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Gelber Schnee (Die Spur der Drachenpranke)
Gelber Schnee (Die Spur der Drachenpranke)
Gelber Schnee (Die Spur der Drachenpranke)
eBook190 Seiten2 Stunden

Gelber Schnee (Die Spur der Drachenpranke)

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Über dieses E-Book

"Die Spur der Drachenpranke", wie im Volksmund die Spuren der Granateinschläge hießen, ist der Originaltitel des literarischen Zeugnisses eines gebürtigen Sarajewoers über die Tragödie seiner Stadt. Als Sohn eines der bedeutendsten bosnischen Schriftsteller übte sich Antonije Zalica von klein auf im literarischen Metier. Das erklärt den Ursprung seiner Begabung: die Gewalt seiner Sprache, den gekonnten Umgang mit Metaphern, und vor allem den atemberaubenden Erzählrhythmus, der einen das Buch nicht aus der Hand legen lässt. Trotz fehlender Distanz zu den traumatischen Ereignissen gelingt es dem 1959 geborenen Autor, der sich während der Belagerung in der Stadt befand, schon 1995 das Geschehene literarisch zu verarbeiten. Die ausgefeilte Erzähltechnik verrät einen erfahrenen Literaten, der es versteht, die verschiedenen Ebenen des Erzählten, Rückblenden, Veränderung der Perspektive sowie verschiedene Stufen des (Unter)bewusstseins meisterhaft zu komponieren und in Einklang zu bringen. Die Auffächerung der Erzählzeit, die Variationsbreite der Sprache und der Stimmen macht diese Prosa ausgesprochen polyfon, wie das Svetlana Slapak in ihrem klugen Nachwort feststellt.[der Standard]

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Apr. 2016
ISBN9781310207976
Gelber Schnee (Die Spur der Drachenpranke)
Autor

Antonije Nino Zalica

Antonije Nino Zalica (fiction writer, filmmaker). Born in Sarajevo 1959, spread his living in between Amsterdam, Sarajevo and Dubrovnik. Studied comparative literature and philosophy at Sarajevo University. Writes poetry, prose, plays. His novel Yellow Snow/The Print of a Dragon’s Paw appeared in a number of different editions and translations in various European languages. His second novel Bandierra Rossa is published by Bosanska riječ - Das Bosnische Wort, Tuzla / Wuppertal. In 1994 his short film Angels in Sarajevo, as part of SAGA's productions, was awarded the European Film Academy's Felix Documentary Award.

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    Buchvorschau

    Gelber Schnee (Die Spur der Drachenpranke) - Antonije Nino Zalica

    Ein Engel auf meiner Schulter

    Das, was sein wird, ist nicht möglich. Unwichtig, dass gelber Schnee gefallen ist, im Übrigen sagte der Prophet aus Indien, es werde keinen Krieg geben.

    Der Südwind schlug direkt auf die Brust, er fuhr durch die Haare, zog durch die Augen unmittelbar bis hinein in die Gedanken, von dort kam eine kaum gekannte Schläfrigkeit zurück, und dieser Wind, dieser Jugo, zog sich tief ins Gemüt und brachte Angst und Trauer, er beschwichtigte die Erinnerung irgendwo in der tiefsten Stille der grauen Masse, zerstörte jeden Gedanken an Ruhe und schüttelte die Nerven durcheinander, so dass sich die Hände verkrampften und die Skistöcke fester umschlossen, die auf den Knien lagen. Der Skilift schwebte über den Wipfeln der Tannen und Fichten, er schwebte langsam durch die Luft, als nähere er sich dem Himmel, der grau war im gelblichen Widerschein der Sonne irgendwo tief inter den dünnen Wolken, der Lift fuhr nach oben, als wollte er geradewegs zur Quelle des Windes hinaufsteigen.

    Der verfluchte Wind peitschte vom Mittelmeer her direkt auf den Gipfel des eisigen Berges, der mit gelbem Schnee bedeckt war.

    Was sahen die müden, unausgeschlafenen Augen, was brachten sie zum Gemüt und zum Gehirn, das noch vom Vorabend und der Nacht getränkt war mit Badel-Branntwein, Rubin-Weinbrand, abstumpfendem Sliwowitz, gezuckertem warmen Wein, gekühltem Sarajevo-Bier und Pfefferminzlikör?

    Das ganze kahle Gebirge, entlang den Pisten und zwischen den Bäumen, war mit Schnee bedeckt, der war gelb, nicht gerade golden, aber dennoch ziemlich gelb; in Mulden und zum Gipfel hin hatte der Wind kleine Inseln aus frischem, rein weißem Schnee angehäuft, während die Bodenerhebungen durch den Ansturm des warmen Windes schon abgetaut waren und die braune, grabfeuchte Erde preisgaben. Warum nur gleicht mein Jahorina-Gebirge, in dem ich Ski laufe, beinahe seit ich überhaupt laufen kann, der Szenerie eines billigen wissenschaftlich-phantastischen Films? Dem Mysterienspiel eines fernen, wilden Planeten oder dem unruhigsten Bild aus gastritischen Träumen? Soll man dem Rundfunk Glauben schenken? Glauben, eine Wolke habe willkürlich feinen Staub aus der Sahara eingesammelt, den ein Wind, ebenso unverantwortlich, in Himmelshöhen gehoben habe, und das sei etwas, das in dieser Form nur einmal in hundert Jahren vorkomme? Oder soll man der Geschichte vom Vorzeichen eines großen Unglücks glauben? Oder bis zum Äußersten gehen und glauben, es handele sich um das Ende der Welt und der Zeit?

    Das Schweben war vorüber; der Lift kam oben auf dem Gipfel an, drehte sich um den Endpfosten, und meine Skier glitten über den gelben Schnee. Der Gipfel war völlig menschenleer; mein Freund war nicht da, der zahnlückige, immer strahlende Bauer, der seit Jahren hier auf diesem Berg arbeitet: Die Schaufel in der Hand, wirft er Schnee an die Stelle, wo man den Lift verlässt, oder er hilft ungeschickten Skiläufern (besonders den weiblichen) beim Aussteigen. An schöneren Tagen blieb ich mit ihm oben auf dem Gipfel, ich führte meine Freunde aus Dubrovnik oder aus Belgrad dorthin, er lieh uns ein Fernglas, wir schauten in die Runde und dann erklärte er uns: Jener spitze weiße Gipfel, das ist der Durmitor in Montenegro; der Bergkranz dort ist die Zelengora, und da … das niedrige Gebirge da hinten, das ist schon Serbien, und das da oben ist Vlasić, dahinter ist das Meer, und da unten in der Tiefe, hinter dem Haus von ,Mladost´, das ist mein Dorf Prača.

    In jenem Winter sah ich ihn gar nicht und erst später, im Sommer, traf ich ihn in Bistrik, als wir nach Wasser Schlange standen, während die Salven eines Luftabwehr-MGs über unsere Köpfe zischten und mit einem Knall in der Gegend um das schon ausgebrannte Alte Rathaus niedergingen. Er schleppte genau wie ich irgendwelche Plastikkanister. Als er mich sah, lachte er richtig glücklich. Ich erinnerte ihn wohl, ebenso wie er mich, an die Jahorina und das Skilaufen. Er berichtete mir kurz, sie hätten ihn aus Prača vertrieben, er sei Flüchtling, seine halbe Familie sei umgebracht worden.

    Meine Skier glitten über den gelben Schnee. Wohl wahr: Gelber Schnee ist nicht gerade das Schönste, was einem Skiläufer widerfahren kann (aber es heißt, vielleicht nur einmal im Leben); er ist weder besonders glitschig noch stumpf, erfordert keine ausgetretene Piste, lässt viel Bewegungsfreiheit und Wendigkeit, ermüdet nicht, erzeugt in seiner geheimnisvollen Surrealität ein echtes Gefühl von Schwerelosigkeit, Körperlosigkeit, als würden die Skier allein vom Gedanken getragen, als sei der Geist vom Körper befreit, man braucht nicht zu verlangsamen oder abzubremsen, genau wie jetzt, da ich in schönster Versunkenheit träume, Ski zu laufen. Aber was habe ich davon, wenn ich (so wie in meinem unbewussten Schweben) die Hänge der Jahorina ganz allein hinabgleite? Aus Sarajevo ist seit den Barrikaden im März keiner mehr gekommen, außer unserem kleinen Häufchen, das mit selbstmörderischer Beharrlichkeit auch weiterhin jedes Wochenende Ski laufen ging. Meine Freunde waren an jenem Morgen in unserem Wochenendhaus geblieben, ausgelaugt von einem Kater und Depressionen, die uns alle (und zwar nicht nur wegen des gelben Schnees) bedrückten; die Leute aus den Bergen aber hatten ohnehin wichtigere Dinge zu tun. Der einzige Mensch, den ich sah, war der junger Mann aus Pale, der an der Talstation des Aufzugs arbeitet, natürlich fiel es ihm gar nicht ein, meinen Skipass zu kontrollieren, sogar Cola und Bier, die er früher für teures Geld an die Tausende bunter, schnaufender Skiläufer verkauft hatte, standen einfach an dem Gitter, das den Eingang zum Gelände des Skilifts bezeichnete. Ich sah den jungen Mann umherspazieren und eine Flasche Zvečevo-Branntwein schwenken, die er, zwischen seine Finger geklemmt, am Flaschenhals trug, dann schloss er sich in sein Häuschen ein und danach schwankte er davon und ließ den Skilift allein seine Runden drehen. Am Nachmittag, als es schon dämmerte, sah ich den jungen Mann in einem Wäldchen an einem Abstellplatz für riesige Planierraupen, in der Hand eine Pistole, offenbar übte er schießen. Die Schüsse aus der Pistole hallten als Echo wider. Sie brachen sich an den kahlen Bergen und vervielfältigten sich.

    Im Bus waren nur wir. Wir vier. Niemand hielt uns auf der Rückfahrt in Lapišnica an und durchsuchte uns so wie auf dem Hinweg. Die Gruppen von Männern, bewaffnet mit Kalaschnikows und halbautomatischen Gewehren, in Uniformen der Jugoslawischen Volksarmee, der Reservemiliz oder auch ohne Uniform, ließen wir hinter uns, im Schatten und der Dunkelheit der Berge, und vor uns öffnete sich die Stadt, hell erleuchtet, prächtig, göttlich, je näher wir kamen. Und später, als die Leute uns verwundert anschauten, wie wir mit Skiern in die Straßenbahn einstiegen, lachten wir, überzeugt davon, dass wir trotz allem auch am kommenden Wochenende zum Skilaufen fahren würden, im Übrigen stand ja in der Zeitung, der berühmte Prophet aus Indien hätte gesagt, es werde keinen Krieg geben.

    Lieber Gott, das habe ich alles früher geträumt. Egal, wie schrecklich der Traum ist, es wäre besser, wenn ich auch jetzt noch träumte

    Später begriff ich, die Propheten machen keine Fehler, aber die Interpreten lesen das, was sie hören wollen. Der Inder hatte tatsächlich gesagt, es werde keinen Krieg geben (was in der Zeitung sofort als Titel erschien), aber er hatte auch hinzugefügt, in Jugoslawien müssten alle zum Buddhismus übertreten und viel beten.

    Es gibt Träume … Manche hat man in der Kindheit, andere erst ein paar Nächte zuvor geträumt, und wie alle Träume, vergisst man sie schnell (ebenso, in welcher Zeit man sie geträumt hat), doch später, wenn sich ihre düstere Landkarte in der Wirklichkeit abzuzeichnen beginnt, kehren sie ins Gedächtnis zurück und richten sich zu einer normalen, sozusagen sinnvollen Ordnung aus. So musste ich mich mehrmals an Träume erinnern, deren Inhalt mit den Orten der blutigen Ereignisse und den gewaltsam durch die Stadt gezogenen Linien übereinstimmten:

    Ilidža, die Niederung entlang der Großen Allee, zur Bosna Quelle und dem Igman. Eine Dunkelheit, wie sie nur im Traum besteht, ein vollkommenes Dunkel, in dem man alles sieht. Ich durchschreite ein Feld, stoße auf mehrere Häuser, die eine Art neue Stadt darstellen, wundere mich, dass ich sie nie zuvor bemerkt habe. Die Stadt ist völlig leer, keine Menschen, keine Pflanzen. Ein Dunkel, das sich selbst erstickt. Dann eine Hochzeit, die Braut im schwarzen Kleid.

    Ich steige hinauf zum Trebević, und oben - anstatt Wald und Steilhang - ist eine Ebene, eine Hochebene, und wieder eine unbekannte Behausung. Schwärzliche Erde ohne Menschen.

    Viele Stufen, jener Winkel der Stadt, wo sich Koševo und Breka befinden (als ich das träumte, war die Siedlung Breka mit all den Kaskaden und Stufen noch nicht gebaut), und irgendwo in der Ecke (unten in Richtung Entbindungsheim, zoologischer Garten und Friedhof) fremde Menschen, die nicht hierher gehören, Straßenrowdys, sie sprechen ekavisch und alle haben Angst vor ihnen.

    Die steile Straße in Bjelave, eine sonderbare Furcht in mir, ich laufe eilig bergauf und bergab.

    Auf meinem Moped fahre ich hinauf in Richtung Sedrenik oder Lapišnica, oben auf dem Gipfel eröffnet sich ein Ausblick, gelber Sand auf den Bergen, ein ödes Land ohne Menschen oder Pflanzen von da aus bis zum östlichen Rand.

    Ich sehe ein Rudel Hunde, ein paar schöne Rassehunde dabei, aber verlottert und mager; sie jagen die Straße entlang. Mir scheint, ein Hund hat so etwas wie einen menschlichen Fuß in der Schnauze. Ich höre noch ein Pfeifen. Werfe mich auf den feuchten Boden, renne durch nassen, schweren Schnee, meine Beine werden immer schwerer. Ich habe keine Kraft - zwei Tage nichts gegessen. Noch ein Pfeifen. Ich tauche das Gesicht in den schmutzigen, fast wässrigen Schnee. Wieder versuche ich zu laufen, meine Füße kleben am Boden. Ich atme schwer. Erreiche ein Haus, die Eingangstür ist verschlossen, ich warte, dass auch mein Freund kommt, er hat den Schlüssel, ich dränge ihn zur Eile. Hocke vor der Tür, meine Lunge röchelt bronchitisch. Er sucht den Schlüssel. Versucht ihn ins Schloss zu stecken.

    Zur Klärung: Das letzte Fragment ereignete sich in Breka, im März 1993, bei einer der vielen Bombardierungen des Krankenhauses Koševo, und es war alles andere als geträumt.

    Wie wir notgedrungen zu Zauberern wurden

    Im Sommer 1992 ging ich täglich gegen Abend zur Akademie der Bühnenkunst, um Brot zu backen. Es war sehr gefährlich, das Haus zu verlassen, es war überhaupt gefährlich, an die frische Luft zu gehen (obwohl es auch im Haus nicht besonders sicher war, aber das vergaß man im Vergleich dazu). Dennoch gab es tausend Gründe, ins Freie zu gehen, und mehr oder weniger verbrachten wir alle jeden Tag ein paar Stunden auf der Straße. Aber das war überhaupt nicht einfach. Man musste eine sinnvolle Gesetzmäßigkeit finden in etwas, das aussah wie völliger Unsinn, etwas, das keinerlei Sinn und Ordnung hatte, und offiziell meist nicht selektierte Bombardierung der Stadt genannt wurde und mehr oder weniger ständig andauerte. Wenn eine Art Ruhe herrschte, wenn, wie man sagt, die Geschütze schwiegen, dann hing die Möglichkeit, dass das Schießen wieder einsetzte, in jedem Bruchteil von Zeit. Besonders diese Minenwerfer - ihre Granaten fallen direkt vom Himmel und können auf jedem Punkt des Geländes einschlagen. Immer und überall, tatsächlich oder potentiell, das war die einzige Regel in diesem ewigen Morden und Zerstören. Heckenschützen schossen den ganzen Tag von allen umliegenden Bergen aus, die Luftabwehr-MGs trieben es bunt, wo es ihnen einfiel, wiederum ohne Reihenfolge und Ordnung, verirrte Geschosse und Granaten, abgefeuert von Panzern, manchmal auch von mehrläufigen Raketenwerfern.

    Doch da man bei einem Zustand fortlaufender Wiederholungen geneigt ist, aus allem, auch aus dem unvorhersehbarsten Geschehen, eine gewisse Ordnung herauszufiltern, fanden die Menschen mit der Zeit Regeln, nicht allgemein oder für alle geltend, sondern einzeln, jeder für sich, und sie bauten - wiederum jeder für sich - merkwürdige, geheimnisvolle Abwehrmechanismen auf. Später, als der Krieg andauerte und in seinen ersten Sommer ging, als die anfängliche Verwirrtheit allmählich von der Gewöhnung an die Situation abgelöst wurde, konnte man ab und zu jemanden auf der Straße sehen, der bedenkenlos gemächlich dahinschlenderte wie auf einem Korso, langsamen Schrittes, ruhig und gefasst, sogar über eine Brücke oder über die Kreuzungen, die als offenste Plätze galten, was in dieser scheinbaren Hierarchie auch die gefährlichsten Orte waren. Die Bewohner von Sarajevo haben sich mit dem Tod ausgesöhnt, sagten einige, und das hieß, dass so mancher seinen Tod akzeptierte, dass es so manchem nun gleichgültig war, ob er getötet wurde oder seinen Weg fortsetzen konnte. Aber ich glaube, so war es nicht ganz; sich mit etwas aussöhnen bedeutet nicht immer auch, dem zuzustimmen; es bezieht sich eher auf das Kennenlernen. Sich aussöhnen kann man nur mit etwas, das man sehr gut kennt, wie mit einem Freund oder mit einer früheren Geliebten.

    So findet man gewisse Regeln, die sich nicht in Worten sagen und noch schwieriger niederschreiben lassen, und dennoch kennt man sie. Ich erinnere mich an einen alten Mann, der jeden Morgen sein Haus verließ und mit dem schleppenden Schritt eines Greises zum Markt oder zum Park ging. Einmal pfiffen ihm die Kugeln um den Kopf; ein junger Mann begann zu rennen, der Alte aber warf ihm lächelnd zu: Lauf nur, lauf, du Narr, denkst du vielleicht, du bist schneller als eine Kugel? Ja, der Mann hatte gelernt, die kaum sichtbaren Konturen zwischen dem Dasein und dem Anderen zu erkennen; das geheimnisvolle Schema des sicheren Bewegens auf den Straßen seiner Heimatstadt zu entdecken, wo niemals gilt, dass der kürzere Weg auch der schnellere ist. Man lernt, den Tod in der Luft zu spüren, manchmal viel eher, als er überhaupt an diese Stelle kommt, man lernt die sonderbare Metaphysik, den rechten Moment zu erkennen, wann man sich im offenen Gelände bewegen kann, denn zu warten hat im Grunde keinerlei Sinn, man wählt lediglich den Augenblick aus.

    Man lernt, geheime Zeichen in anscheinend gewöhnlichen Dingen zu erkennen (die Anordnung von Steinchen auf der Erde, der Winkel, wie weit eine Haustür geöffnet ist, die Richtung, aus der eine Taube vorbeifliegt und die Wahl des Astes, auf dem sie sich niederlässt). Viele Leute lernten einfach, zu sehen (wie Castaneda sagt) oder drangen tief in die Kunst der Entelechie vor (wie es die alten Griechen nannten) oder machten sich mit den Grundlagen einer Geheimlehre bekannt (wie Rudolf Steiner es nennt), obwohl sie davon natürlich keine Ahnung hatten, und wenn sie überhaupt bisweilen davon sprachen, so nannten sie es Glück ("Denk nur, ich war stehen geblieben, um

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