80 Jahre Leben: Eine besondere Biographie
Von Hildegard Willms
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Buchvorschau
80 Jahre Leben - Hildegard Willms
Heute, am 9. Juni 2020, habe ich, Hildegard Willms, mir vorgenommen, mein Leben, von hinten angefangen, aufzuschreiben. Es ist mir ein sehr großes Bedürfnis, jeden Tag wenigstens eine Stunde nur von mir und meiner kleinen, über alles geliebten Familie zu schreiben. Am 25. September 2020 werde ich 80 Jahre alt.
An diesem Tag sollte eine große Feier stattfinden mit den noch lebenden Geschwistern meines Mannes und den noch lebenden Geschwistern von mir und all deren Kindern. Im März 2020 ist bekanntlich eine Pandemie über die Welt hereingebrochen, sodass auch meine Feier wohl nicht stattfinden wird. Die Menschen tragen Mund- und Nasenschutz (genannt Masken), müssen 1,5 Meter Abstand voneinander halten, dürfen sich nicht mehr gegenseitig besuchen. Die Kitas, Schulen, die Kirchen, Theater, Kinos, die Restaurants, ja selbst die Friseure – alles ist geschlossen. Zusammenkünfte in Vereinen und öffentliche Veranstaltungen finden nicht statt. Die Geschäfte haben nur vereinzelt offen. Nur die großen Lebensmitteldiscounter haben noch geöffnet. Es fing sogar damit an, dass die Menschen die Ware im wahrsten Sinne des Wortes »hamstern«; auch steht man in der Schlange, es wird nur eine bestimmte Zahl an Menschen in die Läden hereingelassen. Die Frauen und Männer an den Kassen haben Unglaubliches zu leisten. So ist es auch in den Krankenhäusern. Die Intensivbetten, die Masken für die Ärzte, die Schutzanzüge, alles ist nun knapp, sodass die Schwerstkranken kaum beatmet und versorgt werden können. Viele Operationen müssen zurückgestellt werden. In allen Ländern sterben Tausende von Menschen. Von daher, wenn also kein Wunder geschieht, wird auch das Fest zu meinem 80. Geburtstag nicht stattfinden können.
Der unsagbare Konsum der Menschen, die Umweltschäden, der Größenwahn der Firmen, der Umgang mit Wald, Wasser und Tieren, die Verschwendung, die Großmannssucht, der große Reichtum – mit den Folgen großer Armut, all das hat sicherlich zu diesem elenden Desaster geführt.
Mein Mann Peter wurde am 11. Juni 2020 83 Jahre alt. Die Geburtstagsfeier war eher schlicht, dabei sehr angemessen. Es waren unsere beiden Söhne, Ralf, 57 Jahre, und Olav, 56 Jahre, mit Schwiegertochter Angie hier, in unserer Wohnung, und natürlich auch ich, und wir haben unseren allerliebsten Mann und Papa sehr geehrt. Ganz viele Anrufe, Briefe trafen ein. Handy-Musik, frisch gebackene Torte, viele Geschenkgutscheine um auszugehen, wenn wir es wieder dürfen, wurden geschenkt; es war ein wunderschöner Tag, auch mit einem Spaziergang durch unsere herrliche Natur.
Ralf wohnt, wie wir, in Rheine. Er hat eine kleine Eigentumswohnung, die er alleine bewohnt. Ralf hatte sich sehr schwergetan, sich hier im Emsland einzugewöhnen. Peter und ich hatten es damals nicht überschauen können, wie schwer es ein 15-jähriger Junge haben kann, der in Dortmund aufgewachsen war, aber davon später.
Auch unser 14-jähriger Sohn Olav hatte es sehr schwer in dieser Region, schulisch und auch menschlich war es für unsere Jungs ein sehr großes Desaster. Peter und ich hatten so große Sorgen, überhaupt hier Fuß zu fassen, sodass unsere Jungs wohl oft gar nichts von ihren Problemen uns gesagt haben.
Peter und ich haben doch schon mehr Anschluss bekommen; die Menschen, da muss man halt, wenn man dazuzieht, auch auf sie zukommen. Peter konnte im Gesangsverein und auf Festen mit seiner herrlichen Tenorstimme sehr viele Menschen begeistern, ein großes Geschenk, dass ihm diese weiche, wunderbar klingende Stimme in die Wiege gelegt wurde. Sein Vater hatte auch diese einmalige Stimme, sowie auch Peters Bruder Franz und Bruder Herbert, so war der Umzug wohl für uns beide nicht so schlimm. Wir hatten neben dem Gesangsverein, den Peter donnerstagsabends aufsuchte, auch einen Fahrradclub. So fuhren wir mit 14 Ehepaaren jedes Jahr über Pfingsten 3 Tage mit dem Rad weg. Ein Paar musste die Tour planen, so war es für alle anderen eine Überraschung. Wir hatten alle sehr viel Spaß in unserem Verein KBFC, d. h. »Kleinberliner Fahrradclub«; man erklärte uns, dass Mesum den kleinsten Bahnhof und Berlin den größten Bahnhof in Deutschland habe. Auch ich hatte mit 7 Frauen einen Club, der hieß »Sieben auf einen Streich«. Wir sind dann, wenn die Männer gesungen haben, schnell gelaufen, da hatten wir auch immer sehr viel Spaß. Jeder musste jedes Mal 5 Euro bezahlen, und irgendwann machten wir mit dem Geld eine Radtour und sind zusammen schön essen gegangen. Auch konnten Peter und ich an vielen Einladungen wie zu Geburtstagen und Silberhochzeiten teilnehmen, das war immer sehr schön.
Die schlimmen Geschichten waren die, die ich erst viel, viel später erfahren musste, und dazu gehörte, was da alles an Mobbing lief in den Schulen. Ralf kam nach Hause, da hatte er vorgespielt an Weihnachten, er hatte keine einzige Saite mehr an seiner Gitarre. Ralf war auch ein sehr guter Fußballer, da hatte er auch schlimmes Mobbing erfahren müssen. Dennoch hatten beide auch Freunde. Bei Ralf war es Michael, bei Olav war es Hermann, bei Ralf waren es Petra, Doro, Hennes, da war das »Albatros«, bei Olav war es Karin, mit der er sich dann verlobte. Wir lasen es in der Zeitung: »Unsere Eltern geben unsere Verlobung bekannt.« Peter und ich waren auf Norderney, ja wir waren erstaunt … Es gab ein sehr großes Fest in der »Kolge«. Ja, es schien alles noch zu werden. Ralf machte Interrailtouren mit Petra nach Griechenland. Auch das waren für unsere Jungs doch gute Erfahrungen. Aber da kam noch die Entscheidung des Berufes. Ralf war in dieser Zeit nicht gewillt und auch nicht in der Lage, wirklich für sich selbst etwas zu entscheiden. Die Schule war für ihn ein Gräuel, und das war schon nach der Grundschule so, er hatte den Übergang in ein Schulsystem zu absolvieren, wo man selbst fast ohne Führung war, ich weiß nicht wie ich das nennen soll, ohne dass eine gewisse Begeisterung bei den pubertierenden Jugendlichen erzeugt wurde, ich habe es nie ganz herausfinden können, woran es lag. Aber ich denke, dass Peter und ich da nicht mutig genug waren, da gemeinsam mit Ralf etwas zu erarbeiten. Ich bin heute noch sehr traurig darüber, dass wir dies nicht gemeinsam angegangen sind. Ralf hatte sich stets sehr »abgelenkt« mit Musik. Er hatte in Elte mal eine Ferienbeschäftigung so zur Probe an einer Tankstelle, er hatte vergessen den Tankdeckel draufzuschrauben, da wurde er wieder heimgeschickt. Da kam ihm die Idee, doch mal zu Tante Dorle in den Schwarzwald zu fahren. Er ist dann mit deren Mann Hubert mit zur Baustelle gefahren. Hubert war selbstständig und er hatte sich spezialisiert auf das Pflastern von Vorgärten, spezielle Mauern an Friedhöfen. Er konnte sehr viel, er war ein einfacher Mann, aber sehr gefragt in seinem Fach. Da kam Ralf nach einer Woche wieder heim, er war voll begeistert, was er da alles erlebt und gesehen hatte. Da war ein Bauingenieur gewesen, der war an dieser Baustelle mit seinem Porsche vorgefahren und hatte die frisch gelegten Steine kontrolliert; da hatte Ralf beobachtet, wie dieser Mann zum Auto gegangen und seinen Blaumann übergezogen und nachgemessen hatte; er sagte, »Das ist so und so besser«. Ralf war so beeindruckt, dass er nach Hause kam und sagte, ich möchte Bauingenieur werden, da verdiene ich 80.000 DM im Jahr und kann dann die ganze Welt sehen. Peter hatte sofort seine Beziehungen spielen lassen, einen früheren guten Kunden angerufen und gefragt, ob er Ralf als Lehrling nehme. Peter hatte aber zu Ralf gesagt: »Junge, es reicht auch, wenn Du ein sechswöchiges Praktikum da machst, das reicht, da brauchst Du keine 3 Jahre zu lernen«; nein, Ralf bestand auf diese 3-jährige Lehre, und er ist fast daran zerbrochen, aber er hat es uns nicht gesagt, er hat die Gesellenprüfung gemacht. Sich dann informiert, weil er nicht zum Bund gehen, sondern Zivildienst machen wollte, als Rettungssanitäter. Er hat das ganz allein durchgezogen, in Osnabrück, dann hat er in Bremen den Rettungssanitäter gemacht. Zuvor mit viel Glück die Mittlere Reife bestanden, da war Papa noch eingesprungen und hatte mit dem Schulleiter gesprochen. Ralf ist dann nach Aachen, um dort das Abitur zu machen. Er hat dort auch Freunde gefunden, Franz und Ingo, sie waren sehr oft unterwegs und Ralf hat es mit der Schule nicht so genau genommen. Ich hatte mal den Namen des damaligen Deutschlehrers von Ralf ergattert, ja ich rief ihn tatsächlich an und er sagte mir: »Wer sind Sie, die Mutter von Ralf? Nein, dieser Junge bekommt von mir kein Abiturzeugnis, der macht mich fertig. Er kommt jeden Morgen zu spät, mit einem Becher Kaffee in der Hand, er blamiert mich bis auf die Knochen, alles in allem ist er in Deutsch viel besser als ich, nein ich bin froh, wenn ich den nicht mehr sehen muss.« Also Ralf kam zurück, jetzt was tun? Interesse hatte er an nichts. Wir waren damals selbstständig, da komme ich aber noch zu. Da hat Peter gesagt: »Du kannst bei uns im Betrieb die Angebote machen.« Er saß dann bei mir im Büro, er konnte alles, wenn er wollte, aber wollte sein eigenes Ding machen, kommen und gehen wann er wollte. Peter sagte: »Egal ob er mit zerrissenem T-Shirt kommt oder mit offener Hose, der Junge bleibt, dann hat er wenigstens einen kleinen Rentenanteil im Alter.« Das Geschäft ging auf einmal schlechter, unsere Nische war eingebrochen, unsere Lieferwerke lieferten wieder selber aus. Da sagte eines Tages Peter: »Wir müssen immer billiger werden, der Gewinn wird immer mickriger, es lohnt sich nicht mehr, alle Grenzen sind offen, jeder liefert, billig, billiger, am billigsten, wir legen Geld drauf, wir haben 20 Festangestellte, das