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Du musst den Weg des Lebens gehen: Autobiographischer Roman
Du musst den Weg des Lebens gehen: Autobiographischer Roman
Du musst den Weg des Lebens gehen: Autobiographischer Roman
eBook411 Seiten5 Stunden

Du musst den Weg des Lebens gehen: Autobiographischer Roman

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Über dieses E-Book

Ein Vierjähriger wird während des Zweiten Weltkrieges mit seinen Eltern nach Sibirien deportiert. Schwere Schicksalsschläge und unmenschliche Bedingungen prägen seine Kindheit. Dem stetigen Kampf gegen hungrige Wölfe, eisige Kälte, nagenden Hunger und Hoffnungslosigkeit hat der kleine Edmund nur seine Klugheit und seinen zähen Überlebenswillen entgegenzusetzen. Es ist sein Lebensmotto „Es gibt aus jeder Situation einen Ausweg“, das ihn durch alle Herausforderungen hindurchträgt. Viele Jahrzehnte lang beherrscht die Willkür der sowjetischen Staatssicherheit sein Leben, bis er endlich den Weg in die Freiheit findet.
Im vorliegenden autobiographischen Roman hat der Autor seine Erfahrungen mit einem Staatssystem verarbeitet, das in seiner physischen und seelischen Grausamkeit den meisten Menschen kaum bekannt sein dürfte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. Sept. 2014
ISBN9783735749413
Du musst den Weg des Lebens gehen: Autobiographischer Roman
Autor

Erich Kauter

Erich Kauter wurde 1937 im Kaukasus geboren und lebt seit 1977 mit seiner Familie in Deutschland. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er 1941 mit seinen Eltern nach Sibirien deportiert und in einem Internierungslager untergebracht. Seine Kindheit war bestimmt durch den Kampf ums Überleben. Allen Schwierigkeiten zum Trotz absolvierte er eine technische Hochschule und arbeitete in verschiedenen Schlüsselpositionen im Bereich der Elektrotechnik und Automation für sämtliche Industriezweige. Aus beruflichen Gründen verbrachte er mehr Zeit in ganz Europa als Zuhause. Für seine Hobbys blieb kaum Zeit. Erst als er in den Ruhestand ging, fing er an, mit Ölfarben zu malen und es entstanden einige Naturbilder im Stil des Naturalismus. Die Gedanken an das Schicksal der Volksdeutschen in der Sowjet­union ließen ihn nie in Ruhe. Etwa eine Million Männer, Frauen und Kinder wurden in der Internierung vernichtet. Die Internierungslager waren wie KZ-Lager, nur wurden sie anders genannt. Dieses Stück deutscher Geschichte hat Erich Kauter versucht, in seinem autobiographischen Roman „Du musst den Weg des Lebens gehen“ für die kommenden Generationen und für alle Leser, die darüber nicht informiert sind, zu beschreiben.

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    Buchvorschau

    Du musst den Weg des Lebens gehen - Erich Kauter

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    ERSTER TEIL

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    ZWEITER TEIL

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Vorwort

    Du musst den Weg des Lebens gehen,

    Kämpfe, wenn es auch sehr wehe tut!

    Bleibst du aus Schwäche stehen

    Oder verlierst du den Mut,

    Wenn dir das Schicksal tödlich droht,

    Kommt am Ende dir zur Hilfe nur dein Tod!

    Seit Menschengedenken werden weltweit Minderheiten, die nicht in das Bild der regierenden Macht passen, mißhandelt oder gar vernichtet. Manche Mißhandlungen werden öffentlich aufgearbeitet und wie ein negatives Denkmal künftigen Generationen als Mahnmal gesetzt. Doch manche Menschenrechtsverletzungen, wie die Volksvernichtung der Deutschen in der Sowjetunion, sind nie richtig aufgearbeitet worden. Über sie wird vielfach nur wie zufällig am Rande berichtet oder sogar hinweggeschwiegen.

    Im vorliegenden Roman versetze ich mich in die sibirische Weite und schildere das Geschehen aus der Perspektive eines Kindes, das sein Heimatdorf im Kaukasus 1941 auf Anordnung Stalins verlassen muss. Dabei lebe ich sein hoffnungsloses, gefahrvolles, dem Tode geweihtes Leben hautnah durch, als ob es mein eigenes wäre. Beim Schreiben musste ich mehrmals längere Unterbrechungen einlegen, um in die Gegenwart zurückzukehren, von jener Rolle und jener Zeit Abstand zu gewinnen und Kraft zu schöpfen, um weiterschreiben zu können, denn dieses Schicksal, trotz aller Wahrheit, liegt jenseits der Grenze menschlicher Vorstellungskraft.

    In diesem autobiographischen Roman sind alle Namen frei erfunden, die Vorgänge jedoch beruhen auf Tatsachen.

    Erich Kauter im Jahre 2011

    ERSTER TEIL

    Kapitel 1

    Nach starken Erschütterungen und Stößen durch das harte Bremsen kam der Zug zum Stehen. Die äußeren Verschlüsse des Güterwagens öffneten sich. Gleichzeitig schob sich die breite Tür zur Seite. Zwei bewaffnete Soldaten auf beiden Seiten der Tür bezogen kampfbereit mit dem Bajonette Stellung.

    „Dawai, dawai, wytrjachiweites! – Schnell, schnell, schert euch raus!"

    Durch das harte Bremsen flog im Güterwagen alles übereinander und jeder versuchte, einen Halt zu finden, um Verletzungen zu vermeiden, auch wenn der Güterwagen mit den zweistöckigen Pritschen hoffnungslos überfüllt war und niemand Platz zum Umfallen hatte. Während der langen Transportzeit hat man sich an die verbrauchte Luft, den Körperschweiß und Toilettengestank in diesem vollgestopften Wagen angepasst. Es gab kein Wasser und kein Essen, die Menschen waren ausgehungert, durstig und wegen der sauerstoffarmen Luft an der Erstickungsgrenze. Mit dem Öffnen der Tür kam eine kalte, frische Luft herein, wie aus einer anderen Welt, und jeder versuchte, sie schnell einzuatmen. Gespannt und durcheinander standen alle da, bis plötzlich noch ein Soldat erschien. Er sprang in den Wagen und fing an, alle hinauszutreiben. Nach mehrwöchiger Reise in dem Güterwagen, wie in einem Gefängnis mit unmenschlichen Verhältnissen, wollte jeder nur aus dem Gestank und Schmutz heraus, egal wohin. Wir waren ziemlich in der Mitte des Wagens und hatten etwas Zeit, unsere Habseligkeiten zusammenzuraffen.

    „Schau nach den Kindern, hörte ich, wie mein Vater zur Mutter sprach. „Möglicherweise werden wir Männer von den Familien getrennt. Dann ließ er sich vor uns Kindern nieder, band jedem von uns einen Schal oder etwas ähnliches um den Hals und sagte:

    „Kinder, ihr müsst jetzt brav und tapfer sein."

    „Was ist‚tapfer sein‘, Papa?" fragte ich.

    Ich bekam keine Antwort.

    Der Soldat, der alle herausschubste, zog meinen Vater am Arm und schrie:„Dawai! Dawai!"

    Wir gingen alle zum Ausgang. Als ich an die Tür kam, war ich richtig überrascht, denn vor meinen Augen öffnete sich ein Bild, das ich noch nie gesehen hatte. Es war wie in einem Märchen, ich sah einen klaren, sternenvollen Himmel, ringsherum war alles in Weiß und viele Pferde und Ochsen, eingespannt an Wagen ohne Räder, standen neben dem Zug.

    „Mama, ist das Zucker, das Weiße da?"

    „Nein, mein Kind, das ist Schnee."

    „Was ist Schnee?"

    „Oh, du wirst es noch früh genug erfahren."

    Jetzt wurden wir von Soldaten in die komischen Wagen ohne Räder geschubst. Der Kutscher unseres Schlittens, ein alter Russe in einem Pelz bis zu den Knöcheln und mit einem hochgestellten Pelzkragen, der den ganzen Kopf bedeckte, so dass er wie ein Mensch ohne Kopf aussah, fuhr sofort los und schloss sich der Kolonne an. Erst jetzt merkte ich die eisige Kälte und wir drückten uns eng aneinander. Auf unserem Schlitten war etwas Heu aufgeladen. Als wir uns von den Soldaten entfernten, sprach der Mann mit meinem Vater. „...kaputt..., ich verstand nur„kaputt, alles andere war eine fremde Sprache.

    Er meinte, die Kinder würden erfrieren, man solle sie mit Heu zudecken. Ich habe nicht alles verstanden, aber scheinbar stand uns eine längere Reise auf dem Schlitten bevor, und beim bewegungslosen Sitzen wären wir in einer halben Stunde erfroren. Mutter wollte etwas sagen, aber Vater unterbrach sie.

    „Wir können nur hoffen und beten, meine Liebe. Alles ist in Gottes Hand."

    Dann deutete er heimlich mit dem Kopf in unsere Richtung, er wollte offenbar vermeiden, über die Situation vor uns Kindern zu reden. In dem hellen Mondschein sah ich in seinen Augen etwas für mich ganz Unbekanntes glänzen. Es waren Tränen, Tränen eines Mannes, der hilflos zuschauen musste, wie seine Familie zum Tode verurteilt wurde und der selbst dagegen machtlos war. Was mag in ihm vorgegangen sein, welch einen Schmerz muss ein Vater in solch einer Situation aushalten? Tatsächlich verspürten wir bald die Kälte bis zu den Knochen durchdringen. Vater deckte uns so gut es ging mit Heu zu, zog seinen Mantel aus und legte ihn oben drauf. Um selbst nicht zu erfrieren, wollte er neben dem Schlitten herlaufen. Als er abstieg, wurde unser Fahrer nervös und schrie meinen Vater an: „Eto saprezscheno, dawai nasad! – Das ist verboten, geh‘ sofort zurück!"

    „Potschemu? - Warum?"

    „Streljat budut! – Sie werden schießen!"

    Vermutlich waren die Fahrer gewarnt worden, dass jeder, der sich von den Schlitten entfernte, einfach erschossen werden würde. So musste Vater sich wieder auf den Schlitten setzen, und wir krochen noch enger zusammen. Doch der Frost war so stark, dass er unsere Körper wie mit tausend Nadeln durchdrang. Obwohl ich in der Mitte saß, musste ich feststellen, dass sich mein Unterkiefer kaum bewegen ließ, und als ich sagen wollte: „Mama, mir ist so kalt", kam überhaupt nichts heraus, denn ich zitterte am ganzen Körper und von der Kälte tat alles weh und mein Unterkiefer war steif.

    Mittlerweile war die Schlittenkolonne schon ziemlich weit von der Ortschaft mit dem kleinen Bahnhof entfernt, der Weg ging jetzt bergauf, und im tiefen Schnee zogen die Ochsen die beladenen Schlitten noch langsamer. Am glasklaren Himmel, bestückt mit vielen glänzenden Sternen, schien der Mond auf die unendliche, weiße, hügelige Steppe. Sein kaltes Licht ließ den frischen Schnee in silbernem Glanz erstrahlen. Nur die Kälte wurde immer unerträglicher. Plötzlich blieben die bewaffneten Soldaten, die beidseitig neben der Kolonne auf ihren Pferden ritten, stehen. Laut gaben sie irgendwelche Anweisungen, dann wendeten sie ihre Pferde und ritten davon. Nachdem sie verschwunden waren, hielt die Kolonne an. Unser Schlittenführer stieg ab, zog seinen übergroßen Pelzmantel aus, beugte sich am vorderen Ende des Schlittens nieder und holte ein Paar alte Filzstiefel unter dem Heu hervor.

    „Was ist passiert, warum sind die Soldaten zurückgeritten?" fragte Vater den alten Russen.

    „Wohin willst du jetzt mit deinen Kindern abhauen? Es gibt nur Schnee und hungrige, graue Wölfe in diesen Steppen. Zieh‘ die Filzstiefel an, dann kannst du dich jetzt neben dem Schlitten warmlaufen. Deine Schuhe wirf weg, in Sibirien braucht man im Winter Filzstiefel und im Sommer Rohrstiefel, keine Schuhe. Und stell weniger Fragen, wenn du leben willst."

    „Aber meine Familie auf dem Schlitten erfriert ja!"

    Statt eine Antwort zu geben, nahm der Alte seinen Pelz, den er vorher über seiner Fufaika, einer wattierten Jacke, getragen hatte, deckte uns sorgfältig zu und sprach dabei halblaut mit einer sehr rauen Stimme etwas vor sich hin. In meiner Halbbewusstlosigkeit schien es mir, als ob uns jemand ein Schlaflied vorsingen würde. Kurz darauf fühlte ich eine angenehme Wärme, und ein wohltuender Schmerz, der mich einfach überwältigte, durchdrang meinen ganzen Körper. Ich tauchte in eine volle Bewusstlosigkeit ab und mein ausgehungerter, schwacher Körper fiel in den Schlaf. Als Mutti uns weckte, konnte ich gar nicht wach werden, und erst als sie den Pelz zurückzog und eine eiskalte Luft mich umgab, kam es wie ein Blitz in mein Gedächtnis, was vor dem Einschlafen geschehen war. Da war dann auch der Schlaf wie weggewischt.

    „Wir sind da, Kinder! Kommt schnell aus dem Schlitten heraus!"

    Die kalte Luft war jetzt noch dünner geworden, die Sterne waren verschwunden und das Morgengrau beleuchtete mit einer rosaroten Farbe die Ostseite des Himmels. Unser Schlitten stand jetzt in einem Hof vor einer kleinen Lehmhütte. Gegenüber der Hütte stand ein großer Heuschober¹, der den ganzen Hof von zwei Seiten wie eine große Mauer umfasste. Die Behausung lag auf einem kleinen Hügel, und von da oben konnte man im Morgengrauen ein weit verstreutes kleines Dorf in einer hügeligen Landschaft mit Blockhäusern und Lehmhütten erkennen. Aus den Schornsteinen der Häuser zog sich senkrecht zum Himmel ein dünner, grauer Rauch. Es lag eine Totenstille über dem Dorf und es schien, als ob alles Lebendige in dieser verlorenen Weite unter der Schneedecke begraben wäre.

    Der Alte befreite die Ochsen von ihrem Joch und unser Vater war ihm dabei behilflich. Wir nahmen unsere Habseligkeiten und gingen auf die Hütte zu. Hinter einer selbst gezimmerten Eingangstür mit einem großen, massiven Griff lag ein sehr schmaler, dunkler Flur, in dem rechts eine Tür zum Viehstall führte und links in die Behausung. Eine alte, dicke Frau in einem selbst gestrickten, langen Rock und mit einem Wollschal um den Kopf gewickelt stand in der Tür, und als sie eine Frau mit vier Kindern eintreten sah, hob sie die Hände über den Kopf und schrie ganz erschrocken:

    „Bosche moy, Deti! – Mein Gott, Kinder!"

    Die Frau ging zurück in den Raum, wischte mit der Hand den aus groben Brettern zusammengenagelten Tisch ab und stand dann mitten in dem kleinen, niedrigen Raum mit Lehmboden hilflos da.

    „Bosche moy, sadites. – Mein Gott, setzt euch."

    In der rechten Ecke gegenüber der Eingangstür stand ein riesengroßer russischer Ofen, der beinahe den halben Raum einnahm. An der Wand neben dem Tisch hing ein Regal mit Geschirr, überwiegend aus Ton, und an beiden Seiten des Tisches stand eine Bank, so dass neben dem Ofen und vor dem Tisch ein kleiner Fleck frei blieb. Die Frau sprach irgendetwas vor sich hin und bekreuzigte sich einige Male, dann nahm sie aus der Ecke neben dem Ofen etwas, das wie eine Heugabel aussah, aber nur zwei halbrunde Zinken hatte, öffnete den Ofen und zog mit der komischen Heugabel einen großen Tontopf heraus. Sie stellte ihn und vier Tonschalen auf den Tisch, goss aus dem Topf Milch in die Schalen und deutete uns, dass wir an den Tisch kommen sollten. Ausgehungert und durstig tranken wir gierig die warme Milch, sie tat uns wirklich gut. Danach zeigte die Frau auf uns Kinder und auf den Ofen und sagte:„Marsch, marsch!"

    Der Ofen war ziemlich hoch und Mutter half uns hochzuklettern. Oben auf dem warmen Ofen lag ein dicker Filzteppich aus Schafswolle und wir konnten uns alle hinlegen. Jetzt kam auch der alte Hausherr mit unserem Vater herein. Danilo, so hieß er, legte seinen Pelz auf den Lehmboden vor den Ofen, setzte sich an den Tisch und sagte zu unserem Vater, der in seiner leichten Bekleidung sichtlich blau gefroren war:

    „Du kannst mit deiner Frau auf dem Pelz vor dem Ofen schlafen."

    Vater zog die alten Filzstiefel, die ihm viel zu groß waren, aus und betrachtete seine aufgeriebenen Füße.

    Mutter sagte:

    „Es wäre gut, Richard, wenn man deine Fußblasen mit etwas behandeln könnte."

    „Die Füße werden schon heilen, aber das, was auf uns zukommt, ob wir das überleben, ist eine große Frage."

    Danilo unterbrach das Gespräch, er rief seiner Frau zu:

    „Dunja! Bringe mal das heilige, selbst gebrannte Wässerchen, mir sitzt der verfluchte Frost in den Knochen."

    Dunja kam vom Nebenzimmer mit einem Krug in der Hand, stellte ihn vor Danilo auf den Tisch und verschwand wieder. Er goss sich ein Glas Schnaps ein, schaute Vater an und sagte dann:

    „Dawai, Richard, du bist ein guter Mann."

    Er goss auch Vater ein. Danilo stürzte in einem Ansatz sein volles Teeglas herunter, stellte es auf den Tisch, wischte mit der Hand seinen Mund ab, schaute Vater durchdringend an und sagte:

    „In den dreißiger Jahren hat Stalin mich, Dunja und unsere zwei Kinder hierher verschleppt, auch viele andere aus unserer Ukraine sind verschleppt worden. Es ist sehr schwer, hier zu überleben und die Fritzen², die wir heute Nacht abholen mussten, haben nicht mal warme Kleider dabei. Richard, dir hat man alles genommen, nimm auch du, wo du kannst, sonst geht ihr vor die Hunde, nur lass dich nicht erwischen, sonst kommst du lebenslang nach Kolyma³. Wir waren anfangs zu anständig und unsere beiden Kinder sind verhungert. Du hast vier, es wird schwer, gar unmöglich sein, in eurer Situation hier zu überleben.

    Jetzt geh‘ schlafen, wenn die Sonne aufgeht, müssen wir euch Fritzen zur Dorfverwaltung bringen. Vom NKWD⁴ kommt der Kommandant mit einem Bevollmächtigten, sie werden euch schon sagen, wo es langgeht. Von unserem Gespräch sprich nicht, halt deinen Mund, ist das klar? Niemand hat dir etwas gesagt. Hier hat jede Wand Ohren und jeder Freund kann ein Feind sein. Und dann verschwindest du mit deiner Familie spurlos für immer."

    „Ich danke dir, Danilo, es gibt doch noch gute Leute auf dieser verdammten Welt", sagte Vater.

    Danilo löschte die auf dem Tisch stehende Petroleumlampe und verschwand in dem nebenan liegenden kleinen Raum, der dem alten Ehepaar als Wohn- und Schlafraum diente. Da ich im Schlitten geschlafen hatte und jetzt nicht sofort wieder einschlafen konnte, hörte ich, wie Mutter mit Vater leise sprach: „Sag mal, Richard, was sprach er von NKWD und von Kommandant?"

    „Wir werden hier wohl der Kommandantur⁵ unterstellt."

    „Aber wir sind doch keine Verbrecher."

    „Nein, das nicht, aber weil wir Deutsche sind, werden wir so behandelt. Schlaf jetzt ein bisschen, mein Schatz, bald müssen wir wieder aufstehen."

    Eine Zeitlang dachte ich über die Bedeutung des Gespräches und über die unbekannten, komischen Wörter nach. Ich hatte diese Wörter noch nie gehört und da ich niemanden fragen konnte, verdrängte ich sie und versetzte mich in meinen Gedanken in unser Heimatdorf in den kaukasischen Bergen. Dort gab es etwas zu essen, es war schön warm und wir hatten ein schönes Haus. Warum kamen die bewaffneten Soldaten und verschleppten uns so weit von zu Hause weg? In meinem Kinderverstand war die Erinnerung an die schöne, kurze Zeit in der Heimat so herrlich. Weshalb man uns hierher verschleppt hat, konnte ich natürlich nicht begreifen. In meinem Kopf ging alles durcheinander, die Gedanken wurden immer unklarer, und endlich schlief ich ein.


    ¹ Ein Schober ist eine haufenförmige Lagerungsform für Stroh, Heu und Getreide.

    ² So wurden die Deutschen genannt

    ³ Straflager, Arbeitslager im Kolymagebiet. Die Kolyma ist ein Fluß im fernen Osten Sibiriens.

    ⁴ NKWD: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten

    Kapitel 2

    Der Versammlungsraum in der Dorfverwaltung, in dem nur ein großer Tisch mit einem Stuhl stand und in dem an der gegenüberliegenden Wand die Porträts von Lenin und Stalin hingen, war überfüllt. Es waren, bis auf ein paar Ausnahmen, alles nur Fritzen, die heute Nacht hergebracht worden waren. Die Dorfbewohner standen im Hof, alle waren schön warm angezogen und schauten zu, wie man die Deutschen im Versammlungsraum zusammentrieb. In manchen Gesichtern war deutlich Hass abzulesen, andere Zuschauer konnten ihr Mitleid mit den hungrigen, armselig gekleideten Männern, Frauen und Kindern, die ja mit dem Krieg nichts zu tun hatten, nicht aus ihren Gesichtern wischen. Es waren vermutlich die, die wie Danilo auch seinerzeit die Verschleppung überlebt hatten.

    Im Raum ging ein leises Tuscheln herum, jeder wollte wissen, ob alle den Transport überlebt haben und was sie weiterhin erwartete. Die Strapazen im Güterzug und der Transport in der letzten Nacht haben tiefe Spuren in den Gesichtern der Menschen hinterlassen.

    Plötzlich ging die Tür auf und ein lauter Befehl: „Platz machen!" schlug wie ein Blitz ein.

    Die Menge teilte sich, so dass sich in der Mitte ein Durchgang bildete.

    Ein Oberleutnant in Begleitung von zwei bewaffneten Soldaten, die rechts und links an der Tür stehen blieben, trat in den Raum, ging strikt zum Tisch, legte seine lederne Feldmappe ab und schrie noch einmal:

    „Ruhe im Raum!"

    Er öffnete seine Revolvertasche, zog den Revolver heraus und legte ihn neben die Mappe auf den Tisch.

    „Alle haben Ruhe zu bewahren. Wer hier spricht, das bin ich. Jeder, den ich aufrufe, kommt hierher, ist das klar?"

    Die meisten verstanden überhaupt kein Russisch, aber nach diesem Ton traute sich niemand, etwas zu fragen.

    Dann wurde einer nach dem anderen aufgerufen, seine Personalien überprüft und hingewiesen:

    „Wer eigenwillig das Territorium des Dorfes verlässt, bekommt fünfundzwanzig Jahre Gefängnis. Ab morgen müssen alle im Dorf arbeiten. Jeder muss jeden Monat seine Anwesenheit in der Namensliste der Kommandantur mit seiner Unterschrift bestätigen."

    So ging es, bis der Name Steiner Helene fiel.

    „Steiner Helene", rief der Oberleutnant noch einmal.

    Mein Vater meldete sich:„Das ist meine Schwester, sie ist invalide, dazu noch krank und konnte nicht kommen."

    „Was heißt, konnte nicht kommen?! Bei uns können alle das, was wir wollen! Holen! Sofort!" gab er den Befehl.

    „Jawohl, Genosse Oberleutnant."

    Nach einer kurzen Zeit traten Vater und seine Schwester, die Krücken zum Gehen benutzte, in den Raum. Sie war aufgeregt und geschwächt von der Krankheit, aber ihr blasses Gesicht hatte einen gefassten Ausdruck. Da ihr das Gehen, und dann noch in krankem Zustand, große Schwierigkeiten bereitete, bewegte sie sich langsam auf den Tisch zu.

    „Ich bin Steiner Helene", sagte sie.

    „Was? Wer schickt mir solch eine Kreatur hierher?! Wir brauchen Arbeitskräfte, nicht so was. Soll ich dich sofort umlegen, damit du nicht umsonst unser Brot frisst?"

    Er griff nach seinem Revolver und schaute ihr ins Gesicht. Im Raum trat eine Totenstille ein, niemand wagte zu atmen. Er bemerkte ihre kalte Ruhe, als ihr verkrüppelter Körper sich aufrichtete, erstarrte und als ihre Augen sich in sein Gesicht bohrten. Es schien, als ob die Frau seelisch weit weg wäre und hier im Raum nur ihr verkrüppelter Körper stünde. Kein Nerv und kein Muskel bewegten sich in ihrem Gesicht. Zögernd schaute der Kommandant sie an, dabei konnte er die Unentschlossenheit in seinem Gesicht, trotz seines Hasses, nicht verbergen. Langsam legte er den Revolver wieder auf den Tisch und sagte:

    „Für dich ist eine Kugel zu schade. Krepierst von alleine, verschwinde!"

    Jemand aus der Menge half ihr, vom Tisch zurückzugehen, dann nahm Richard sie am Arm und hielt sie schützend hinter dem Rücken der Leute fest. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper. Erst jetzt konnte sie begreifen, was geschehen war und wie nah sie dem Tod gewesen war.

    Als die Liste durch war, meldete der Kommandant:

    „Wir haben für euch eine Baracke vorbereitet, unter unserer Aufsicht werden alle in der Baracke platziert."

    Die Baracke bestand aus drei Räumen. In jedem Raum stand in der Ecke ein kleiner runder Gussofen, und beidseitig entlang der Wände lag Stroh, so dass in der Mitte nur ein kleiner Durchgang blieb. Um alle unterzubringen, reichte der Platz auf dem Strohlager gerade, damit wir uns wie die Heringe in einer Dose nebeneinander hinlegen konnten. Der Raum war nicht beheizt und es gab auch keinen Brennstoff, um einzuheizen. Der Ofen selbst war viel zu klein, um bei minus fünfundzwanzig Grad Außentemperatur etwas Wärme in den Raum zu bringen. An etwas Essbares wagte schon niemand zu denken, es gab ja nichts.

    Immer, wenn einige Menschen zusammen in Not geraten, stellt sich ihr wahrer Charakter heraus und wie die Menschen so sind, reagieren sie sehr unterschiedlich. Die einen verlieren den Mut und sind sofort bereit, alles aufzugeben, andere geraten in Panik, aber es gibt dann auch noch die, die kämpfen. Diese Menschen haben einen sehr starken, ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und versuchen, aus jeder Situation einen Ausweg zu finden. Es gab nicht viele davon, doch eine kleine Gruppe Männer, unter denen auch mein Vater war, beschloss, etwas zu unternehmen. Es wurde entschieden, dass die einen sich umschauen sollten, um möglicherweise etwas Nutzbares zu finden und dass die anderen zum Vorsitzenden der Kolchose⁶ gehen sollten, um etwas Essbares zu bekommen. Da Vater die russische Sprache am besten von allen konnte, ging er mit zwei anderen Männern zur Dorfverwaltung. Die Baracke stand abseits des Dorfes oberhalb eines kleinen Baches, über den eine kleine Brücke führte.

    „Wenn wir einen Eimer finden, können wir hier unter dem Eis Wasser holen", sagte jemand von der Gruppe.

    „Und hinter der Baracke ist ein abgeerntetes Sonnenblumenfeld, niemand wird uns erschießen, wenn wir einige Sonnenblumenstängel holen", meinte Steiner.

    „Was willst du mit dem Zeug anfangen?"

    „Heizen, die sind vom Frost gut ausgetrocknet."

    „Meinst du, die sind brennbar?"

    „Aber sicher, und wie! Nur müssen wir sie einsammeln, bevor es dunkel wird."

    Die Sonne stand schon ziemlich tief und sie gingen mit schnellen Schritten weiter, auch die Kälte trieb sie voran. Der gefrorene Schnee knirschte unter den Füßen und der Frost griff die Ohren an. Die Bekleidung war keineswegs geeignet für die sibirische Kälte, denn in dem warmen Kaukasus, aus dem sie kamen, war eine warme Kleidung nicht notwendig gewesen. An der einzigen Kreuzung, die sie kurz vor der Dorfverwaltung überqueren mussten, kam ihnen ein alter Mann, ein Dorfbewohner, entgegen. Er machte einen großen Bogen um die drei Fritzen und ging, ohne sich umzudrehen, auf der anderen Seite der Straße weiter.

    „Hat er Angst oder hasst er uns?"

    „Das soll uns egal sein, irgendwie müssen wir uns gegenseitig dulden."

    „Lange müssen sie uns nicht dulden, denn wie es ausschaut, sind wir bald verhungert und erfroren."

    „Hör mal, die haben uns doch nicht so weit transportiert, um uns hier sofort krepieren zu lassen. Vermutlich werden wir hier vom NKWD als Sklaven für die Arbeit eingesetzt."

    „Ich weiß nicht, was die mit uns vorhaben. Mir ist nur eins klar, in solcher Kleidung, wie wir sie haben und ohne Nahrung halten wir es nicht lange aus."

    Sie erreichten die Dorfverwaltung, drückten gegen die unverschlossene Tür und traten ein. Der Flur war leer, die Tür in den leeren Versammlungsraum stand offen, aber kein einziger Mensch war zu sehen. Richard schaute in den Raum hinein und sah in Gedanken wieder seine Schwester vor dem Tisch stehen und den Kommandanten mit dem Revolver vor ihrem Gesicht. Welche Frechheit, mit einer behinderten Frau so umzugehen...

    „Komm, Richard, gehen wir zurück, sonst heißt es, wir sind hier eingebrochen."

    „Nein, wir werden warten, bis jemand kommt. Denkt an unsere Kinder", sagte er.

    Plötzlich ging eine Nebentür auf, und aus dem verrauchten Zimmer schaute der Vorsitzende heraus. Er war ein schlanker Mann, Ende vierzig, sehr ungepflegt, jedoch seine militärische Haltung war nicht zu übersehen.

    Er lehnte sich an die Türzarge und fragte:

    „Was wollt ihr hier?"

    Aus dem Zimmer klang die Stimme des Kommandanten: „Wer ist dort, Genosse?"

    „Hier sind drei Fritzen."

    Sofort erschien der Kommandant an der Tür, schubste selbstherrschend den Vorsitzenden zur Seite und fragte ebenfalls:

    „Was wollt ihr hier? Euch ist befohlen worden, in den Baracken zu bleiben und euch morgen früh zur Arbeit zu melden! Und ihr kommt eigenwillig hierher und stört uns?"

    „Genosse Kommandant, wir haben nichts zu essen und in der Baracke ist es sehr kalt", sagte Steiner gebrochen russisch.

    „Morgen bei der Arbeit wird es euch warm und wer nicht arbeitet, bekommt nichts zu essen. Jetzt verschwindet von hier, ich habe für heute genug von euch!"

    „Aber wenn wir verhungern oder erfrieren, können wir für Sie nicht arbeiten und wir haben kleine Kinder", sagte Steiner diplomatisch, jedoch ganz verzweifelt.

    „Kinder? ... Die sollen krepieren, ihr alle sollt krepieren." Er machte einen tiefen Zug an seiner Papirosa, einer selbst gedrehten Zigarette, verzog sein Gesicht und fuhr fort:

    „...Nein, die Kinder sollen russische Sowjetbürger werden. Ihr Fritzen sollt krepieren!"

    Er taumelte ein wenig, vermutlich waren es ein paar Wodkas zu viel für ihn. Dann sagte er etwas zu dem Vorsitzenden und jagte die Deutschen weg.

    Niedergeschlagen gingen sie zurück, niemand sprach ein Wort, aber als sie an der Baracke ankamen, liefen sie ohne Absprache an ihr vorbei und gingen zum Feld mit den Sonnenblumen. Als sie so viele Stängel, wie sie tragen konnten, gesammelt hatten, war es schon beinahe dunkel und sie beeilten sich, zur Baracke zurückzukehren. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und der Frost wurde nach Sonnenuntergang mit jeder Minute stärker. Das rosarote Licht der untergehenden Sonne schien noch schwach in der mit kleinen Frostkristallen erfüllten, frostigen Abendluft.

    In der Baracke legten sie ihre Last neben dem Ofen ab, beklopften sich mit den Armen, um ihre Schultern zu wärmen und erzählten, was alles geschehen war und wie sie behandelt worden waren.

    Die anderen Männer hatten am Bach einen alten Metalleimer gefunden, zum Glück war er ganz und nicht durchgerostet. Sie befreiten ihn vorsichtig aus dem Schnee und füllten ihn mit Wasser aus dem Bach.

    „Wenigstens haben wir Wasser und ein bisschen Brennstoff, jetzt können wir versuchen, das Wasser warm zu machen – und ein bisschen Warmwasser tut auch gut", meinte Vater und machte sich an den Gussofen, um Feuer zu machen. Es war schon ganz dunkel, als vor der Baracke ein Schlitten anhielt. Eine Frau warf etwas vor den Eingang, wendete den Schlitten und schrie laut:

    „Fritzy, kuschat! – Deutsche, Essen!"

    Die Männer, die zum Nachschauen herausgegangen waren, kamen mit einem Stück Ölkuchen aus ausgepressten Sonnenblumenkernen zurück. Scheinbar hatte sich der Besuch doch gelohnt. Der Kuchen war sehr hart und man konnte ihn nicht verteilen, aber als man ihn doch halbiert hatte, legte Vater ein Stück in den Eimer mit schon warmem Wasser. Nach und nach löste sich der Kuchen auf, die Kernschalen von den Sonnenblumen schwammen nach oben, man konnte sie entfernen, und dann bekam jeder ein bisschen nahrhafte Brühe.

    Am frühen Morgen versammelten sich alle, die das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten, auf dem Kolchosehof. Der Hof lag gegenüber der Dorfverwaltung, vor den großen Stallungen für die Ochsen und ein paar Pferde. Die meisten Pferde waren an die Front eingezogen worden und die Arbeit wurde überwiegend mit den Ochsen verrichtet. Auf dem Hof stand ein etwa hundert Meter langer überdachter, aber seitlich offener Schuppen, der als Dreschplatz und als Lager für das Korn diente. Für die Arbeit zum Dreschen, im Schweinestall und im Viehstall sind die Mädchen, Jungen und Frauen eingeteilt worden. Die Männer mussten zusammen mit einigen Dorfbewohnern mit den Ochsenschlitten das ausgedroschene Korn und Heu von den Feldern einfahren. Die Felder lagen im Umkreis von bis zu fünfunddreißig Kilometern vom Dorf entfernt und die Ochsen kamen in einer Kolonne mit bis zu zehn, fünfzehn Schlitten sehr langsam voran. Dann musste man die Getreideschober vom Schnee befreien und das inzwischen festgepresste Getreide hoch auf die Schlitten laden. Es wurde mit einem Querbalken von vorn nach hinten festgebunden, so dass ein aufgeladener Schlitten über zwei Meter hoch war. Die Arbeit nahm viel Kraft und Zeit in Anspruch, so konnte die Rückreise erst bei Anbruch der Dunkelheit angetreten werden. Nachdem alle Schlitten geladen und die Ochsen wieder eingespannt waren, kletterten die Männer auf die Schlitten hoch, und todmüde nach der schweren Arbeit gruben sie sich tief in das Getreidestroh ein, um auf dem langen Heimweg nicht zu erfrieren. Richard Steiner kletterte auf den letzten Schlitten. Er versuchte gerade, eine Höhle zu machen, um sich ebenfalls tief einzugraben, als plötzlich von unten ein großer Pelzmantel auf den Schlitten flog und Danilo schwer schnaufend hochkletterte. Richard gab ihm die Hand und zog ihn hoch. Da die Kolonne sich in Bewegung setzte, ließen sie sich schnell auf dem Schlitten nieder.

    „Danke, Richard, man wird doch alt und nach solch einer Arbeit ist die Puste aus."

    „Ja, das war anstrengend, aber wenigstens nicht kalt."

    „Komm, der Pelz reicht für uns beide und zusammen wird es wärmer."

    „Müssen wir nicht auf die Ochsen aufpassen, wir sind ja die letzten in der Kolonne, sonst bleiben wir womöglich noch zurück?"

    „O-oh nein, die Viecher sind auch froh, wenn sie in ihren warmen Stall kommen, und den Weg nach Hause findet jedes Tier, ob Ochs oder Pferd, immer, merke es dir, Richard, das muss man einfach wissen. In dieser Gegend gibt es Schneestürme, dass man vor den Augen nichts sehen kann, da muss man dann bei der Heimfahrt die Viecher nur laufen lassen, die bringen dich schon heim. Schlimm wird‘s nur, wenn Wölfe dich überfallen, aber bei so vielen Schlitten ist es nicht gefährlich."

    „Danilo, warum bist du so gutmütig zu mir? Ich danke dir für deine Hilfe."

    „Ich bin nicht gutmütig zu dir, deine vier Kinder brauchen dich, Richard. Meine sind hier bei unserer Verschleppung draufgegangen. Gott sei ihnen gnädig." Danilo bekreuzigte sich dreimal.

    Es war dunkel und Richard konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er konnte den Schmerz des alten Danilo mitfühlen. Er legte dem alten Mann seine Hand auf die Schulter und sagte:

    „Wir haben zu einer sehr schweren Zeit unser Leben zu meistern, Danilo. Möge uns Gott beistehen."

    Sie drückten einander die Hand und jeder vertiefte sich in seine Gedanken und in sein Schicksal. Ja, ihr Schicksal, das war wirklich nicht leicht. Im langsamen Schritt liefen die Ochsen, Schlitten nach Schlitten, hintereinander her. Unter dem Pelz war es warm und Richard vertiefte sich in seine Gedanken.

    Im Kaukasus hatte sein Vater dem Dorfvorstand angehört. Als nach dem ersten Weltkrieg die Kommunisten kamen, wurde er gemeinsam mit vielen anderen verhaftet. Richard war damals neunzehn Jahre alt und sein jüngster Bruder Werner wurde gerade erst geboren. Dazwischen waren vier Schwestern. Die ganze Last fiel auf Richards Schultern. Er heiratete erst, als er dreißig war, baute sich ein Haus und hoffte, es jetzt im Leben leichter zu haben. Da fing

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