtmauer erkennen …

    Die Wachen am Stadttor ließen ihn anstandslos durch. Er ließ sich von dem Geruch und dem Feuerschein leiten, Ascheflocken und glühende Funken wehten ihm ins Gesicht.

    Dann war er endlich am Ziel. Fassungslos betrachtete er das Geschehen. Aus seiner bösen Ahnung war grausame Gewissheit geworden.

    Es brannte lichterloh! Ein heftiger Wind trieb den dichten Qualm auseinander und entfachte die Flammen zu einer Feuerwand, die unter ohrenbetäubendem Knattern und Prasseln rasch höher und höher wuchs. Aus allen Gassen liefen die Menschen herbei; ungeachtet der Gefahr rückten sie mannhaft vor. Mit Eimern und Schaufeln und Spaten. Jeder wusste, was zu tun war, das verrieten ihre entschlossenen Mienen.

    Auch Eckart befand sich unter ihnen. Sofort rannte Severin auf ihn zu und bestürmte ihn mit Fragen. »Sind sie am Leben? Sind sie in Sicherheit? Sind sie …?«

    Nur ein hilfloses Achselzucken war die furchtbare Antwort.

    Severin zauderte nicht länger und reihte sich in die vorderste Reihe der Eimerkette ein, die vom Brunnen bis zum brennenden Haus reichte. Ihm hämmerte das Herz bis zum Halse. Sein Bruder, die Schwägerin, die beiden Kinder – sie waren dort drinnen gefangen!

    Unermüdlich schleuderte er Wasser in die fauchenden Flammen. Das Feuer musste niedergerungen werden!

    Feuer oder Wasser.

    Doch die Ungewissheit bohrte, quälte weiter in ihm, er hielt kurz inne und schrie gegen das Prasseln an: »Haben sie sich am Fenster gezeigt? Habt ihr irgendetwas gesehen?«

    »Nein, nichts«, brüllte Eckart zurück. »Nur einen Schrei hat man gehört. Danach hatte es irgendwo unten fürchterlich gekracht!«

    »Vielleicht war das die Treppe gewesen? Dann ist der Fluchtweg verbaut, womöglich liegen sie eingeklemmt in den Trümmern! Wir müssen sie da rausholen! Wo sind die Leitern? Her damit, schnell, schnell!«

    Schon wollte Severin davonstürmen, doch Eckart hielt ihn zurück. »Die nützen nichts, gleich stürzt alles ein! Wir werden drinnen erschlagen, noch bevor wir jemanden retten können! Zuerst löschen!«

    Der Einwand klang vernünftig, Severin sah es ein. Die Retter würden rascher den Tod finden als die im Feuer Eingeschlossenen. Er riss den nächsten vollen Eimer an sich.

    Feuer oder Wasser.

    Erbittert schleuderte er Schwall um Schwall Wasser in die Lohe. Sein Gewand knisterte in der Hitze. Löschen, löschen, das Feuer zurückdrängen, es ersticken, bevor die heiße Luft alles in Brand setzte!

    Schneller, schneller.

    Severins Gedanken rasten. Himmel hilf!! Lass sie nicht in ihren Betten liegen, betäubt von Rauch oder gerade verbrennen …

    Weiche, Feuerdämon!

    Aber er schien unbezwingbar. Wo das Wasser ausgegossen wurde, zischte der Dampf und rächte sich mit unerträglicher Hitze; erstickte endlich eine Flamme, erhob sich prompt eine neue und teilte sich in mehrere Feuerzungen, die sich rasch ausbreiteten und weitere Nahrung in dem knisternden Gebälk fanden. Es war zum Verzweifeln.

    Kopfschüttelnd gab Eckart, inzwischen rußgeschwärzt wie ein Köhler, den Eimer an Severin zurück. »Es ist zwecklos, mach‘ allein weiter! Ich kümmere mich besser um die übrigen Häuser, ehe das Feuer übergreift.«

    »Was tust du?!«, brüllte Severin. »Noch können wir den Weg hinein freimachen – wir müssen sie retten, wir müssen!!«

    Doch Eckart winkte nur müde ab »Zu spät. Das Haus brennt bereits an allen Ecken und Enden.«

    »So schnell?! Das kann nicht sein, doch nicht schon überall! Du irrst dich.«

    »Von wegen, alles brennt wie Zunder, das schaffen wir nicht. Besser, ich helfe den anderen!«

    Fassungslos sah Severin, wie Eckart sich einen Spaten griff und zu den Männern hinüberlief, die die Gräben aushoben, um das Feuer umzulenken. Mit Mühe unterdrückte Severin seine Wut. Er durfte nicht nur an sich denken. Auch andere Leben waren in Gefahr. Norwigs Haus stand zwar allein, aber die Gasse war eng, wie die meisten anderen auch, da konnte rasch der Funke überspringen! Marburg würde einfach abbrennen, fast war dies schon einmal geschehen …

    Plötzlich erschien vor seinem inneren Auge seine Lieblingsnichte Sylviane, umringt von lodernden Flammen … das war ein Zeichen! Sie brauchte ihn! Jetzt! Frische Energie schoss in seine Arme. In rasendem Tempo goss er nacheinander die Eimer aus.

    Tod oder Leben.

    Endlich trafen die Wagen mit neuen Wasserfässern ein; bei den zahlreichen Treppen in der Stadt hatten sie einen Umweg fahren müssen. Mit bloßen Händen wühlten Weiber und Kinder Kanäle in die Erde, um das zurückfließende Löschwasser aufzufangen. Glühende Holzstücke flogen herab, einer davon erwischte Severins Ohr. Er jaulte auf vor Schmerz. Er blickte hoch und entdeckte Eckarts Sohn Mathis, der auf dem Dach des Nebenhauses herumturnte und mit einem langen Feuerhaken die brennenden Schindeln herunterriss. Ein Stein fiel von Severins Herzen. Guter Junge! So ist‘s recht! Nun ließ auch der Wind nach, und damit verlor der Feuersturm den Atem. Riesige Qualmwolken breiteten sich aus. In Severins Herzen keimte eine wilde Hoffnung auf. Gott war mit ihnen!

    Genau in diesem Moment fauchte eine Flamme aus dem oberen Fenster, danach eine zweite. Das gesamte Stockwerk brannte lichterloh! Kurz darauf züngelten die Flammen wie Höllenschlangen auch aus dem Dach und fraßen rasend schnell weiter.

    Mit einem Aufschrei ließ Severin den Eimer fallen und rannte zum Haus. Jetzt oder nie!! Sonst war alles zu spät. Da – die Tür!

    Jemand packte von hinten zu und riss ihn zurück. Es war der Schmied. »He, Mann, willst du in dem Höllenofen gebraten werden? Bleib‘ hier! Du kannst nichts mehr für sie tun!«

    »Was fällt dir ein, lass mich los! Ich muss hinein, ich muss!!« Severin versuchte sich aus dem eisenharten Griff zu befreien, er schlug und trat um sich, doch ebenso gut hätte er mit einem Bären ringen können. Erschöpft ließ er die Arme hängen und gab auf.

    Blind und taub für den Tumult um ihn herum, merkte er nicht einmal, wie er wieder losgelassen wurde, sondern starrte wie gebannt in die schwarzen Rauchschwaden, die aus der Haustür quollen. Seine Augen tränten, die Kehle war wie ausgedörrt. Wenn er noch länger hier stehen blieb, würde er in Brand gesetzt werden wie eine Fackel. Aber jetzt aufgeben, so nah am Ziel? Trotzig ballte er die Fäuste. Und wenn sie vielleicht ohnmächtig oder verletzt in der Nähe der Tür liegen? Noch kann ich sie retten!

    Kurz entschlossen schnappte er sich den nächsten Wassereimer und goss ihn über sich aus. Zusätzlich wickelte er sich ein nasses Tuch vor den Mund …

    … da legte sich eine Hand auf seinen Arm. Zornig fegte er sie hinweg wie eine lästige Fliege. Schon wieder jemand, der ihn hindern wollte! Knurrend drehte er sich um … und blickte in ein ascheverschmiertes Mädchengesicht. Ihr angesengtes Haar flammte im Widerschein des Feuers dunkelrot auf wie eine unheilige Aureole.

    »Sylvelin!«, brüllte er auf.

    »Oheim!«, schluchzte sie und warf sich in seine Arme.

    Im nächsten Atemzug stürzte der Dachstuhl ein. Mit Grauen verfolgte Severin, wie Balken hinunterdonnerten und Trümmer durch die Luft wirbelten. Einige Steinbrocken trafen einen Mann am Kopf, der daraufhin zu Boden taumelte. Danach knirschte es nochmals, lang und gedehnt, bis es in einem schauerlichen Todesröcheln verklang – als starb ein lebendes Wesen … Und endlich krachten auch die letzten Reste des Gebäudes in einer riesigen Wolke aus verkohlten Klumpen, glühender Asche und Mauerbruchstücken in sich zusammen. Schleunigst suchten die Menschen ihr Heil in der Flucht.

    Das Mädchen kreischte schrill, als würde ein Pflock in ihr Herz gestoßen.

    Severin presste sie ganz fest an sich. »Hab‘ keine Angst, es ist vorbei!«

    Wimmernd verkroch sie sich tiefer in seine Arme. »Wo sind Vater … und Mutter? Und … und Idisa? Konnten sie entkommen?«

    »Schsch …« Er wiegte das zitternde Mädchen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er versuchte, den süßlichen Geschmack hinunterzuschlucken, der sich klebrig in seiner Kehle festgesetzt hatte. Verbranntes Fleisch. Oh Gott!

    Wie schrecklich war jetzt die Stille nach dem Getöse! Totenstille. Selbst der gewohnte Stadtlärm war verstummt.

    Schutt und Asche.

    Zutiefst erschüttert starrte er auf den rauchenden Trümmerhaufen, in dessen Mitte ein verkohlter Holzpfosten sich wie ein skelettierter Zeigefinger anklagend emporreckte. Der traurige Überrest eines Pfeilers oder des Treppengeländers vielleicht … und nun nichts weiter als ein düsteres Monument auf einem Grabhügel. Noch vor wenigen Stunden befand sich hier ein Hort des Glücks. Nun regierte das Grauen. War die strafende Hand Gottes im Spiel gewesen? Oder aber Menschenhand …?

    Asche zu Asche, Staub zu Staub.

    Das Feuer hatte gesiegt.

    ¹ Häsleins Klage, ein Jagdlied vor 1805. Quelle: Volksliederarchiv

    Hof Carol

    Einzelne Ascheflocken tanzten in der Luft. Stinkende Rauchschwaden hüllten den Trümmerhaufen ein, der eben noch eine Scheune gewesen war. Grelle Blitze durchzuckten den Himmel, aber der Donner ließ immer länger auf sich warten, ein tröstliches Zeichen, dass sich das Gewitter endlich entfernte.

    Stumm vor Schreck verharrte Sylviane in Severins Armen.

    Das kostbare Saatgut war dahin. Ebenso der Heuvorrat für den kommenden Winter. Das Gespenst des Hungers näherte sich ihnen auf leisen Sohlen. Sie wussten es beide.

    Severin drückte seine Nichte fest an sich und starrte mit düsterem Blick auf den Hügel aus Schutt und Asche.

    Asche zu Asche, Staub zu Staub.

    Sechs Jahre später hatte der Feuerdämon erneut seine Fratze erhoben.

    In der folgenden Nacht wälzte sich Sylviane von einer Seite auf die andere. Der Hals fühlte sich rau und trocken an und schmerzte, als hätte sie stundenlang herumgebrüllt. Daran war der Rauch schuld … sie hatte zuviel davon eingeatmet. Warum nur hatte sie sich nicht besser geschützt?

    Vor ihren geschlossenen Augen flimmerte und tanzte jenes Phantom, das sie so fürchtete und gleichzeitig liebte – Marburg, die wunderschöne Stadt mit ihren steilen Gassen und Gässchen, der dunkle Ort des Unheils, an dem ihr Leben verbrannt war. Und sie vermeinte, erneut den ekligen Gestank nach Qualm und versengtem Fleisch zu riechen …

    Sie schlug wild um sich …

    … und das Spukbild zerfloss wieder, verschwand in den Nebeln der Erinnerung, und sie fand allmählich in die Wirklichkeit zurück.

    Sie legte die Hand auf ihr klopfendes Herz. Beruhige dich, sprach sie zu sich. Du hast das Unglück überstanden, du hast überlebt!

    Und mehr noch: Seit jenem schwarzen Tag hatte sich ihr das Schicksal von der gütigen Seite gezeigt: Sie brauchte ihr Dasein nicht bei fremden Leuten zu fristen, sondern hatte ein neues, liebevolles Heim gefunden und irgendwann sogar das Lachen wieder gelernt. Dafür hatte sie allerdings einen hohen Preis gezahlt, denn seit der Aufnahme bei dem Oheim gehörte sie dem niedrigen Stande an, was bedeutete, auf die Gnade ihres Grundherrn angewiesen zu sein. Fortan war der Lebensweg für sie streng vorgezeichnet, und alles, was davon abzuweichen drohte, war des Teufels. Dennoch bedauerte sie den Abstieg in den Bauernstand nicht; sie wäre ohnehin in die Unterschicht abgerutscht.

    Die Macht besitzen jetzt die Räte, und in der Stadt müsste ich mich mit Handlangerarbeiten durchschlagen und würde in einer Bretterbude oder gar auf der Straße hausen, dachte sie. Mein Bürgerrecht hätte mir da wenig genutzt. Gut, dass es der Oheim bereits nach der Beerdigung abgegeben hat, sonst wären weiterhin Steuern fällig gewesen – und wozu?

    Die Berichte des Oheims, wenn er von den Marktbesuchen heimkehrte, ließen für die Zukunft wenig Gutes erwarten. Selbst die reichen Kaufleute jammerten jetzt, die heimische Landwirtschaft und das Gewerbe würden von den Engländern und Franzosen überflügelt, die Preise stiegen, während die Löhne sänken – woran das verfluchte Inkagold der Spanier, das die Märkte überschwemmte, schuld sei –, die einst so mächtige Hanse dümpele ihrem Ende entgegen, und wo man mit seinen Waren auch hinkäme, die Holländer wären schon da und strichen flink die Gewinne ein. Der Münzbetrug nahm überhand und trieb so manchen ehrlichen Kaufmann in die Pleite, während es betuchte Bürger gab, die sich zu ihrer eigenen Verwunderung plötzlich um Almosen bettelnd vor den Kirchentüren wiederfanden. Der Absturz in die Armut kam oft über Nacht.

    Und heute hat das Schicksal erneut zugeschlagen, mit Feuer und Rauch. Wie kann ich dem nur entkommen? Die Scheune

    … die Augenlider wurden ihr schwerer und schwerer. Letzte Gedankenfetzen schwirrten durch ihr Bewusstsein …

    Asche zu Asche, Staub zu Staub.

    Am Morgen saßen alle stumm und übernächtigt am Tisch. Sylviane hatte zwischen der alten Magd Sina und den beiden Knechten Jörg und Martin auf der langen Holzbank Platz genommen. Einige Binsenlichter verbreiteten eine anheimelnde Helligkeit in dem halbdunklen Raum, der nur ein Fenster hatte, und ein großer Kachelofen in der Ecke spendete wohlige Wärme.

    Trotzdem fröstelte es Sylviane so sehr, als würde sie in einer Eishöhle sitzen. Verstohlen musterte sie den Oheim und die Muhme: Severins steingraue Augen, eingebettet in einem Strahlenkranz von Fältchen, blinkten wie ruhige Seen – ganz wie immer. Dieselbe Ruhe strahlten Helmines dunkelbraune Augen aus. Beide schienen guten Mutes zu sein und die Zuversicht nicht verloren zu haben. Aber Sina und den beiden Knechten stand die bange Frage in den Gesichtern geschrieben: Wie soll es weitergehen?

    »Lobet den Herrn!«, sang Severin mit Inbrunst, und wie die anderen faltete Sylviane die Hände zum Tischgebet und sprach leise mit:

    »Bescher‘ uns, Herr, das täglich Brot,

    vor Teu’rung und vor Hungersnot,

    behüte uns durch dein‘ lieben Sohn,

    Gott Vater in dem höchsten Thron.

    O Herr, tu auf dein‘ milde Hand,

    mach uns dein‘ Gnad‘ und Güt bekannt:

    ernähr‘ uns, deine Kinderlein,

    der du speist alle Vögelein.

    Erhörst du doch der Raben Stimm‘,

    drum unsre Bitt‘, Herr, auch vernimm;

    denn aller Ding‘ du Schöpfer bist

    und allem Vieh sein Futter gibst.

    Gedenk nicht unsrer Missetat

    und Sünd‘, die dich erzürnet hat:

    Lass scheinen dein‘ Barmherzigkeit,

    dass wir dich lob’n in Ewigkeit.

    O Herr, gib uns ein fruchtbar‘ Jahr,

    den lieben Kornbau uns bewahr;

    vor Teu’rung, Hunger, Seuch‘ und Streit

    Behüt‘ uns, Herr, zu dieser Zeit.

    Du unser lieber Vater bist,

    weil Christus unser Bruder ist;

    drum trauen wir allein auf dich

    und woll’n dich preisen ewiglich.«²

    Doch das Gebet tröstete sie nicht wie sonst, ihr Herz blieb kalt dabei.

    Danach füllte Helmine die Teller. Es gab Brotsuppe mit Speck. Niemand sprach während des Essens ein Wort. Nachdem sie fertig waren, unterbrach wiederum Severin die drückende Stille.

    »Ich werde zu Jonas und den anderen Nachbarn gehen und sie fragen, ob sie uns aushelfen können. Wir brauchen unbedingt Saatgut. Noch können wir von der letzten Ernte zehren, aber eine künftige wird es nicht mehr geben.«

    »Glaubst du wirklich, die Nachbarn könnten einiges entbehren? Die sind schlimmer dran als wir, sie leben jetzt schon von der Hand in den Mund. Sie müssten dann hungern!«, entgegnete Helmine und schüttelte so heftig den Kopf, dass sich ihr schwarz-grau gesträhnter Zopf halb auflöste.

    Severin blinzelte vielsagend. »Ich könnte ein Schwein für das Saatgut abgeben – aber wie lange reicht ein Schwein für eine ganze Familie? Selbst wenn ich alle Tiere verkaufe, haben wir zwar im Moment Geld, aber es wäre zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel. Es bleibt nur eine Lösung … Im Tausch für das Saatgut kann ich den Nachbarn etwas geben, was sie niemals begehren dürfen … es ist ihnen verboten und darum eine Sünde wider Gott.«

    Da fror es Sylviane noch mehr. Was führte Severin im Schilde?

    Oh Herr, bewahr‘ uns vor Teu‘rung, Hunger, Seuch‘ und Streit …

    Zwei Wochen später aber strahlte die Zukunft wieder in einem freundlicheren Licht. Das Hoffen und Bangen war vorbei, Severin hatte es tatsächlich geschafft! Das Hungergespenst würde vorüberziehen. Nachbarschaftshilfe war Gold wert, das hatte sich wieder einmal erwiesen. Sylviane lächelte in sich hinein und ließ liebevoll den Blick über die Landschaft schweifen. Endloser Wald, winterbraune Wiesen und brachliegende Felder reihten sich aneinander, ein kleiner Fluss mit kristallklarem Wasser schlängelte sich an dem Hof vorbei und zog eine silberne Grenze um das ganze Anwesen. In der Ferne erhoben sich dicht bewaldete Hügel dunkel vor dem flammenden Abendhimmel und warfen geheimnisvolle Schatten.

    Meine Heimat … so schön. Sie seufzte. Hoffentlich entzweite der Glaubenszwist nicht eines Tages die Dorfgemeinschaft. Neuerdings tauchten immer mehr Flugblätter mit Hasstiraden auf, Katholiken und Protestanten beschimpften sich gegenseitig mit wüsten Ausdrücken und stritten erbittert über Religionsfragen. Leider konnten die meisten Leute dank des Dorfschulunterrichts diese Hetzschriften lesen, weshalb es mittlerweile allerorten gärte, und was man nicht erklären konnte, schrieb man kurzerhand dem Hexenwerk zu. Bisher war in ihrem Dorf alles ruhig geblieben, aber wie lange noch? Alles lag in Gottes Hand.

    Sie wandte die Augen vom rot und gelb glühenden Himmel ab und ging ins Haus. Bei diesen Farben schauderte es ihr immer noch. Aber sie schob die bangen Gefühle beiseite. Dafür blieb keine Zeit; das Spinnrad wartete auf sie. Ab morgen musste Helmine auf ihre Arbeitskraft verzichten, für ein langes Jahr … aber die Strafe hätte schlimmer ausfallen können. Ausnahmsweise war der Junker gnädig gewesen.

    Dies ist ihr letzter Abend bei uns, dachte Severin und betrachtete wehmütig seine tüchtige Nichte, die unermüdlich die Spindel drehte. Wie immer trug sie die haselnussbraunen Haare hochgesteckt. Das sah recht hübsch aus, aber er mochte es lieber, wenn Sylviane sie offenließ. Dann fielen sie ihr bis auf die Hüften, und bei Sonnenschein tanzten kupferne Lichter darin. Weitere Lichter tanzten oft in ihren dunkelblauen Augen, und bei ihren Lippen musste er immer an Rosenblätter denken, ach ja …

    Unruhig rutschte er auf der Bank herum und krampfte die Hand um den Krug. Das Bier schmeckte ihm heute gar nicht. Wie würde es ihr morgen ergehen? Nein, er mochte nicht daran denken … er seufzte. Wenn er es doch nur verhindern könnte! Er wollte alles tun, um sie glücklich zu sehen. Und Helmine liebte sie fast abgöttisch. Nach dem Tod des einzigen Sohnes kinderlos geblieben, hatten sie in Sylvelin endlich die Tochter gewonnen, die sie sich so sehr gewünscht hatten. Sylvelin war die Stütze ihres Alters und künftige Erbin des Hofes. Sie hatte das Zeug dazu, sie beherrschte nicht nur das Lesen und Schreiben, sondern konnte sogar rechnen – all das verdankte sie ihrem Vater, der seine Töchter eigens von Hauslehrern hatte unterrichten lassen, um ihnen eine vielversprechende Zukunft zu ermöglichen. Eine höhere Ausbildung zählte zur Mitgift, was bedeutete, dass sie in wohlhabende Familien einheiraten konnten. Bei ihm, Severin, waren Sylvelins Aussichten zwar bescheidener, dennoch konnte er ihr ein ordentliches Zuhause bieten. Mit Norwigs Hilfe hatte er Zugochsen und neuartige Arbeitsgeräte anschaffen können, was zu reichlicheren Ernten als bei den anderen Bauern führte – vorausgesetzt natürlich, die Scheune brannte nicht ab und das Wetter spielte mit, was in den letzten Monaten nicht der Fall war. Leider hatte er jetzt zu allem Übel einen verhängnisvollen Fehler begangen. Er schluckte die aufsteigende Magensäure hinunter. Das lag bestimmt nicht am Bier.

    Das Spinnrad hörte auf zu surren. »Was ist mit dir? Du siehst so merkwürdig drein«, erkundigte sich Sylviane. Ihre Stimme klang melodisch und angenehm dunkel.

    Severin druckste zuerst herum und beschloss dann, es ihr geradeheraus zu sagen. »Ich frage mich, wer mich an Crispin verraten hat. Wenn ich bloß vorsichtiger gewesen wäre! Aber alles lief zu glatt. Als ich den Nachbarn im Austausch für Saatgut Wildbret gegeben habe, anstatt es nur für uns zu verwenden, habe ich gegen den Waldbann verstoßen, da nur wir seit Carols Zeiten das Erbrecht besitzen, im herrschaftlichen Wald zu jagen. Somit war es Diebstahl, weil es dem Herrn gehört. Das hätte ich niemals tun dürfen!«

    Sylviane zog die Augenbrauen hoch. »Na, na! Es war doch nicht das erste Mal, dass du Wild verschenkt hast. Du wolltest nur den Hunger lindern.«

    »Ja, das stimmt, aber sonst waren es kleine Mengen oder vielmehr Fleischstücke gewesen, die sich unauffällig schmuggeln ließen. Ein ganzes Reh oder einige Hasen sind jedoch eine andere Größenordnung. Ich bin ein großes Risiko eingegangen, was sich prompt gerächt hat. Wilderei ist ein Frevel, der gesühnt werden muss … nur, dass jetzt du zum Frondienst befohlen wirst und an meiner Stelle büßen sollst, ist ungerecht! Ich hoffe, der Junker wird nicht noch mehr von dir verlangen.«

    »Wahrscheinlich ist genau das der Grund.«

    »Ja, mit mir kann er wohl schlecht herumtändeln …«

    Sie prustete vor Lachen.

    »Ich finde das gar nicht witzig! Für ihn bist du eine leichte Beute, herrjeh!« Severin raufte sich die letzten fünf verbliebenen Haare.

    »Ach Oheim, es hätte schlimmer kommen können. Der Galgen … oder die Enteignung.«

    »Ja eben, genau das denkt sich Michael auch! Wahrscheinlich erwartet er nun dafür ewige Dankbarkeit – das ist nämlich kein Gnadenerweis, sondern eine Falle, verstehst du? Zuerst hat er dich, und irgendwann wird er uns einen Strick draus drehen.«

    Sie sah betreten zu Boden. »Ich weiß. Schon lange macht der Junker uns das Leben schwer, wo er nur kann. Er wartet ab, bis wir schwach werden. Aber er hätte uns doch gleich vom Hof jagen können.«

    »Sicher. Aber das wäre ihm ja zu langweilig gewesen. Die hohen Herren wollen stets gern ein bisschen spielen. Und rate mal, wer immer verliert.«

    Ihre Augen funkelten plötzlich. »Ja, genau deshalb ist es besser, dass ich nach Burgfels gehe und nicht du. Ich bin ja nur ein schwaches, einfältiges Weib, mir traut man nichts zu. Umso leichter kann ich den Verräter überlisten. Vielleicht finde ich heraus, womit ich Michael zum Stillhalten zwingen kann, so dass er nicht mehr wagen wird, uns zu behelligen. Der Herr ist bei allen unbeliebt; es heißt, er habe den Tod seines Bruders verschuldet. Entweder ist es wirklich nur ein Gerücht, oder es ist etwas Wahres dran.« Sie ballte die Fäuste. »Falls ja, dann …!«

    »Dann was? Um Gottes willen, was redest du da? Begib‘ dich nicht unnötig in Gefahr!«

    Das Dunkelblau ihrer Augen wechselte ins Violette. »Das bin ich doch schon. Wie soll ich mich sonst gegen ihn wehren? Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, ich muss etwas gegen ihn finden! Aber ich verspreche dir, ich werde ihm ausweichen, wo ich kann, wie eine Maus, die auf Nimmerwiedersehen in ihr Loch entwischt.«

    Mauseloch. Just erinnerte er sich wieder an die Maus, die an jenem Tag über seine Füße gehuscht war. Und wie er sich dann entschlossen hatte, die Mäusejagd aufzunehmen. Und ein Liedchen gesungen hatte. Häsleins Klage. Er sah sie mit leiser Verzweiflung an. »Ausweichen? Wenn das mal genügt. Pass auf, dass es dir nicht ergeht wie dem Häslein in dem Jagdlied. Vielleicht stellt man dir Fallen, sei auf der Hut. Zur Sicherheit werde ich unsern Nachbarn Jonas schicken, er soll regelmäßig nach dir sehen. Und wehe, man lässt dich leiden!«

    »Das ist wohl nicht zu vermeiden. Aber ich verspreche dir, das wird nur von kurzer Dauer sein.«

    »Das glaube ich dir sofort. Weil ich dich da nämlich schnell rausholen werde! Und dann muss man halt weitersehen.«

    »Du machst dir zu viele Sorgen. Für Michael bin ich nur eine Bauerndirn, die seine Fußböden schrubben darf.«

    Severin knurrte. »Ja, aber tue das nicht zu gründlich, sonst behält er dich gleich da, weil alles so schön sauber blinkt. Aber da ist noch etwas Wichtiges … bei der Gelegenheit solltest du dich auf Burgfels dringend nach einem Mann umsehen. Es wundert mich nicht, dass Michael eigens nach dir verlangt hat; du bist mittlerweile zwanzig und immer noch unverheiratet. Die meisten Mädchen sind schon mit fünfzehn unter der Haube!«

    »Wäre der Brand nicht gewesen, wäre ich vielleicht längst verheiratet«, gab sie zurück.

    Er zuckte schuldbewusst zusammen. »Ich wollte nicht … tut mir leid … es ist halt anders gekommen. Aber es kann doch nicht so schwer sein! Hof Carol hat einen guten Ruf; bald plane ich, eine Schaf- und Schweinezucht zu beginnen, damit wir nicht mehr allein vom Ernteertrag abhängig sind. Doch irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich nicht mehr schaffen kann, dann muss ich den Hof an einen Jüngeren übergeben. Da ich keinen Erben habe, brauche ich einen Schwiegersohn. Nun, wie ist es – dir fehlt es gewiss nicht an Verehrern. Gerne darfst du dir den Ehegatten selbst aussuchen, also …?«

    Sie zuckte mit den Schultern. »Tja, also? Es ist unsinnig, dass ich mich wegen Michael unbedingt schnell vermählen muss. Als ob sich der Junker davon abhalten ließe, ob ich verheiratet bin oder nicht.«

    Er verzweifelte innerlich. Manchmal konnte Sylvelin so störrisch wie eine Eselin sein! Er versuchte, ganz behutsam vorzugehen: »Das mag sein, aber immerhin hat ein Ehegatte einige Rechte, die selbst Michael nicht einfach umgehen darf. Kirchenrecht hat Vorrang vor Herrenrecht, auch im lutherischen Glauben. Und soviel ich weiß, gehört der Junker nicht zu den Mächtigen, die sich alles erlauben können.« Er seufzte wieder. »Jammerschade, dass der junge Briel damals fortgegangen ist. Ein heldenhafter Bursche! Hat oben auf dem brennenden Dach wacker gegen das Feuer gekämpft, damit nicht das ganze Viertel abbrennt. Er wäre bestimmt der richtige Gatte für dich gewesen.«

    Ein Schatten flog über ihre Gesichtszüge. »Mathis Briel … vermutlich habe ich ihm sogar mein Leben zu verdanken; es war mir genug Zeit geblieben, mich in Sicherheit zu bringen«, sagte sie versonnen. »Er hatte mir immer gut gefallen, sein warmes Lachen, die strahlend blauen Augen –«

    »Aha – du warst ihm wohl heimlich zugeneigt?«

    »Vielleicht. Er kam mit seinem Vater des öfteren zu Besuch. Wie immer ging es um Geschäfte.«

    »Tja, das hatte wohl alles nichts genutzt … nach dem Tode seines Vaters musste Mathis das Geschäft verkaufen, sonst hätte er nur Schulden geerbt. Danach hatte niemand mehr jemals etwas von ihm gesehen oder gehört.«

    »Der Arme … dieses traurige Schicksal hat er nicht verdient. Was wohl aus ihm geworden ist?«

    »Hoffst du etwa auf seine Rückkehr? Nein, das lass mal schön bleiben! Wenn Mathis Interesse an dir hätte, hätte er sich längst zu erkennen gegeben. Ich bin oft genug in Marburg und habe bisher nicht einen Zipfel von ihm gesehen. Er lebt gewiss in einer anderen Stadt und hat eine eigene Familie. Er hat dich vergessen, auf ihn kannst du lange warten. Wenn du alt und vertrocknet bist, will dich keiner mehr haben!«

    Sie fuhr auf. »Oheim!!« Empörung blitzte aus ihren Augen.

    »Setz‘ dich wieder hin!«, knurrte er. »Es tut mir leid, dir das so hart sagen zu müssen, aber ich will nicht, dass du dein Leben verschwendest. Für niemanden! Ich will dich nur glücklich sehen. Mit dem Hof als Mitgift kannst du dir aussuchen, wen immer du willst. Es ist an der Zeit, dass du heiratest, glaub mir.«

    »Ich weiß, du meinst es gut, Oheim«, sagte sie versöhnlich. »Du hast ja recht! Aber wenn ich mir dagegen die Burschen im Dorf so anschaue … entweder sind sie grob, griesgrämig oder dumm – oder von allem etwas.« Sie schüttelte sich.

    »Na, na! Woher willst du das so genau wissen? Manchmal ist Grobheit nur eine Maske, hinter der sich ein gutes Herz verbirgt, und hinter einem Griesgram versteckt sich oft eine empfindsame Seele. Und wenn jemand nicht besonders schlau ist, was soll’s? Dann bist du eben die Kluge, die auf dem Hof das Sagen hat. Du willst nur nicht heiraten, das ist alles!«

    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Es ist für mich nicht so einfach. Bei wem soll ich anfangen? Ich muss den geeigneten Gatten möglichst aus unserem Stand finden. Wenn ich als Halbfreie den Sohn eines hörigen Bauern heirate, wird es kompliziert. Das erste Kind erbt meinen Status, das zweite gilt als unfrei, so verlangt es der Brauch. Kein Herr verzichtet auf einen künftigen Knecht.«

    Severin runzelte die Stirn. Ihre Antwort erschien vernünftig. Die Angelegenheit konnte sogar richtig verzwickt werden, besonders, wenn zwei Leibeigene verschiedener Herrschaften heiraten wollten. Dann zogen sich die Verhandlungen oft über Jahre hin, bis die Herren geklärt hatten, ob sie dem zustimmten oder nicht und wenn ja, wie denn die Fragen der Nachkommenschaft geregelt werden sollten. Meist wurde die Ehe gleich von vornherein verweigert. Als Arbeitskräfte waren Leibeigene zu kostbar, um verschenkt zu werden. Für ihre Besitzer bedeuteten sie bares Geld und konnten nach Belieben verliehen oder verkauft werden. So würde ihr Herr, der Junker von Burgfels, ein Wörtchen mitzureden haben. Spätestens dann würde es Schwierigkeiten geben; dies wäre für ihn eine willkommene Gelegenheit, sich wichtig zu tun und ihm, Severin, wiederum eins auszuwischen. Die Geister der Vergangenheit waren noch äußerst lebendig – ja, manchmal schien es, als würden sie sich direkt einmischen.

    »Oheim, was blickst du so finster drein?«, fragte sie. »Glaub‘ mir: ich würde keinen Hörigen verschmähen, solange er ein tüchtiger und herzensguter Kerl ist. Doch gib mir noch ein wenig Zeit, es eilt ja nicht.«

    »Du irrst dich – die Zeit ist es, die eilt! Schau dich mal auf Burgfels um, ja? Ohne Mann ist eine Frau Freiwild, und über eine unverheiratete Frau wird immer schlecht geredet. Ich will dir dieses Schicksal ersparen.«

    »Ich weiß, du meinst es gut mit mir. Und ich will auch alles dafür tun, dass der Hof eine Zukunft hat. Ich verspreche dir, keinen Markttag zu versäumen und mir die in Frage kommenden Händler und Kaufleute genau anzusehen.«

    Unwillkürlich musste Severin schmunzeln. »Ach was, da willst du es wohl deinen Eltern nachmachen, die sich auf dem Markt kennengelernt hatten, hm?! Für beide war es ein Glückstag gewesen.«

    Sie lachte. »Genau. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wer weiß, vielleicht verliebt sich ja sogar ein Kaufmann in mich?«

    Severin lächelte verträumt. »Wer könnte sich nicht in dich verlieben? Aber ja, das wäre wohl das Beste. Ein Kaufmann würde sehr gut zu dir passen, und unser Hof könnte später an andere tüchtige Bauersleute verpachtet werden. Ach, Sylvelin, ich wünsche es dir so sehr! Dein Vater war ein heller Kopf gewesen, das war bereits in der Dorfschule zu merken. Er war flink in allen Dingen … er wartete gar nicht erst ab, bis ich als Ältester den Hof übernommen hatte, sondern hatte schon früh sein Bündel geschnürt und war auf die Wanderschaft gegangen. Da reichte er mir gerade bis zur Nasenspitze. Schon immer hatte ihn nichts mehr interessiert als die bunten Marktbuden und die Händler, und so wunderte ich mich auch nicht, als er nach fünf Jahren mit einem Karren voller Waren und Taschen voller Geld zurückkam. Na, die Leute kauften ihm alles ab, er hatte ja ein recht flottes Mundwerk – genau wie du, Sylvelin …«

    »Meinst du wirklich?«

    »Jawohl, das meine ich! Eigentlich hätte ich dich öfter ermahnen sollen, den Mund zu halten. Eines schönen Tages wirst du deswegen gewaltigen Ärger kriegen.«

    Sie rollte die Augen. »Och, soll ich etwa still durch die Gegend schleichen?«

    »Das meine ich nicht damit. Du solltest nur manchmal besser schweigen. Dein Vater konnte das und wurde deshalb ein erfolgreicher Kaufmann.«

    »Ach! Er wurde durch Schweigen erfolgreich? Ich dachte, es lag eher an seinem Transportunternehmen?«

    Für einen Moment war Severin verwirrt. »Äh, das meine ich ja. Erstens wegen seiner Beharrlichkeit – es ist gar nicht einfach, in der Stadt Fuß zu fassen! Um überhaupt Handel treiben zu können, musste er zunächst das Bürgerrecht erlangen und dazu Vermögen nachweisen. Es waren Niederlassungsgebühren sowie ein Obolus für Handlangerdienste zu zahlen. Aber Geld allein genügt nicht. Erst über Beziehungen ist es Norwig gelungen, wichtige Aufträge zu ergattern; zum Beispiel war er mit dem Bürgermeister und den Stadtknechten zum Einkauf auf die Frankfurter Messe gefahren, um die Stadt mit Waren zu versorgen. Zweitens nutzte Norwig den Umstand, dass die meisten Fuhrleute um Marburg lieber einen Bogen machten, als sich mit den Karren durch die Berge zu quälen, und belieferte alle Kaufläden in Marburg gleich selbst. Damit kam er anderen zuvor, und das war sein Durchbruch.«

    Sylviane lächelte. »Ach, so hast du das gemeint. Ich kenne nicht viele Einzelheiten über Vaters Geschäfte; damals war ich noch ein Kind.« Sie setzte das Spinnrad erneut in Bewegung.

    Severin biss sich auf die Lippen und hing seinen Gedanken weiter nach. Schlussendlich hatte Norwig nicht nur seine ehrgeizigen Ziele erreicht und zwölf glückliche Jahre mit seiner Familie verlebt, bis das Schicksal seinen grausamen Tribut forderte. Am Ende blieben nur noch halbverkohlte Schädel und einzelnes Gebein, bedeckt unter einer glutheißen Ascheschicht … Das Feuer hatte so heftig gewütet, dass nicht einmal eine vollständige Leiche übrig geblieben war.

    »Warum bist du so leichenblass?«, riss ihn plötzlich Helmine aus seiner Grübelei. Er fuhr herum. Ihr Eintreten hatte er völlig überhört.

    Sie strich ihm liebevoll über die Stirn. »Sei nicht so traurig, unsere Sylvelin kehrt bald wieder zurück! Ich bin genauso unglücklich wie du, dass sie uns morgen verlassen muss.« Zärtlich tätschelte sie seine Wange und gab ihm einen Kuss.

    Er legte den Arm um ihre Taille und drückte sie fest an sich. Er fühlte sich getröstet. »Gott segne dich, liebes Weib!«

    Gerührt sah Sylviane ihrer Tändelei zu. Fast beneidete sie die beiden ein wenig und kam sich recht einsam vor. Nie hatte es einen nennenswerten Streit zwischen ihnen gegeben. Zwar war der Oheim der Herr im Hause, jedoch hörte er oft auf Helmines Rat. Der gegenseitige Respekt war ebenso deutlich zu spüren wie die Zuneigung. Vielleicht kam es daher, dass es bei ihnen nicht nur Licht, sondern auch Schatten gegeben hatte. Dies hatte sie fest zusammengeschmiedet. Die Muhme stammte aus ärmlichen Verhältnissen und hatte sich als Magd und Waschfrau auf Schloss Burgfels unentgeltlich verdingen müssen, um die Prozesskosten und Geldstrafe ihres Vaters abzuarbeiten, der wegen Landfriedensbruchs gehenkt worden war. Der Tod am Galgen galt als große Schmach und stigmatisierte darüber hinaus die Angehörigen des Verurteilten, die lebenslang unter diesem Makel zu leiden hatten, als wären sie gleichfalls Verbrecher. Gelang es ihnen nicht, die Schulden zu begleichen, vererbte sich der Ruch der Ehrlosigkeit übergangslos auf die Nachkommen. Diese Strafe war nicht unmenschlich, sondern gottgewollt: Ich bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied …

    Und wer wollte an den heiligen Geboten rühren? Aber Gott war auch barmherzig. Zum einen fügte es sich auf wundersame Weise, dass Helmine dank der Heirat mit dem Halbfreien Severin wieder als ehrbar gelten konnte, zum andern, dass die Leute schneller als üblich bereit waren, Helmines Familienschande zu vergessen. Niemand mehr wagte schiefe Blicke, hatte doch fast jeder eine blutige Vergangenheit zu verbergen, die immer noch das Todesurteil einbringen konnte.

    Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.

    Aber für den Oheim galt auch: Wer sündigt, ist vom Teufel, und steht wider das Gesetz. Was er – in bester Absicht zwar – getan hatte, war keineswegs harmlos, sondern ein Angriff auf die Obrigkeit gewesen, und da diese von Gott selbst eingesetzt worden war, galt es als Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Er konnte wirklich froh und dankbar sein, dass er nicht am Galgen baumeln musste. So gesehen, war die Strafe des Frondienstes überaus milde ausgefallen. Sie war sich fast sicher, dass etwas dahintersteckte. Des Weiteren musste sie zusehen, ihre Zeit auf Burgfels zu verkürzen, ehe der Junker womöglich auf die Idee kam, sie doch noch einzusperren. Für seine üblen Launen war er bestens bekannt.

    »Wisst ihr schon, was der Junker diesmal angestellt hat?«, so flüsterten die Leute untereinander, am Dorfbrunnen, auf den Feldern, in der Kirche …

    Wie kann ich Michael bloß entkommen? sinnierte sie, während sie weiterspann, bis die Spindel voll war. Dann schnitt sie den Faden ab und räumte alles fort. Nur rasch ins Bett, sie brauchte möglichst reichlich Schlaf! Außerdem zwickten ihre Finger von dem stundenlangen spinnen. Der raue Faden hatte Furchen ins Fleisch gezogen.

    Eine dunkle Vorahnung sagte ihr, dass sie nicht mehr viel Gelegenheit zu einer Flucht haben würde. Dieser abgeschnittene Faden schien ihr wie ein Symbol dafür, dass ihr bisheriges Leben endete.

    Kurz vor der Abreise schenkte Helmine ihr ein neues Kleid.

    »Für deine Zeit auf Burgfels. Ich hoffe, es gefällt dir!« Ihre Augen blitzten vergnügt.

    Entzückt befühlte Sylviane den Wollstoff. Dick und weich, so war er genau richtig. Der Frühling ließ noch immer auf sich warten, ein ekelhaft nasskalter Tag folgte auf dem anderen. In diesem Kleid brauchte sie gewiss nicht zu frieren. Und die wunderschöne Farbe erst! Dieses leuchtende Blau! Das war endlich eine Abwechslung zu dem gewöhnlichen tristen Dunkelblau, das die Trägerin um Jahre älter machte.

    »In der Färberei hatten sie eine neuartige Mischung zusammengestellt. Der Farbton passt so gut zu deinen Augen, finde ich. Na, was meinst du?«, frage Helmine gespannt.

    Sylviane nickte strahlend. »Ich ziehe es sofort an!«

    Die Muhme lachte erfreut und half ihr dabei. Vorsichtig zupfte Sylviane das Gewand zurecht und blickte an sich hinunter. Das schwarze Mieder umschloss eng ihren schlanken Körper und betonte die Taille; ein breiter, weißer Leinenkragen schmückte den Ausschnitt. Der Rock reichte bis zu den Knöcheln – es war genau die richtige Länge, die einer Bauersfrau zustand. Vor Freude schoss ihr das Blut in die Wangen: »Das hast du aber sehr gut genäht! Es sitzt wie angegossen. Danke …!«

    »Ich habe dein Sonntagskleid als Vorlage genommen«, erklärte Helmine stolz.

    Zufrieden betrachtete sich Sylviane im Spiegel. So war sie für Burgfels bestens gerüstet!

    Helmine umarmte sie innig. »Du bist wirklich ein schönes Mädchen geworden! Ich werde die Tage und Stunden bis zu deiner Heimkehr zählen … ach, es ist eine Schande! Irgendwann werde ich herauskriegen, wer es gewesen ist, der Severin verraten hat, und dann …«

    »Dann? Vielleicht erfahre ich es ja auf Burgfels. Und bedenke, eigentlich ist der Frondienst keine Strafe … selbst von Freien darf der Grundherr verlangen, mehrere Tage im Jahr für ihn umsonst zu arbeiten. Wahrscheinlich hätte er mich so oder so zu sich befohlen. Aber was mir Angst macht, ist der Junker selber! Von den Dorfbewohnern habe ich bis jetzt nur Klagen über ihn gehört. Er soll aufbrausend sein und ein Tyrann … Jedermann fürchtet ihn, aber vielleicht will er das auch. Wie schade, dass der alte Heinrich nicht mehr lebt!«

    Verdrossen presste Sylviane die Lippen aufeinander. Ach, es war wirklich jammerschade …! Vermutlich hätte Heinrich Verständnis für Severins Vergehen gehabt. Einen Bauer, dem die Scheune abgebrannt war, hätte er nicht zusätzlich gestraft – im Gegenteil, er hätte ihm Saatgut aus seiner herrschaftlichen Vorratskammer geschenkt, und davon bestimmt so reichlich, dass mindestens zwei Familien ihr Auskommen gehabt hätten. Zwar hatte sie ihn nicht persönlich gekannt, aber die Bauern trauerten ihm immer noch nach. Heinrich von Burgfels war der beste Herr gewesen, den man sich wünschen konnte. Hochgesinnt und ritterlich, wie er war, hätte er die Unterdrückung Schutzbefohlener niemals gutgeheißen. Selbst ein harter Schicksalsschlag – sein ältester Sohn Hagenot starb bei einem grässlichen Jagdunfall – hatte ihn nicht gebeugt. Statt darüber verbittert zu werden, war er seinen edlen Prinzipien treu geblieben und hatte sich nun erst recht dem Wohlergehen seiner Freiherrlichkeit gewidmet. Mit der Zeit hatte er sich von einem Kriegsmann in einen Landadeligen gewandelt, dem goldgelbe Ähren wichtiger waren als der metallene Glanz seiner Waffen. Landgraf Philipp musste künftig ohne ihn seine Schlachten schlagen. Offenbar hatte dies Gottes Wohlgefallen gefunden; weiterer Kummer blieb Heinrich erspart, lange durfte er sich bester Gesundheit erfreuen, bis ihn ein gnädiger Tod ereilte. Eines Morgens wurde er wie schlafend im Bett vorgefunden; wie sein Medicus verlauten ließ, war es ein Herzanfall gewesen. Nach einer tränenreichen Beerdigung hatte der jüngste und einzige Sohn Michael die Herrschaft über Burgfels übernommen. Seit dem Tag war die Wende eingetreten – leider zum Schlechten.

    Im Gegensatz zu Hagenot kümmerten Michael die Sorgen anderer nicht. Seine Bauern konnten selber zusehen, wie sie ihre Schulden bezahlten oder das herrschaftliche – und somit unantastbare – Wild verscheuchten, das die Felder kahl fraß. Nie befasste er sich persönlich mit seinen Untergebenen, sondern schickte stattdessen seinen Verwalter Crispin Blanck vor, für den Milde gleichfalls ein Fremdwort war. Bis jetzt hatte sie glücklicherweise nie mit den beiden zu tun gehabt, und kannte vom Schloss selbst nur den Burgplatz, wohin sie den Oheim begleitet hatte, um die Abgaben zu entrichten. Es war nicht viel, was sie Michael schuldeten – mit Sicherheit war ihm genau das schon lange ein Dorn im Auge. Möglich, dass er einen Grund suchte, dies zu ändern. Sie durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben.

    Hilfesuchend wandte sie sich an die Muhme. »Du hast ja einige Jahre auf der Burg gearbeitet und kennst den Junker – sag mir, wie soll ich mich verhalten? Wie kann ich seinen Jähzorn vermeiden? Ich will da keine Fehler machen … hatte er nicht mal einen Knecht zum Krüppel geschlagen, nur weil der das Pferd nicht schnell genug gesattelt hatte?«

    Helmine schien über ihren Ausbruch erstaunt. »Was sind das für Gedanken, Kind? Natürlich ist es sein gutes Recht, nach seinem Gutdünken zu bestrafen. Doch du brauchst dich nicht zu fürchten. Halte dich immer an die Regeln, sieh ihm nicht allzu keck in die Augen und rede mit leiser Stimme. Widersprich ihm nie, selbst wenn er unrecht hat, sonst geht das übel aus. Sei folgsam und bleibe möglichst unauffällig, das ist dein bester Schutz, verstehst du? Und vor allem: rede ihn bloß nie mit ›Junker‹ an! Am besten, du vergisst dieses Wort ganz, sonst weckst du seinen Grimm. Und damit hat er sogar recht, denn seit seines Vaters Tod ist er kein Junker mehr, sondern der Freiherr von Burgfels! Denk dran, sonst … ach, ich mag es gar nicht aussprechen!«

    »Ich werde mich daran halten. Außerdem gibt es da ein Gerücht, dass Michael nicht unschuldig am Tod seines Bruders sein soll. Was meinst du dazu?«

    »Pah, die Leute schwatzen viel. Bewiesen ist bis jetzt nicht das Geringste. Und falls es dennoch zutreffen sollte, können wir nichts gegen ihn ausrichten – das vermögen nur Edelleute, von denen jeder selbst genug Dreck am Stecken hat. Sie werden schweigen, und unsereiner muss froh sein, wenn er sein Auskommen hat. Ob wir Michael leibeigen sind oder jemandem anders, läuft auf dasselbe hinaus. Die Herren sind alle gleich!«

    »Ach, und was ist mit Heinrich?«

    Die Muhme seufzte tief bekümmert. »Ja, er war die Ausnahme. Er war Glück und ein Segen für uns alle, doch nun ist er tot, und wir müssen uns mit Michael abfinden. Wir sind nur Halbfreie und haben zu gehorchen, wem auch immer. So musst du leider Gottes in den sauren Apfel beißen und fronen geh’n, ob du willst oder nicht.«

    »Ich geh ja schon … und solange ich nicht ins Gras beißen muss, soll’s mir recht sein.«

    »Das schaffst du gewiss! Vertraue deinem Schicksal, du wirst es meistern, egal, was kommt. Du bist die Nachfahrin von Carol!«

    »Schön wäre es – aber was genau meinst du damit?«

    Helmines Blick bekam einen harten Glanz. »Hm, da gibt es etwas …«, murmelte sie und zog einen Lederbeutel aus ihrer Rocktasche. Sie leerte ihn in Sylvianes Hand. »Hier, das wird dir helfen.«

    Beinahe hätte Sylviane das Ding vor Schreck fallenlassen – es fühlte sich so warm an, als wäre es lebendig! Doch sie zwang sich, die verkrampften Finger wieder zu öffnen – und starrte verblüfft auf ein schwarzes Medaillon, das an einer zierlichen, ebenso schwarzen Kette befestigt war. Der Anhänger war kreisrund und so groß, dass er genau in die Mulde ihrer Handfläche passte. Woher kam diese Wärme? Behutsam fuhr sie mit den Fingern über das Schmuckstück. Es stellte einen Drachen dar, der seinen Schwanz um den Hals geschlungen hatte; längs seines Rückens war kunstvoll ein Kreuz eingraviert. Sie kratzte leicht daran.

    »Halt! Nicht!«, rief Helmine da.

    Erschrocken hielt Sylviane inne. »Wieso?«

    »Du zerstörst den Überzug! Er ist aus einer Art Harzschicht gefertigt, weil das Medaillon möglichst unauffällig bleiben soll. Es besteht nämlich aus reinem Gold, und fände man das am Hals eines Bauernmädchens, wäre das ihr Todesurteil. So etwas dürfen nur die Herren tragen.«

    Sylviane spürte, wie ihre Knie nachgaben. »Was? Wie gelangt der Schmuck eines Fürsten in eure Hände? Habt ihr … wurde er … etwa gestohlen? Darauf steht der Tod!«

    Rasch blickte sich Helmine um, als ob sie tausend Spione belauerten, und flüsterte: »Keine Angst, er ist nicht gestohlen, um Gottes willen! Unser aller Gewissen ist rein. Der Schmuck ist kostbarer Familienbesitz, er gehörte deinem Ururgroßvater, den er einst von seiner Mutter erhielt. Danach ging er an seinen Sohn Nikolas, und als dieser starb, vertraute er das Amulett Severin an. Er hat es jedoch nie getragen, sondern ihn in der Truhe verwahrt. Bis heute! Jetzt gehört er dir. Es ist die richtige Zeit dafür.«

    »Ach … ein Familienerbstück also!« Sylviane kniff die Augen zusammen, um den Anhänger genauer zu betrachten. Am Kopf des Drachens schien die Schicht beschädigt zu sein, dort schimmerte es rot statt schwarz. Sie zeigte darauf. »Da ist aber kein Gold. Lass mich mal nachsehen.«

    Helmine schüttelte den Kopf, doch sie ließ sich nicht davon abhalten und kratzte die Stelle vorsichtig frei. Zum Vorschein kamen rote Edelsteine, die die Drachenaugen darstellten. Als sie das Medaillon hin und her wendete, brach sich das Licht in den Facetten und ließ die Augen in einem unirdischen Feuer aufsprühen. Jede Schuppe und jeder Muskel schien plötzlich zu vibrieren. Ihr Herz klopfte schneller, als ahnte es die Bedeutsamkeit des Geschenks. Ein solches Kleinod war in ihrem Besitz? Sie räusperte sich. »Die Augen bestehen sicher nicht aus geschliffenem Glas – oder?«

    »Richtig, das sind sogar echte Rubine! Sie schützen vor dem Teufel.«

    Jetzt war sie fassungslos. »Auch noch echte Rubine! Wunderschön … aber warum habt ihr den Schmuck bis heute versteckt? Er ist so wertvoll, dass wir uns damit längst hätten freikaufen können. Wir wären für immer frei von Michael und hätten keine Sorgen mehr.«

    »Von wegen, das hätte der Drache niemals zugelassen. Nur Auserwählte können ihn tragen. Was glaubst du, warum er so lange in der Truhe gelegen hat? Der Drache ist gefährlich!«

    »Das glaube ich gern, er sieht ganz nach einer Art Dämon aus. Oder ist es gar ein Hexenzeichen? Nicht, dass ich an Hexen glaube … bloß, was hast du mir da geschenkt?!«

    »Aber Kind, mit Hexerei hat das überhaupt nichts zu tun! Der Drache ist ein uralter Talisman; seine Kreisform stellt die Unendlichkeit dar, was bedeutet, er ist ewig. ER, der niemals schläft, hat deine Ahnen stets beschützt – nun brauchst du ihn, ich spüre es! Leg‘ die Kette um.«

    Sylviane zögerte. Aberglaube, dachte sie. Das ist nichts weiter als Aberglaube. Das Erbe von Carol. Mysteriöse alte Familiengeschichten. Das ist nichts für mich.

    »TUE ES!«

    Unter Helmines Drängen gehorchte Sylviane schließlich. Durch das Gewicht des Anhängers spannte sich die Kette und schnitt ihr leicht in die Haut. Aber die Schwere war nicht unangenehm, kühl und glatt schmiegte sich das Amulett in die Mulde zwischen ihren Brüsten, zufrieden wie ein Kind, das endlich sein Zuhause gefunden hat. Und es fühlte sich kühl an. Nicht mehr warm. Eine wohltuende Frische, eine lichte Klarheit durchströmte plötzlich ihr ganzes Sein … hinter ihrer Stirn kitzelte es, genau in der Mitte oberhalb ihrer Augen. Auf eine seltsame Weise fühlt sie sich zu dem Drachen hingezogen.

    Wie merkwürdig … mit IHM fühle ich mich so … vollständig! Herrgott – was ist das?

    Helmine nickte zufrieden. »Siehst du, der Drache ist mit dir einverstanden. Ja, ER gehört dir; du bist diejenige, die Nikolas nachgeraten ist. Du hast dieselben kühnen dunkelblauen Augen wie er, und vielleicht sogar den Heldenmut von Carol.«

    »Ich und kühn? Das bin ich ganz bestimmt nicht.«

    »Aber natürlich, mein Kind«, erklärte Helmine im Brustton tiefster Überzeugung. »Sonst würdest du das Amulett nicht tragen können, glaubt's mir. Sowohl dein Vater wie auch Severin vermochten es nämlich nicht; aus irgendeinem Grunde waren sie als

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