Erwachen
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Über dieses E-Book
In dem Sommercamp im Siebengebirge trifft sie fünf Jugendliche, die sich auch dafür entschieden haben, an der Visionssuche teilzunehmen. Einer von ihnen ist Michael, der auf alles und jeden wütend zu sein scheint. Doch Paula entdeckt bald, dass Michael noch eine andere Seite hat, die sie magisch anzieht. Insgesamt verbringen sie neun Tage im Siebengebirge: Drei Tage lang werden die jungen Leute auf die Zeit der Visionssuche vorbereitet, drei Tage und drei Nächte soll jeder für sich allein in der Natur verbringen und weitere drei Tage haben sie Zeit, das Erlebte gemeinsam zu verdauen. Diese Erfahrung wird Paulas Leben von Grund auf verändern. Roberta White, eine Schamanin aus Kanada, und Klaus Lechner, Sozialpädagoge aus Koblenz, begleiten die jungen Leute auf diesem Abenteuer.
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Buchvorschau
Erwachen - Stephanie Maharaj
Prolog
Paula klickte sich durch die Webseiten und fand schließlich, was sie suchte. Aufmerksam las sie den Artikel:
„Visionssuche am Mittelrhein
Das Geheimnis und die Schönheit in einer Visionssuche durch Fasten, Alleinsein und Ausgeliefertsein in der Natur bestehen darin, dass das Beste in den Initianten zum Vorschein kommt. In der Leere und der Einsamkeit bleibt euch allein die Wahl, soweit zu gehen, wie ihr vermögt. Die Helden in euch kommen zum Vorschein und lassen euch Dinge vollbringen, die ihr selbst nicht für möglich gehalten hättet.
Nichts, was bei einer Visionssuche passiert, ist Zufall. Alles ist heilig. Mutter Natur spiegelt wieder, was in euch vorgeht. Sie hält einen Spiegel vor und es liegt an euch, den Mut zu haben, hineinzusehen und zu deuten, was euch gezeigt wird.
Die Kunst besteht darin, die Maske der Vergangenheit fallen zu lassen. Ihr werdet viele Gründe finden, sie festhalten zu wollen, doch wenn ihr sie schließlich loslasst, entdeckt ihr dahinter ein authentisches Gesicht – und eine Kraft, zu der ihr bis dahin keinen Zugang hattet.
Wir, Roberta White, Medizinfrau aus Kanada, und Klaus Lechner, Sozialpädagoge aus Koblenz, begleiten euch auf der Visionssuche: Sowohl Erwachsene, als auch Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren.
Zur Anmeldung zum Sommercamp für Jugendliche im Siebengebirge am Mittelrhein…."
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und blickte nachdenklich auf den Bildschirm. Sollte sie es wagen? Noch einmal las sie die Anzeige und überflog die Angaben zu Zeit, Ort und allen anderen Formalitäten, die nötig waren. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, ob die Idee, daran teilzunehmen, völlig verrückt war oder vielleicht genau das, was sie jetzt brauchte. Am Ende siegte die Neugier und sie klickte auf „ANMELDUNG".
1 Ankunft im Siebengebirge
Paula sah ihrer Mutter nach, die ihr aus dem alten verbeulten Golf noch einmal zuwinkte und davonfuhr. Dann lud sie sich den schweren Rucksack auf die Schultern. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend ging sie auf die Gruppe von acht Leuten zu, die neben einem großen Zelt stand. Sie kannte keinen von ihnen und fühlte sich plötzlich sehr einsam. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ihre Mutter anzurufen und sie zu bitten zurückzukommen. Nein, das ist albern! schalt sie sich. Schließlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen hierherzukommen und sie würde das durchziehen. Außerdem hatte sie gar kein Handy bei sich, fiel ihr plötzlich ein, denn sie war ausdrücklich gebeten worden, ihr Handy zu Hause zu lassen. Zehn Tage ohne Handy und ohne Internet! Wie sollte sie das nur aushalten?! Sie fühlte sich jetzt schon wie amputiert.
Eine junge Frau mit kurzen rotblonden Haaren, die struppig nach allen Seiten abstanden, löste sich aus der Gruppe und kam lächelnd auf sie zu. „Hallo, du bist bestimmt Paula, sagte sie und streckte ihr die Hand entgegen. Paula ergriff die Hand, erwiderte den festen Händedruck und nickte. „Schön, dass du da bist. Ich heiße Johanna. Du kommst genau richtig, wir wollen gerade anfangen.
Sie gesellten sich zu den anderen, die im Kreis standen. Paula warf einen unsicheren Blick in die Runde. Die meisten sahen aus wie Jugendliche in ihrem Alter, siebzehn bis achtzehn, schätzte sie. Ein groß gewachsener Mann mit graumelierten, dichten Haaren, der ihr wegen des Altersunterschiedes sofort aufgefallen war, stellte sich gerade als Klaus vor. Ihr gegenüber stand eine Frau, die ihre dunklen Haare zu einem langen Zopf geflochten hatte. Das war sicher Roberta, die Medizinfrau aus Kanada. Vor allem wegen ihr war Paula hierher gekommen, denn es hatte sie auf Anhieb magisch angezogen, dass eine Schamanin aus Kanada die Visionssuche begleiten würde. Sie konnte gar nicht genau sagen, wieso. Vielleicht lag es daran, dass sie schon immer alles an Literatur über nordamerikanische Indianer verschlungen hatte, was ihr in die Hände gefallen war.
Paula betrachtete die Frau neugierig. Roberta trug Jeans, Mokassins und ein rotes T-Shirt, das gut zu ihrem dunklen Teint passte. Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Mandelförmige, braune Augen sahen sie aufmerksam und freundlich an. Die Frau lächelte ihr zu und Paula erwiderte das Lächeln dankbar. Klaus sagte: „Da wir jetzt vollzählig sind, sollten wir es uns erst einmal am Feuer gemütlich machen. Lasst eure Sachen einfach hier liegen und kommt mit." Er lächelte in die Runde und wandte sich um. Daraufhin setzte sich die ganze Gruppe in Bewegung, doch keiner sprach ein Wort. Paula nahm das erleichtert zur Kenntnis, denn das bedeutete wohl, dass die anderen sich alle auch nicht kannten. Dann war sie auch sicher nicht die Einzige, die sich gerade einsam fühlte.
Sie gingen quer durch das Zeltlager. Es war später Nachmittag und die Sonne schien angenehm warm durch das lichte Blätterdach der Laubbäume, die den Zeltplatz hufeisenförmig umgrenzten. Klaus führte die Gruppe an einem großen Zelt vorbei, auf eine Wiese, in deren Mitte ein Lagerfeuer brannte. Ein junger Mann saß davor und legte gerade Holz nach. Als er die Gruppe kommen sah, stand er auf und kam ihnen lächelnd entgegen. „Hallo, sind jetzt alle angekommen?, fragte er. Paula schätzte, dass er nicht viel älter war als sie selbst. Er war groß und schlank, hatte dunkles, kurz geschorenes Haar und einen Dreitagebart. Klaus nickte bestätigend: „Ja, wir können anfangen.
Um das Feuer herum standen sechs niedrige Bänke, auf denen jeweils drei Leute bequem Platz hatten. Setzt euch, forderte Roberta die Gruppe auf und ließ sich selbst neben Klaus nieder. Paula setzte sich auf die Bank gleich daneben und beobachtete, wie die anderen sich einen Platz suchten. Als Erstes fiel ihr Blick auf einen Punk, obwohl - eigentlich war er gar kein richtiger Punk. Seine Haare waren nicht gefärbt und er trug auch keinen Irokesen, aber sein Aussehen war ziemlich auffällig. Auf der einen Seite trug er die Haare schulterlang, auf der anderen waren sie kurz geschoren. Sie entdeckte drei Piercings: zwei an der linken Augenbraue und eins an der Unterlippe. An seinem rechten Ohr reihten sich ein Dutzend Kreolen aneinander. Sein kräftiger Oberkörper steckte in einem löchrigen T-Shirt, das eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Und am rechten Oberarm entdeckte Paula ein Tattoo, konnte aber nicht erkennen, was es genau war, weil es vom Ärmel halb verdeckt wurde. Sie ließ ihre Blicke weiter wandern: schwarze Jeans, Nietengürtel, schwarze Turnschuhe. Als er bemerkte, dass sie ihn musterte, sah er Paula aufmerksam an. Er hatte ein schönes Gesicht, aber irgendetwas in seinen Augen war ihr unheimlich und ließ sie schnell wegblicken. Nun nahm neben ihr ein dünnes, blasses Mädchen Platz. Sie lächelte Paula mit schmalen Lippen schüchtern zu. Paula erwiderte es und fragte sich spontan, ob dieses zarte Mädchen wirklich drei Tage lang nichts essen sollte. Denn dafür waren sie doch alle gekommen: um drei Tage allein in der Natur zu fasten. Hallo, ich bin Isabelle
, stellte sich das Mädchen vor. „Hallo, ich heiße Paula. Isabelles schulterlange Haare waren knallrot gefärbt und der lange Pony verdeckte die linke Gesichtshälfte fast völlig. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Körper, als wäre ihr kalt, was bei der angenehmen, sonnigen Wärme kaum möglich war. Paula spürte, dass sich Isabelle unter den fremden Menschen genauso einsam fühlte wie sie selbst. Mitfühlend fragte sie deshalb: „Kennst du hier jemanden?
Isabelle schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich habe Klaus ein paar Mal bei uns im Jugendzentrum in Koblenz gesehen. Er leitet dort manchmal Workshops. Durch ihn habe ich auch von der Visionssuche erfahren. Aber dass ich ihn wirklich gut kenne, kann ich nicht behaupten. „Ich kenne hier auch niemanden
, antwortete Paula und fragte weiter: „Kommst du aus Koblenz? Isabelle nickte. „Und du?
„Aus Idstein. „Wo ist das denn?
„Kleine Stadt im Taunus. Nicht weit von hier. „Ist es schön da?
Paula dachte an die kleinen Gassen mit den teilweise extrem schiefen Fachwerkhäuschen, die eine altertümliche Idylle ausstrahlten und einen krassen Gegensatz zu den modernen Geschäften und den zeitgemäß gekleideten Menschen bildeten, und entschied: „Ja, es ist eine nette, kleine Stadt. Und drum herum sieht es so ähnlich aus wie hier: hügelig, viel Wald."
Paula sah sich weiter um. Auf die Bank links neben ihnen setzte sich das andere Mädchen. Paula hatte schon vorher durch einen Brief von Klaus erfahren, dass sie zu sechst auf Visionssuche gehen würden - drei Jungen und drei Mädchen. Paula versuchte sich vorzustellen, welches Bild sie mit den beiden Mädchen neben sich wohl abgeben mochte, als ihr bewusst wurde, wie unterschiedlich sie waren. Unwillkürlich musste sie grinsen, denn verschiedener hätten sie kaum sein können: Da war die blasse, zarte Isabelle, die, von den rot gefärbten Haaren abgesehen, eher unscheinbar, ja fast durchsichtig wirkte. Und sie selbst – wie sollte sie sich selbst beschreiben? Wie würden andere sie beschreiben? Sie blickte an sich herunter, registrierte die vertrauten Löcher in der Jeans und die halb durchgelaufenen Chucks. Blass war sie jedenfalls nicht, und auch nicht zart. Sie trieb viel Sport und bewegte sich hauptsächlich auf ihrem Skateboard fort. Ihr Körper war kräftig und gut durchtrainiert. Außerdem hatte sie den olivefarbenen Teint und die wilden dunklen Locken von ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hatte. Unauffällig wanderten ihre Augen nun nach links, auf die hellen, schicken Hosenbeine neben ihr, aus denen sportliche Lederschuhe hervorragten. Paula kannte sich mit Markenklamotten nicht aus, aber was das Mädchen neben ihr anhatte, sah teuer aus. Sie betrachtete das ebenmäßige, sorgfältig geschminkte Gesicht, die blauen Augen unter dunkelblau getuschten Wimpern. Statt eines Scheitels formten die glatten, blonden Haare eine perfekte Zickzacklinie. Das Mädchen sah zu Paula herüber. „Hallo, ich bin Paula, sagte sie und lächelte verlegen, weil sie beim Beobachten ertappt worden war. „Ich bin Klara
, antwortete das blonde Mädchen ohne zu lächeln. Dann wandte sie ihren Blick wieder ab und musterte die übrigen Anwesenden eingehend. Paula bemerkte, dass Klaras Blicke jeden Einzelnen von oben bis unten abscannten. Ihre Mimik blieb dabei bewegungslos und undurchsichtig. Nur als sie den Punk betrachtete, schien in ihren Augen Missfallen aufzublitzen. Paula merkte, dass sie sich darüber ärgerte und fragte sich, was in Klaras Kopf wohl gerade vorging. Als sie erneut sich selbst herabblickte, entschied sie, dass sie lieber nicht erfahren wollte, was Klara über sie dachte.
Klaus und Roberta rissen sie aus ihren Gedanken. Sie stellten sich vor, hießen alle herzlich willkommen und erklärten ihnen den Ablauf der nächsten Tage. Die ersten drei Tage würden sie auf die Visionssuche vorbereitet werden, dann folgten drei Tage, die jeder von ihnen ganz auf sich allein gestellt außerhalb des Zeltlagers verbringen würde. Danach kamen drei Tage, die wieder alle gemeinsam im Zeltlager wären. „In dieser Zeit sollt ihr die Gelegenheit haben, in Ruhe zu verdauen, was ihr bei der Visionssuche erlebt habt", schloss Klaus seine Erklärungen ab. Paula fragte sich, was ihr in den drei Tagen wohl passieren sollte, dass sie hinterher drei Tage brauchte, um das zu verdauen. Eigentlich konnte sie sich sowieso nicht vorstellen, drei Tage allein draußen zu zelten und zu fasten, ganz ohne jede Ablenkung, und vor allem, ohne mit irgendjemandem zu reden. So ein Wahnsinn! Wie hatte sie nur so blöd sein und sich auf so etwas einlassen können?!
Nun begann Roberta zu sprechen und Paula schob ihre trüben Gedanken ärgerlich beiseite. Oh doch, sie hatte einen guten Grund hier zu sein, ermahnte sie sich selbst. Roberta zuzuhören war spannend. Sie erzählte von ihrem Leben in Kanada, von ihrer Großmutter aus dem Volk der Cree, die das alte Wissen über traditionelle Medizin und Rituale an sie weitergegeben hatte, und dass es in ihrem Dorf üblich war, junge Leute auf Visionssuche zu schicken. „Auf diese Weise verabschieden sie sich bewusst von ihrer Kindheit, treten über die Schwelle in einen neuen Lebensabschnitt und werden in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen." Das war der Teil an der Geschichte, der Paula gefiel. Denn sie wollte sich vor allem verabschieden, von dieser scheußlichen Zeit in ihrem Leben, die hinter ihr lag. Sie wollte sich von dem Schmerz in ihrem Herzen verabschieden und ein neues Leben anfangen. Deshalb war sie hier.
Roberta bat nun jeden Einzelnen, sich vorzustellen. Super, dachte Paula und widerstand mit Mühe dem Impuls aufzustehen und zu gehen. Sie hasste Vorstellungsrunden. Zum Glück begann Klaus auf seiner rechten Seite, sodass sie erst als Vorletzte an der Reihe sein würde. Das gab ihr immerhin Zeit, sich zu überlegen, was sie sagen sollte. Johanna, die junge Frau, die Paula bei ihrer Ankunft so freundlich in Empfang genommen hatte, sprach als Erste. Sie wohnte in München, hatte gerade eine Ausbildung als Erzieherin abgeschlossen, arbeitete an einer Schule mit behinderten Kindern und assistierte in den Ferien bei den Visionssuchen.Sie hatte eine helle, warme Stimme und Paula war die junge Frau auf Anhieb sympathisch. Neben Johanna saß der junge Mann, der das Feuer angezündet hatte. Er stellte sich als Thomas vor und erzählte, dass er selbst vor zwei Jahren an einer Visionssuche mit Klaus und Roberta teilgenommen hatte und ihnen seither assistierte, wenn es sein Geologie-Studium zuließ. Während er sprach, spielte er mit einem dünnen Zweig und ließ seine wachen, blauen Augen langsam und ruhig von einem zum anderen gleiten. Der Punk war als Nächster an der Reihe. Er war der Einzige, der allein auf einer Bank saß. Er wirkte genervt, als er zu sprechen begann: „Ich heiße Michael und komme aus Berlin. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er nicht mehr sagen wollte. Klaus sah ihn erwartungsvoll an, aber Michael schwieg. „War’s das oder willst du den anderen erzählen, warum du hier bist?
, fragte Klaus. „Nein, will ich nicht. Das war’s", antwortet er kurz angebunden. In seiner Stimme lag etwas Aggressives, aber Klaus hielt seinem Blick jedoch mühelos stand und meinte nur: