Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)
Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)
Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)
eBook331 Seiten4 Stunden

Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Zwanzig Jahre nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland führt Hanna Weissmann, in Emmenbrücke ein gutbürgerliches Leben. Eines Tages erhält sie einen Telefonanruf, der sie in ihre traumatische Vergangenheit zurückwirft.

In seiner Fortsetzung spinnt Roland Sommer Salner den im ersten Teil «Flucht ins Ungewisse» aufgenommenen Faden bis in die Gegenwart der sechziger Jahre hinein fort.

SpracheDeutsch
HerausgeberRoland Sommer
Erscheinungsdatum20. Okt. 2010
ISBN9781452366821
Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)

Ähnlich wie Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2)

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Fluch der Schwarzen Natter - Hoffen auf Gerechtigkeit (Teil 2) - Roland Sommer

    Der Fluch der Schwarzen Natter

    Teil 2: Hoffen auf Gerechtigkeit

    Roland Sommer Salner

    SMASHWORDS EDITION

    * * * * *

    PUBLISHED BY:

    Roland Sommer Salner

    Copyright © 2010 by Roland Sommer Salner

    Smashwords Edition License Notes

    This ebook is licensed for your personal enjoyment only. This ebook may not be re-sold or given away to other people. If you would like to share this book with another person, please purchase an additional copy for each person. If you’re reading this book and did not purchase it, or it was not purchased for your use only, then please return to Smashwords.com and purchase your own copy. Thank you for respecting the hard work of this author.

    Roland Sommer Salner, im Juli 1969 in Olten geboren, wechselte nach seiner Lehre im Detailhandel in die Tourismusbranche und arbeitet heute in einem Unternehmen, das Jugendlichen in der Schweiz zu besseren Chancen auf dem Lehrstellenmarkt verhilft.

    Seit seinen frühen Jugendjahren war der Autor immer wieder auf Reisen und hatte auf diese Weise Gelegenheit, verschiedenste Menschen aus allen Teilen der Welt kennenzulernen. Diese eindrücklichen Begegnungen hat er in Tagebuchform festgehalten und so mit dem Schreiben begonnen. Auch seine Radtouren in der freien Natur liefern dem passionierten Hobbysportler viele Ideen für seine Geschichten. Er lebt heute mit seiner Frau in Basel und ist stolzer Vater von drei Kindern.

    Lektorat: Carin Hebel-Araya, D-80807 München

    Gestaltung: Georg Liebig, CH-8500 Frauenfeld

    Foto Umschlag: Roland Sommer Salner, CH-4056 Basel

    * * * * *

    1. Kapitel

    Bei Kreuzlingen im November 1940

    Vor dem Fenster wehte stolz eine Schweizer Fahne. Mit Gewalt schleiften zwei Soldaten und ein Krankenpfleger das zehnjährige Mädchen durch einen langen beigen Korridor. Während der Soldat durch gutes Zureden versuchte, das Mädchen zu beruhigen, regte sich der Krankenpfleger masslos auf.

    «Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, uns hier mit dir herumzuschlagen! Im Grossen Kanton› würden die anders mit dir umspringen, das kannst du mir glauben! Von dort hört man ja so allerhand. Wenn es dir also hier nicht passt, dann musst du es nur sagen!»

    Wütend knallte er die schwere Holztür zu und sperrte das Mädchen in ein Krankenzimmer.

    Hanna sass schluchzend und frierend in einer Ecke, fühlte sich allein und von allen hoffnungslos im Stich gelassen. Gebannt lauschte sie dem tropfenden Wasserhahn und starrte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, ins Leere.

    Eine Ewigkeit später riss eine warme Stimme das weinende Mädchen in die Gegenwart zurück.

    «Aufstehen, Kleine! Es geht weiter.»

    Hanna erkannte sofort die Rotkreuzschwester wieder, die sie bereits an diesem Morgen betreut hatte. Sofort schöpfte sie neue Hoffnung. Sie hatte das Gefühl, dieser Frau vertrauen zu können.

    Hannas Stimme klang beschlagen.

    «Helfen Sie mir, meine Mami wiederzufinden?»

    Die Schwester schien angesichts dieser Frage überfordert.

    «Ach, Kleine! Wie soll ich das denn machen?»

    Hanna nickte eifrig.

    «Sie sind gut. Die anderen hier sind böse!»

    Die Rotkreuzschwester lächelte verständnisvoll und setzte sich neben das Kind auf die Bettkante.

    «Ach je, Kind! Ich bin auch nicht anders als die anderen Menschen hier! Sie sind nicht böse. Wir sind alle nur sehr nervös und haben grosse Angst vor all dem, was uns passieren könnte. Weisst du, wir sind schon lange weg von zu Hause und sind nur hier, um unsere Grenze zu beschützen.»

    Hanna blieb hartnäckig.

    «Wissen Sie denn, wo meine Mutter ist?»

    «Wo deine Mami ist, weiss ich beim besten Willen nicht. Hoffen wir, es geht alles gut und du kannst sie bald wieder in deine Arme schliessen.»

    Hanna schmollte.

    «Warum haben sie meine Mami denn wieder nach Deutschland zurückgeschickt? Was wird mit ihr passieren?»

    Hastig stand die Schwester auf, strich sich den Rock glatt und schüttelte den Kopf.

    «Ich weiss es nicht! Aber die Hoffnung, sie zu finden, darfst du niemals aufgeben. Auch in der dunkelsten Nacht passieren manchmal wunderbare Dinge, die wir nie für möglich gehalten hätten. – Zieh dich warm an. Du kannst nicht hierbleiben. Du kommst an einen Ort, an dem du mit Sicherheit gut aufgehoben bist!»

    Bereits eine halbe Stunde später fuhr Hanna zusammen mit anderen Flüchtlingen nach Gossau in ein Internierungslager.

    Auf der Ladefläche des Lastwagens sitzend spürte sie den kalten, eisigen Wind. Erstaunt beobachtete sie die Passanten, die neugierig am Wegesrand standen und mal kopfschüttelnd, mal erstaunt auf die in Decken gehüllten, erschöpften Menschen zeigten. Einige wenige nickten beeindruckt und hoben schüchtern ihre Hand zum Gruss.

    Hannas Mitreisende schienen ihre Ankunft in der Schweiz mehr zu geniessen. Sie jubelten den Passanten zu, sangen Lieder in einer ihr fremden Sprache und atmeten immer wieder tief durch. Eine Frau weinte und blickte ängstlich zu einem Polizisten, der am Wegesrand eine Zigarette rauchte.

    Im Lager von Gossau angekommen, entdeckte Hanna als Erstes wieder eine Schweizer Fahne. Nach einer kurzen und sehr knappen Begrüssung durch die Verwaltung wurde Hanna entlaust und nach weiteren Formalitäten einem der vielen Pavillons zugewiesen. In ihrer Unterkunft roch es nach Zigarettenrauch und es war angenehm warm. Die anwesenden Frauen blieben auf ihren Betten sitzen, als sie eintrat, doch neugierige Kinder musterten die Neue interessiert. Die Pavillonchefin stellte sich ihr als Traude vor, erklärte ihr die Hausregeln und wies ihr ein Bett zu. Ihre nüchternen Erläuterungen schloss sie mit der Bemerkung, sie seien hier nicht etwa eingeschlossen, vielmehr sei die Gefahr endlich ausgeschlossen.

    Hanna zog ihre Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Sie schloss die Augen, horchte dem Getuschel der spielenden Kinder und betete. Sie versuchte, sich ihre ersten Stunden in der «freien» Schweiz so angenehm wie möglich zu gestalten. Doch die erste Nacht im Lager war grauenvoll. Ständig fühlte sie sich von schwarzen Schatten umgeben und erwachte immer wieder in Schweiss gebadet. Als es endlich hell wurde, entdeckte sie den Stacheldrahtzaun, den das Lager umgab.

    Obschon die Mitbewohner sich sehr um sie bemühten, blieb Hanna verschlossen und liess niemanden an sich heran. Freiwillig sprach sie nie ein Wort, wurde sie etwas gefragt, waren ihre Antworten zwar höflich, aber kurz und knapp. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihre Mutter. Ihr Vater hingegen schien schon seit vielen Jahren tot zu sein, obwohl er gerade erst beim Versuch, schwimmend die Grenze der rettenden Schweiz zu erreichen, erschossen worden war.

    Drei Wochen später kehrte die Vergangenheit zurück. Wie jeden Morgen hatte Hanna zum Appell zu erscheinen. Zusammen mit den anderen Bewohnern musste sie sich in einer Viererkolonne aufstellen. Die Gruppenchefs meldeten den Bestand. Nach erfolgter Meldung befahl der Lagerkommandant den Pavillonchefs zu ihren Mitbewohnern in die Reihe zurückzutreten. An diesem Morgen liess er von zwei Soldaten eine schwere dunkelgrüne Holzkiste heranschleppen. Stolz begrüsste er dann die Flüchtlinge zum wiederholten Mal in der freien Schweiz und verwies auf das bald bevorstehende Weihnachtsfest. Mit warmer Stimme und ausgestreckten Händen sprach der Kommandant von Gottes schützender Hand über der Schweiz und erklärte der frierenden Menge, was hierzulande Tradition sei. Die Insassen wurden gebeten, ihren Rettern, den Schweizer Soldaten, als Dankeschön zu Weihnachten freiwillig Socken zu stricken. Wenige Minuten später war der Spuk wieder vorbei und alle Freiwilligen hatten sich in eine der vielen Listen eintragen lassen.

    Nach dem Appell wurde Hanna gebeten, sich umgehend beim Lagerkommandanten zu melden. Wieder schöpfte sie Hoffnung. Ein alter gutmütiger und kahl geschorener Pole mit dicken Brillengläsern begrüsste sie herzlich und bat sie, sich für einen Moment auf eine Holzbank gegenüber seinem Schreibtisch zu setzen.

    Interessiert beobachtete das zehnjährige Mädchen, wie der Mann unentwegt Zeichen in irgendwelche Formulare tippte. Als er ihre neugierigen Blicke bemerkte, schenkte er ihr erneut ein kurzes Lächeln und summte ein Kinderlied.

    Nach zwanzig Minuten hatte das Warten für Hanna endlich ein Ende. Sie wurde in einen muffigen, halbdunklen Raum befohlen. Eine Dame mit hochgestecktem Haar begrüsste sie freundlich und hiess sie, auf einem leeren Stuhl in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Hanna musste sofort an jene grauenvolle Nacht zurückdenken, als der SS-Offizier Riedle ihre Mutter misshandelt hatte. Sie presste ihre Lippen zusammen, schüttelte energisch den Kopf und weigerte sich hartnäckig, auf dem abgenutzten Holzstuhl Platz zu nehmen. Die überraschte Dame schien zunächst ratlos zu sein und sprach unentwegt auf das mitten im Raum stehende, zitternde Mädchen ein. Erst Minuten später gelang es dem kahl geschorenen Polen schliesslich, Hanna davon zu überzeugen, sich doch besser zu setzen und reichte ihr ein Glas Wasser.

    Nachdem ihre Personalien verlesen worden waren, öffnete sich erneut die Holztür. Hanna blieb fast das Herz stehen, als plötzlich derselbe Hauptmann lächelnd und nach Tabak riechend den Saal betrat, der ihre Mutter nach einer wilden, aber letztlich geglückten Flucht wieder nach Deutschland ausgewiesen hatte.

    Der Militär salutierte kurz, setzte sich und ergriff nach einem Blick hinüber zu seiner Kollegin mit sanfter Stimme das Wort.

    «Guten Morgen, Hanna Weissmann! Die meisten von uns kennst du ja bereits! Wir beide hatten ebenfalls vor Kurzem schon das Vergnügen. Ich heisse Brönimann. Schön, dich gesund hier zu sehen. Wie ich gehört habe, hast du dich trotz deiner fehlenden Eltern gut in der Schweiz eingelebt. Du bist gehorsam und artig und erledigst das, was man dir aufträgt, zuverlässig. Das ist gut so! Mit der Selbstständigkeit scheint es noch etwas zu hapern. Doch wir sind zuversichtlich, dass wir auch das noch hinkriegen.»

    Hanna schaute vor sich auf den Boden, sie zitterte und schämte sich. Dann nahm sie allen Mut zusammen.

    «Haben Sie etwas von meiner Mutter gehört?»

    Diese Frage schien Brönimann zu irritieren und nach einem Seitenblick zur Dame mit dem hochgesteckten Haar suchte er sichtlich bemüht nach einer Antwort. Bevor er weitersprach, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

    «Nein! Seit diesem, nennen wir es bedauerlichen Entscheid hatten wir keinerlei Kontakt mehr zu deiner Mutter.»

    Das Wort «wir» zog er dabei deutlich in die Länge.

    «Weisst du, wir befinden uns im Krieg und Kontakt zu den Deutschen haben wir deshalb eigentlich nie. Was du durchgemacht hast, war leider unabdingbar. Wir haben die nicht immer angenehme Aufgabe, in einer schwierigen Zeit wie dieser, Entscheidungen für unser Land zu treffen und die Weisungen unseres Bundesrates und somit den Willen unseres Volkes umzusetzen. Wir konnten deiner Mutter leider keine Aufenthaltsbewilligung erteilen, auch wenn wir das noch so gerne getan hätten. Denn nur auf diesem Weg und mit dieser Härte können wir unser Land schützen und einigermassen sicher in die Zukunft führen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass deine Mutter am Leben ist!»

    Hanna schüttelte den Kopf und ihr Gesicht errötete. Sie schnappte nach Luft und schrie.

    «Wie können Sie so überzeugt davon sein? Sie wissen ja nicht mal, wo sie jetzt ist. Sie haben sie einfach zurückgeschickt.»

    Hanna konnte nach all der Zeit ihre unterdrückten Gefühle nicht mehr verbergen. Als sie aufsprang, fiel ihr Stuhl krachend zu Boden. In einer Aufwallung von ohnmächtiger Wut rannte sie auf den Hauptmann zu und schlug mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein. Dieser lachte nur hämisch, nannte sie einen Satansbraten und stiess sie dann wie einen lästigen Hund von sich weg.

    «Hör endlich auf! Meinst du, wir sind an all dem schuld!», schrie er sie ungehalten an. «Ich habe meine Vorschriften! Ich denke, du solltest einmal darüber nachdenken, wer die ganze Misere eigentlich verursacht hat. Wegen uns habt ihr euren

    Bettel sicher nicht zusammenpacken müssen.»

    Seine Stimme verlor jetzt an Schärfe.

    «Wir tun doch nur unsere Pflicht und versuchen, das Beste daraus zu machen. Etwas mehr Dankbarkeit hätten wir schon erwartet! Schliesslich war ich es, der dich wenigstens gerettet hat. Wir hätten dich auch zurückschicken können wie deine Mutter, wenn wir gewollt hätten!»

    Die Frau mit den hochgesteckten Haaren räusperte sich und biss sich auf die Lippen.

    «Bitte! Herr Hauptmann. Ich glaube, es ist jetzt genug.»

    Der Hauptmann quittierte die Unterbrechung mit einem irritierten Seitenblick.

    «Gut, lassen wir das! Reden wir lieber darüber, warum ich überhaupt hier bin. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Im Krieg bleibt zu Hause viel Arbeit liegen. Die Soldaten sind alle auf dem Feld. Unsere Frauen sind oft allein und leisten die Arbeit der Männer. Ich habe nun die Möglichkeit, dich für Kost und Logis auf meinem Bauernhof aufzunehmen. Wir brauchen dort dringend Hilfe und du könntest uns unterstützen.» Die Stimme des Hauptmanns wurde nun beinahe väterlich.

    «Bist du einmal bei uns, musst du auch Weihnachten nicht allein verbringen und könntest sogar einen schönen Weihnachtsbaum geniessen. Was meinst du dazu?»

    Hanna hatte nicht zugehört. Sie sass zitternd und stumm auf ihrem Stuhl, wimmerte leise vor sich hin und schaute zu Boden.

    Zwei Tage später wurde sie aufgefordert, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Der Abschied aus dem Lager fiel ihr schwerer als erwartet. Die Kinder tuschelten untereinander und als Hanna den Pavillon verliess, winkten sie ihr traurig hinterher. Vor allem die Trennung von dem alten Polen machte ihr sehr zu schaffen. Mit diesem hatte sie während der letzten Tage einen Grossteil ihrer Freizeit verbracht und Freundschaft geschlossen. Er hatte sie eines Abends auf seinen Schoss gesetzt und von seiner Tochter erzählt, die er im selben Alter wie Hanna an die Nazis verloren hatte.

    Eine junge Frau holte Hanna ab. Für das zehnjährige Mädchen begann nun eine weitere Reise mit unbekanntem Ziel. Nach einer Stunde Fahrt durch eine grüne, hügelige Landschaft, an weidenden Kühen vorbei erreichten sie hupend und erschöpft ein grosses Bauernhaus mit ausladendem Dach. Die Knechte vor den Stallungen hielten mit ihrer Arbeit inne, drehten ihre Köpfe und beobachteten gespannt, wie Hanna unsicher und in vornübergebeugter Haltung auf dem Vorplatz stehen blieb. Sofort rannte eine Magd auf den Wagen zu, begrüsste Hanna herzlich und musterte sie dann neugierig.

    «Du bist ein schönes Kind. Deine Hände sind sehr fein! Meinst du, mit denen kannst du arbeiten? Wir können dir viel beibringen. Sei willkommen bei uns! Ich bin übrigens die Martha.»

    Hanna war angesichts dieser warmen und herzlichen Begrüssung sehr überrascht.

    Nachdem das Gepäck entladen worden war, führte Martha die verwirrte Hanna durch das Gehöft und wies ihr in einer Kammer mit drei anderen Mädchen ein Bett zu. Dann stellte sie ihr die Küche, ihren neuen Arbeitsplatz, vor und machte ihr einen Teller Suppe warm. Hanna nahm die Speise wortlos zu sich und musste dabei an ihren zurückgelassenen Freund, den gutmütigen Polen von Gossau, denken.

    Am nächsten Morgen wurde sie in aller Frühe geweckt. Sie erhielt eine Schürze und wurde geheissen, in der Küche mitzuhelfen. Obschon Hanna sich große Mühe gab, einen guten Eindruck zu vermitteln, war sie es nicht gewohnt, so lange zu stehen und sackte nach wenigen Stunden erschöpft in sich zusammen. Die Magd hatte zum Glück ihren guten Willen erkannt und verzichtete auf eine Strafe. Stattdessen begleitete sie sie fürsorglich in ihre Kammer und liess sie erst nach einer Stunde wieder holen.

    Hanna lernte fortan ein völlig neues Leben voller Entbehrungen kennen. Sie musste hart arbeiten und nur die unerschütterliche Hoffnung, ihre Mutter bald wieder in die Arme schließen zu können, hielt sie aufrecht.

    2. Kapitel

    Die Vergangenheit kehrte an einem Mittwoch im Oktober 1961 schlagartig zurück. Nachdem Hannas Mann, Alois Krähenbühl, gerade zu einer Übung der freiwilligen Feuerwehr ausgerückt war, griff Hanna wie jeden Abend zu ihren Schlaftabletten und ging nach einem langen, arbeitsamen Tag erschöpft zu Bett. Vor dem Einschlafen las sie noch ein wenig, doch als die Medikamente zu wirken begannen, sprach sie ein kurzes Gebet und löschte anschliessend das Licht.

    Sie war fast eingeschlafen, als schrill und durchdringend das Telefon klingelte. Hanna erschrak. Sie ahnte nichts Gutes, lief eilig ins Wohnzimmer und hob den Hörer ab. Zunächst vernahm sie nur ein Rauschen am anderen Ende der Leitung, doch kurz darauf konnte sie den Klang eines Pianos ausmachen. Jemand spielte Chopin.

    Dies katapultierte sie mit einem Schlag zurück in ihre Kindheit. Sie schauderte. Innert Sekundenbruchteilen kehrte das Bild ihrer Mutter zurück. Sie sah sie am Flügel sitzen und genau dieses Stück spielen, mit dem sie immer wieder auf ihren Konzerten Hunderte von Menschen aufs Neue verzaubert hatte.

    Hanna biss sich auf die Lippen, sie zitterte und schrie. Dann brach die Verbindung ab. Weinend fiel sie im dunklen Korridor auf die Knie, sah nur noch schemenhaft den am Kabel hin und her baumelnden Hörer und lauschte minutenlang völlig fassungslos dem Besetztzeichen, das überlaut aus ihm hervorzuquellen schien.

    Lange verharrte sie regungslos in dieser Position. Dann erhob sie sich wie in Trance und schritt benommen in ihr Schlafzimmer. Die Tabletten entfalteten gerade ihre volle Wirkung und nur mit Mühe gelang es ihr, das Bett zu erreichen. Ehe sie in einen tiefen traumlosen Schlaf fiel, beschloss sie, ihr Erlebnis für sich zu behalten. Ihr würde ja doch niemand glauben.

    Es war angenehm kühl und die Sonne schien. Am Himmel kreisten Möwen, das Wasser glitzerte. Mit hochgestelltem Mantelkragen und Sonnenbrille spazierte Max Riedle, einem Geschäftsmann gleich, mit strammen Schritten über die Kappellbrücke in Luzern. Kurz darauf stiess er auf zwei Männer in seinem Alter. Der eine war gross und schlank und wirkte distanziert. Der andere war klein und rundlich. Dieser schien sehr erfreut darüber, Riedle wiederzusehen und sprach unentwegt auf ihn ein. Nach dem ersten formellen Händeschütteln und zwei, drei Sätzen lachten sie und liefen dann zügigen Schrittes in Richtung Bahnhof. Unter dem Haupteingang blieben sie kurz stehen und informierten sich auf einem Fahrplan. Der kleinste von den dreien schaute auf die Uhr und rannte daraufhin aufgeregt zum Billettschalter. Wenige Minuten später sassen sie zu dritt in einem leeren Erste-Klasse-Abteil der Luzern-Stans-Engelberg-Bahn.

    Der inzwischen als Kriegsverbrecher gesuchte Riedle, genannt die «Schwarze Natter», lächelte zufrieden vor sich hin, drehte die Heizung herunter und legte umständlich seinen Mantel ab. Im Abteil wurde es spürbar kälter und eine Lautsprecherdurchsage mahnte die letzten Reisenden, zügig einzusteigen. Der Dicke rieb sich freudig sein Doppelkinn und klatschte in die Hände.

    «Mensch, Max! Alles ist wie früher! Sogar die Temperatur stimmt. Der Führer hatte auch immer die Fenster offen.

    Wahnsinn, dich wiederzusehen! Du siehst gut aus.»

    Riedle lachte geschmeichelt und bat dann um Ruhe.

    «Herzlich Willkommen zur ‹Operation Adlerherz›, Kameraden! Die Zeit ist reif! Nach jahrelanger Planung geht es endlich wieder los und schon bald wird die Geburtsstunde unseres wiederauferstehenden Deutschen Reiches schlagen!»

    «Wie fangen wir an?», unterbrach ihn erwartungsvoll die bleiche, hagere Gestalt, auf deren Stirn eine schlecht zusammengeflickte Narbe prangte.

    Riedle grinste überlegen und hiess seine beiden Mitfahrer mit einer gebieterischen Handbewegung schweigen.

    «Wir sind unserm Eid stets treu geblieben. Wir haben nie aufgehört, an unser Reich zu glauben! Unzählige Kameraden arbeiten täglich an seiner Wiederauferstehung. ‹Operation Adlerherz› läuft bereits seit drei Tagen. Was jetzt zählt, ist einzig Disziplin, eiserne Disziplin und Durchhaltewille, meine Herren! Ich schätze solche Unterbrechungen während meiner Orientierungen gar nicht. Kameraden, wir befinden uns im Krieg und haben keine Zeit für lange Diskussionen. Verstanden?»

    Der Narbige nickte ergeben und senkte den Kopf. Dem Dicken bebte das Kinn.

    Riedle fuhr fort.

    «Wir sind nicht nur Freunde, wir müssen Brüder sein! Alle für einen, einer für alle! Wir sind die Auserwählten, die kurz davor stehen, die Weichen zu stellen und die Geschichte wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Bedenkt, wir haben nur wenig Zeit, um alles Nötige zu besprechen, danach werden wir uns nie wieder gemeinsam am selben Ort befinden.»

    Beide nickten.

    «Ihr müsst euch bewusst sein: Opfer zu bringen gehört ab jetzt zum Alltag! Denkt an unsere Kameraden in Stalingrad, die in blutgetränkter Erde ruhen. Denkt an unsere gefallenen Kameraden in der ganzen Welt. Denkt an die Menschen, die uns und unsere Idee mit ihrem Leben verteidigt haben. Soll ihr Tod umsonst gewesen sein?»

    Der Dicke nickte begeistert, während der Narbige stumm aus dem Fenster blickte. Es roch nach kaltem Metall. Der Zug schepperte.

    «Wir müssen mit allem rechnen. Solltet ihr diese Aktion nicht überleben, ist euch der Ruhm unserer Nachkommen sicher.»

    Quietschend hielt der Zug in Stans. Die drei standen auf und erhoben ihre rechte Hand zum Hitlergruss.

    «Sieg Heil!»

    Genau in diesem Augenblick betrat eine schwer beladene alte Frau mit einem Korb Kartoffeln den Erste-Klasse-Wagen und suchte nach diesem bedrohlichen Anblick laut kreischend das Weite.

    Wieder allein im Abteil öffnete Riedle seine schwarze Ledermappe und übergab den beiden Männern einen Umschlag.

    «Hier erhaltet ihr die Planungsunterlagen für den ersten Teil der ‹Operation Adlerherz›. – Markus! Du bist wie immer für das Handwerk zuständig. Jeden zweiten Tag trinkst du zwischen sechs und sechs Uhr fünfzehn im Bahnhofsbuffet in Olten einen Kaffee und wartest dort auf Informationen. Erhältst du vier Wochen lang kein Zeichen mehr von uns, dann existiert auch ‹Adlerherz› nicht mehr und du kannst nach Hause gehen!»

    Der hagere Mann mit der Narbe nickte.

    «Karsten! Für dich habe ich einen Geheimauftrag. Alle Informationen findest du in diesem Umschlag. Verstanden?»

    Dann fuhr er konzentriert fort.

    «Ich bin die nächsten 36 Stunden in der ehemaligen Reichshauptstadt unterwegs. Ich habe wichtige Termine dort. Nach meiner Rückkehr werde ich die Operation von der Schweiz aus leiten. Alles Weitere erfahrt ihr zu gegebener Zeit. Habt ihr noch Fragen?»

    Der Dicke hob wie ein Schüler seinen wulstigen Zeigefinger.

    «Sind wir allein? Ohne Hilfe wird das bestimmt schwierig, nicht wahr?»

    Riedle hob abwehrend die Hand.

    «Erledigt euren Auftrag und lasst den Rest getrost meine Sorge sein. Wir hatten schon ganz andere Probleme zu lösen. Ausserdem haben wir sehr viele Freunde, vielleicht mehr als ihr denkt. – Ach ja, ich hab noch etwas: Solltet ihr verhaftet werden, dann vergesst schleunigst alles, was ihr wisst, und wählt den Heldentod!»

    Die Männer nickten beeindruckt.

    «So, dann lasst uns jetzt unser Werk vollbringen. Sieg Heil!»

    Hanna hatte ihr Erlebnis aus der vergangenen Nacht so gut es ging verdrängt. Unentwegt hatte sie sich eingeredet, sich das alles nur eingebildet zu haben. Wie jeden Tag stand sie auch an diesem Morgen hinter der Ladentheke ihrer Metzgerei in Emmenbrücke und bediente mit einem freundlichen Lächeln einen Kunden nach dem anderen. Doch plötzlich, kurz vor Ladenschluss, kehrte Hannas Vergangenheit ein zweites Mal zurück.

    Vor ihr stand eine gut gekleidete Dame, die sie freundlich musterte. Als sie zu sprechen begann, drehten die anderen Kunden sich erstaunt zu ihr um. Ihr österreichischer Akzent schien nicht in diese Atmosphäre zu passen.

    «Hallo, Hanna!», begann die Dame scheu. «Ich bin die Helga. Ich weiss nicht, ob du mich noch kennst!»

    In der Sekunde, in der Hanna ihre «kleine» Nachbarin aus vergangenen Zeiten wiedererkannte, liess sie erst ungläubig ihre Messer fallen und brach dann zum Erstaunen der anwesenden Kundschaft in einen ungestümen Jubel aus. Sie eilte um die Theke herum und fiel ihrer ehemaligen Schulfreundin freudig erregt in die Arme.

    Helga hatte nach jahrelangen intensiven Nachforschungen Hannas Adresse ausfindig gemacht und war nun, 21 Jahre nach deren Flucht aus Klagenfurt, ohne Voranmeldung direkt vor Hannas Ladentheke in Emmenbrücke erschienen. Es war wie ein weiterer unerwarteter Weckruf aus der Vergangenheit.

    Nach der stürmischen Begrüssung verabredeten sich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1