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Mosches Reise
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eBook269 Seiten3 Stunden

Mosches Reise

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Über dieses E-Book

Mosche führt ein ganz normales Leben als Rabbiner in Tel Aviv. Bis zum Tag, wo das Bügeleisen seiner Frau aussteigt. Auf dem Weg zum Kaufhaus nimmt er fremde Klänge wahr, die er so noch nie gehört hat. Zusammen mit seinem Sohn Uri folgt er nicht nur dieser Musik, sondern einem ganzen Stamm, dessen Ursprung weit mehr mit Mosche zu tun hat, als dieser erst glauben wird. Für Mosche beginnt eine abenteuerliche Reise bis ans andere Ende der Welt, die so plötzlich zu seiner ganz eigenen wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. März 2020
ISBN9783347021501
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    Buchvorschau

    Mosches Reise - Doris Herrmann

    König Sargon

    Immer wenn in Israel die Sommerhitze von den Dächern glühte, war es Zeit für die grossen Ferien. Alle Schüler freuten sich auf zwei Monate ohne Lernen. In Tel Aviv radelten gerade unzählige Kinder und Jugendliche mit ihren Badesachen und einem Picknick im Gepäck in Richtung Meer. Mitten unter ihnen war auch ein in die Jahre gekommener Wagen auszumachen, der die Strandpromenade entlangfuhr. Darin sassen Rabbiner Mosche Level und seine Frau Daliah. Die Fenster hatten sie zur Hälfte heruntergekurbelt, denn das Auto war so alt, dass es über keine Klimaanlage verfügte. Während die heisse Luft nur so um Daliahs dunkelbraune Haare wirbelte, hatte Mosche einen Strohhut auf, der unterhalb seines runden Kinns locker zusammengebunden war, an dem sich ein kurzer, stopperliger Bart entlangzog. Die oberen Knöpfe seines luftigen, weissen Hemdes hatte er aufgemacht. Daliah trug einen Sommerrock und einen leichten Pulver mit einem weiten Halsausschnitt. In ihrer Freizeit kümmerte sie sich wenig um das Kleidergebot, wonach orthodoxe Juden ihre Arme und Schultern bedecken sollten. Auch ihr Haar verbarg sie ausser bei feierlichen Anlässen nicht. Mosche hingegen richtete sich aufgrund seiner Funktion als Rabbiner schon mehr danach. Während seiner Vorstandsitzungen in der Talmudschule zwängte er sich jeweils in ein weisses Hemd, das bis zuoberst zugeknöpft war, und zog sein schwarzes Jackett darüber. Deshalb trug Daliah immer eine grosse dunkelblaue Stola in der Tasche mit, so konnte sie sich diese bei Bedarf über Kopf und Schultern legen.

    Daliah und Mosche hatten beide tiefdunkle Augen und einen sanften Blick. Unter sich sprach das Paar eine Mischung aus Hebräisch, Jiddisch und manchmal sogar Polnisch, ihrer Muttersprache, stammten doch beide ursprünglich aus Polen. Daliah war bereits als Kind nach Israel eingewandert, sie sprach daher ein astreines Hebräisch. Mosche hingegen war 14 Jahre alt, als er mit seinen Eltern nach Israel emigrierte. Sein polnischer Akzent war noch immer leicht zu hören, weswegen seine Frau ihn manchmal liebevoll aufzog. Vor allem dann, wenn er das «r» mit der Zunge rollte, was zu jener Zeit in Israel immer seltener zu hören war. Insgesamt pflegten die beiden jedoch eine sehr harmonische Beziehung. Und wenn es doch einmal Streit gab – auch Daliah und Mosche waren nicht davor gefeit –, waren sie darauf bedacht, den Zwist mit Witz zu lösen.

    Nun bahnte sich Mosche mit tiefernstem Gesicht langsam seinen Weg durch den dichten Verkehr entlang der Strandpromenade. An einer Seitenstrasse bog er links ab und begab sich in die stark belebte Ben-Yehuda-Strasse im Herzen Tel Avivs. Obwohl er generell ein geduldiger Mensch war, verliess ihn diese Eigenschaft vor allem dann, wenn die Ampel auf Rot stand. In solchen Momenten wurde Mosche nervös. Das ganze Land war ausserdem eine einzige Baustelle, und all die vielen Absperrungen brachten seinen Geduldsfaden langsam, aber sicher zum Reissen. Mosche knurrte leise. Daliah bemerkte seinen Unmut sogleich und versuchte ihn zu beruhigen: «Entspann dich ein bisschen. Unsere Blechkiste wird sonst noch zusammenbrechen.»

    «Es geht hier nicht um Entspannung», antwortete ihr Mosche genervt. «Du bist diejenige, die geplant hat, das tiefgekühlte Huhn im Backofen zu grillen. Und dann willst du noch mit den Jungs an den Strand! Wie soll das alles zeitlich aufgehen?» Normalerweise hätte Daliah sich über den vorwurfsvollen Ton Mosches aufgeregt, aber heute liess sie sich nicht aus der Ruhe bringen. «Mosche», sagte sie ruhig, und ein Lächeln zog ihre Lippen fein nach, «ich glaube, du hast vergessen, dass wir heute gegen Mittag von zwei grossen Schuljungen abgeholt werden.»

    «Ach wirklich? Zum Mittagessen?» Mosche verstand nicht recht, worauf Daliah hinauswollte.

    «Weisst du denn nicht mehr? Heute ist doch der letzte Schultag.

    Also freu dich gefälligst!»

    Dass die Schulferien vor der Tür standen, war dem Verkehr zu entnehmen. Langsam erinnerte sich Mosche wieder.

    «Du hast recht», sagte er – den Gedanken an ein Mittagessen stimmte Mosche wieder versöhnlich.

    Endlich entkamen sie dem Verkehrschaos und fuhren in beschleunigtem Tempo dem Vorort entgegen, wo sie wohnten. Keine fünf Minuten später bogen sie in ihre Strasse ein. Direkt vor dem Gartentor eines kleinen Einfamilienhauses hielt Mosche an. Die Fassaden waren längst stark von Wind und Sand verstaubt, teilweise auch zerfressen vom Salz aus der Luft.

    Daliah stieg aus dem Auto und machte mit ihrem scheppernden Schlüsselbund die Haustür auf. «Uri! Israel! Wir sind da!», rief sie ihren elf- beziehungsweise knapp dreizehnjährigen Jungs zu. Doch im Haus war es still. «Hallo! Wo seid ihr denn?»

    Daliah lauschte nach Kinderstimmen. Sie wunderte sich und rief abermals nach ihnen, aber es kam nichts von den beiden sonst so gewieften und temperamentvollen Jungs zurück. Daliah eilte besorgt in die Küche. Noch wusste sie nicht ganz, wie ihr geschah. Sie sah sich in der Küche um: Auf dem Tisch lag eine leere Packung – das tiefgefrorene Huhn war weg. Im Affekt machte sie die Backofentür auf, doch auch dort lag das Grillgut nicht. Dann schaute sie im Kühlschrank nach – vom Geflügel fehlte jede Spur. Dafür lag der frischgebackene Kuchen, den sie am Morgen noch in Windeseile gebacken hatte, bevor sie aus dem Haus gegangen war, immer noch unberührt da. Ihr fiel auf, dass Kartoffeln und Paprika fehlten. Das Brot vom Vortag und die Gewürze standen allerdings noch an ihrem gewohnten Ort. Daliahs Blick tastete die ganze Küche ab, sie verspürte das Bedürfnis, zu prüfen, ob etwas Wertvolles fehlte. Dann blieb ihr Blick beim Fensterbank hängen. Überrascht stellte sie fest, dass die antike silberne Kaffeekanne im leeren Blumentopf stand. Daliah wurde es mulmig zumute. Immer noch mit den Zeitungen und der Post beladen, die sie vor einigen Minuten aus dem Briefkasten gefischt hatte, ging sie ins Wohnzimmer. Mosche war wohl in sein Büro verschwunden, doch Daliah kam gar nicht erst auf die Idee, ihn zu rufen. Sie war auf der Suche nach fehlenden Gegenständen, hatte sie doch einige Erbstücke ihrer Familie aufgestellt. Sie prüfte mit ihrem Blick das Regal, blieb wiederum bei der Vitrine hängen und traute ihren Augen nicht. Die Vitrine war fast ausgeräumt. Fast alle antiken Gegenstände aus Silber, Zinn, Bronze, Ton und Elfenbein waren weg. Hingegen stand alles, was in ihrer Sammlung aus Porzellan oder Glas war, nach wie vor an seinem Platz. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, den sie beunruhigte: War etwa eingebrochen worden? Zielten es die Diebe auf gewisse Dinge ab? Daliah konnte immer noch nicht glauben, was sie da in ihrem Wohnzimmer sah. Fragend hielt sie sich ihre Hand vor den Mund. Die Polizei anrufen! Das war das Einzige, was ihr in dieser Situation sinnvoll erschien. Immer noch mit einer Hand am Kinn lief Daliah zum Telefon, das beim Eingang auf einem kleinen Tischchen stand. Noch bevor sie überlegen konnte, wie die Nummer des Polizeinotrufs lautete, fand sie das Gerät mit einem grossen Zettel bedeckt vor. Daliah erkannte in den auf Hebräisch geschriebenen Zeilen sofort die feinsäuberliche Handschrift Uris:

    «Am 12. Jupita 707 vor der Zeitrechnung

    Ihr seid ausgeplündert worden und werdet um Punkt zwölf Uhr abgeholt und nach Assyrien gefahren. Bitte vorerst nur folgende Bedingung einhalten: Historische Kleidung anziehen. Liegt alles auf eurem Bett bereit.

    König Sargon II. und sein Gefolgsmann Baspoi.»

    Allmählich liess die Anspannung nach, und Daliah wurde klar, wer die Täter waren. Erleichtert lachte sie auf und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war höchste Zeit, nur noch knapp vierzig Minuten, bis sie abgeholt werden sollten. Sie kannte den Humor ihrer beiden Söhne, und somit beschloss sie, dem Spektakel, das bevorstand, beizuwohnen. In der Aufregung hatte sie völlig vergessen, wo Mosche eigentlich war. Da hörte sie die Wasserleitung laufen. Sie eilte ins Schlafzimmer und entdeckte auf dem Bett einen Rock aus grobem Leinen, der von Hand mit dickem Faden genäht war. Daneben lag ein geflochtener Gürtel aus Jutegarn. Flugs ging sie zur Tür des Badezimmers, wo ihr Mann gerade duschte. Sie machte sie einen kleinen Spalt auf, rief ihm heiter zu: «Mosche, beeil bitte! Zieh diese Toga an!», und deutete auf den Zettel.

    «Ja, das habe ich gelesen. Ich habe einen leisen Verdacht, was die Jungs im Schilde führen», rief er durch den Dampf. «Kannst du dich an die letzten Wochen erinnern, als Uri nie erzählen wollte, was sie gerade in der Schule zum Thema hatten?» Mosche stellte das Wasser ab, schnappte sich das Tuch, das er über das Waschbecken gelegt hatte, und fing an, sich abzutrocknen.

    «Stimmt, jetzt wo du es sagst, fällt es mir wieder ein. Ich erinnere mich sogar, wie ich einmal heimlich über Uris Schulter auf den Bildschirm geschaut habe. Also, lassen wir uns überraschen.» Daliah eilte wieder zurück in die Küche, stöberte etwas im Schrank herum und holte gut gelaunt zwei Zinnbecher heraus. Diese beiden Erbstücke verstaute sie in ihrer langsam in die Jahre gekommenen Tasche. Nun waren beide fertig, Mosche setzte den Hut auf.

    «Also Mosche! Im assyrischen Reich trug doch niemand einen solchen Hut!», platzte es aus Daliah. Sie stürzte abermals in die Küche und suchte hastig im Geschirrschrank nach etwas. Dann kam sie mit einer kleinen grobgeflochtenen Schale zurück und setzte sie lachend auf den leicht welligen Haarschopf ihres Mannes: «Jetzt passt es!», sagte sie zufrieden.

    «Trugen die paar wenigen Juden, die es im assyrischen Reich gab, eigentlich auch eine Kippa?», fragte Mosche beschwingt.

    «Möglich», antwortete Daliah nur und hängte die prallgefüllte Strohtasche um. Dann musterte sie Mosches Füsse und sagte: «Jedenfalls hatte wohl kaum einer solche Schuhe an. Komm, lass uns barfuss gehen.» Mosche tat es seiner Frau gleich, streifte seine Sandalen ab wie sie ihre Ballerinas. Im selben Moment hörten sie ein Rattern. Sogleich begaben sie sich nach draussen, und Mosche schloss die Haustür hinter sich ab. Vor ihnen stand ein hölzerner Wagen mit vier Speichenrädern. Gezügelt mit Holzstangen und dickem Leder, standen zwei Esel vor dem Wagen. Mosche und Daliah streichelten den einen, der gerade vor ihnen stand. Zwei Kutscher, ebenfalls barfuss und in Jutenrock, halfen den beiden, auf den Wagen zu steigen, was sich als kein einfaches Unterfangen erwies. Als alle sassen, gab es ein «Hü!», und sie fuhren los. Allerdings war alles sehr wackelig, und der Holzwagen schüttelte die beiden Passagiere mächtig durch, so dass sie krampfhaft an der Sitzkante nach Halt suchten. Einige Passanten schmunzelten, manche lachten laut. Mosche und Daliah wussten nicht recht, ob aus Wohlgefallen oder Spott, und so versuchten sie, das Gelächter ringsherum zu ignorieren. Daliah zog Mosches Unterarm an sich und sagte lachend: «Ich kann es kaum erwarten, was uns da geboten wird», und rutschte dabei beinahe vom Sitz.

    «Ja, ich bin auch recht gespannt», sagte Mosche nüchterner und versuchte seine Frau hochzuziehen. Nach gut fünf Minuten verschwand die vorstädtische Häuserzeile, an der sie vorbeifuhren, und ein sandiger Pfad tat sich vor ihnen auf. Es erschienen Dattelbäume und Olivenhaine. Sie waren froh um all den Schatten, der sich regelmässig über ihren Köpfen fand. Doch die Hitze blieb unerträglich und drang unbarmherzig in den Körper.

    Über eine halbe Stunde war vergangen, da stieg ihnen plötzlich ein würziger Geruch in die Nase – Grillade –, und beide stellten fest, dass sie eigentlich tierischen Hunger hatten. Sie waren zu Hause derart in Eile und Aufregung gewesen, dass sie vergessen hatten, etwas zu essen. In der Ferne sahen sie Rauch aufsteigen, dann erkannten sie die Umrisse offener Lehmhütten. Als sie davorstanden, hielt der Wagen an. Aussteigen ging viel einfacher als einsteigen. Daliah und Mosche schlenderten gemächlich durch das historische Dorf, das nun eine ganze Woche lang aufgebaut blieb. Die Klassen hatten alles eigens für die Eltern, die im Dorf jederzeit willkommen waren, errichtet. Bewundernd sahen sich die beiden um und stellten fest, dass alle Schulkinder entweder in Jute oder in schalartige Kleidung gehüllt waren. Manche trugen einen Gürtel aus geflochtenen Bändern, andere hatten eine gezwirnte Schnur umgebunden. Alle liefen barfuss, das Haar hatten die meisten Kinder zerzaust. Unter dem wenigen Schatten, den die kurzen Dächer warfen, waren die meisten mit irgendeinem Handwerk beschäftigt. Die einen spannen Leinen oder Schafwolle in viele kleine Spulen, andere woben an selbsterrichteten Gewichtswebstühlen grobe Teppiche oder Stoffe. Wiederum andere Kinder töpferten Gefässe oder mahlten Weizen zu Mehl, um später Brot in selbstgebauten Öfen zu backen. Angefeuert wurde mit getrocknetem Kamelmist oder Holz. An den Feuerstellen wurden Fleischspiesse über der offenen Glut gedreht. Das Geflügel-, Lamm- und Rindfleisch wurde mit frischen Kräutern aromatisiert. Etwas weiter weg auf gezäunten Weiden grasten Esel und Ziegen. Ein paar dunkle Katzen – grösser als übliche Hauskatzen – streunten umher. Auch einige Hunde liefen frei über das Gelände, immer friedlich schnuppernd.

    Auf einmal hielten Mosche und Daliah inne. Voller Schaudern erblickten sie seltsame Figuren – offensichtlich von den Schülern aus Papiermaschee geformte Stiere und Löwen mit menschlichen Köpfen. Als Augen waren grosse glänzende Knöpfe eingesetzt. Die Menschenlöwen sperrten die Mäuler weit auf, wobei die weissen Eckzähne furchterregend hervorstachen.

    Diese «Torhüter» standen unmittelbar vor dem grossen Bogentor, das den Eingang eines kleinen Palastes markierte. Ganz vorsichtig und halb gebückt begaben sich Mosche und Daliah hinein. Im Innern des Palastes waren die Böden mit grossen Teppichen ausgelegt. Tapetenartige Papiere säumten mit lebhaft bemalten Bildern von Soldaten, Waffen, Wagen und Zugtieren die Wände. Auf Wandgestellen und am Boden standen unerhört grosse Mengen von Schätzen: Kelche, Schalen, Schwerter, Öllampen und viele weitere Gegenstände aus Zinn, Silber, Bronze und Kristall waren durcheinander aufgestellt. Auf runden, ledernen Kissen am Boden hockte ein König, seine Beine gekreuzt, und von Kopf bis Fuss umhüllt mit beigen Tüchern. An seiner Brust hing eine schwere Halskette aus gezwirnter Schnur und polierten Kupferringen. In majestätisch aufrechter Haltung liess er die Hände auf den Knien ruhen. Sein Kinn schmückte ein kurzer Bart, wobei kaum zu übersehen war, dass dieser aus schwarzem Garn geklebt war. Unwillkürlich hielt sich Daliah beide Hände vor den Mund, um nicht lauthals loszulachen.

    «Was hast du denn?», fragte Mosche.

    «Schau! Das ist Uri!», und sie konnte ihr Lachen nicht mehr zurückhalten. Dann ergänzte sie überrascht: «Nanu, da sehe ich eine silbern glänzende Krone. Jetzt weiss ich auch, warum die Kaffeekanne im Blumentopf steckte.» Nun musste auch Mosche lachen, wenn auch leiser als bei seiner Frau. Uri aber hielt die majestätische Miene aufrecht und erhob sich langsam. Mosche und Daliah verneigten sich vor ihm und fragten mit Pathos: «Sie sind also König Uri von Assyrien?»

    «Nein, ich bin Grosskönig Sargon II. von Neuassyrien», korrigierte dieser und strich Israel, dessen Gesicht ganz verrusst war, sanft über die Wange. Dabei fuhr er fort: «Neben mir steht Baspoi, der Beschützer. Wir werden eine Woche lang hier schlafen.»

    «Ganz ohne Decken?», fragte Daliah die beiden.

    «Ja, hier ist es warm genug. Schaut, da draussen, das ist das assyrische Volk, das ich ganz allein regiere», protzte Uri und wies mit einer kurzen Handbewegung auf eine weitere Gestalt neben sich: «Hier ist meine Frau, Königin Atalia.»

    Ein Mädchen, sie musste in Uris Alter sein, sass ebenfalls mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. Ihre nackten Füsse waren unter dem vielen Stoff ihres leinenen Umhangs versteckt. Unter einer breiten Haube kamen ein paar dunkle Haarsträhnen hervor und zierten das hübsche Gesicht. Ihre Augen waren stark schwarz geschminkt und an ihrer Brust hingen silbern glänzende Scheiben. Als sich Mosche das junge Mädchen genauer ansah, ersann er sich wieder und flüsterte Daliah zu: «Was für prachtvoller Schmuck! Erkennst du, was das ist? Flachgehämmerte Kaffeekapseln!»

    «Woher weisst du das?», wollte Daliah wissen.

    «Vor einigen Wochen bat mich Israel, ihm unsere gebrauchten Kaffeekapseln zu geben. Ich gab sie ihm, ohne zu zögern, denn er wollte sie in die Abgabestelle des Kaffeeladens zurückbringen. So sagte er es mir jedenfalls. Ich habe ja nicht geahnt, dass er sie für Schmuck braucht.» Die beiden mussten lachen.

    Unterwürfig fragten sie: «Verehrter König Sargon, dürfen wir bei Ihnen Platz nehmen zum Mittagessen?»

    Der König thronte stolz auf seinem Kissen, sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Mosche und Daliah wussten nicht so recht, ob und wie das Spektakel weiterging, in das sie einbezogen wurden. Unschlüssig betrachteten sie eine Weile lang die Kriegsbilder. Da traten ein Mann und eine Frau ein, ebenfalls in Togen gekleidet, und begrüssten Königin Atalia. Mosche und Daliah ahnten alsbald, dass es sich um die Eltern der 14-Jährigen handelte. Es folgte ein kräftiger Händedruck, und Atalia bat die Gäste, sich im Kreise zu setzen. Baspoi holte derweil weitere Kissen hervor und legte jedem eines an den Rücken. Als alle sassen, betrat – einen Jutenrock um den Körper und ein Leinentuch um den Kopf gewickelt – ein Lehrer den Raum, liess sich auf ein Kissen fallen und begrüsste die Anwesenden freundlich. Er stellte sich als Schukuro vor. Gut gelaunt, nickten ihm alle zu. Nur Sargon presste seine Lippen streng zusammen. Seine dunklen Pupillen bewegten sich nervös hin und her.

    Sich über die königliche Autorität hinwegsetzend, zischte Daliah Sargon an: «Wo bleibt denn nur das Essen? Jetzt haben wir doch Mittag und all diese Düfte, die hier hineinströmen…»

    «Na, nur nicht so ungeduldig, verehrte Untertanin», erwiderte Sargon mit fast geschlossenen Lippen und blieb weiterhin steif in seiner Haltung.

    Langsam kam die gute Laune auch bei Mosche abhanden, er richtete sich an Sargon: «Verehrter Herrscher über alles, Sie sind auch nur ein Mensch wie wir alle. Sind Sie nicht verpflichtet, für das Wohl Ihres Volks zu sorgen? So tun Sie doch etwas!»

    Sargon nickte langsam. Im selben Moment trat Baspoi mit mehreren Dienerinnen herein. Sie trugen grosse Ton- und Bronzeschüsseln, gefüllt mit gebratenem Huhn und Lamm, Fladenbroten, Datteln, Orangen, Bananen und heissen Kartoffeln.

    Verblüfft fragte Daliah: «Kartoffeln? Kannten die Assyrer diese Knollen bereits?»

    «Was meinen Sie mit Knollen?», fragte Uri alias Sargon in klarem Ton zurück.

    «Nun, Kartoffeln sind Knollenfrüchte und wachsen in fernen Gegenden, jedenfalls nicht hier», versuchte Mosche zu erklären. Dann überlegte er kurz: «Wie konnten denn Ihre assyrischen Bauern diese Knollen bis hierherbringen?»

    «Vielleicht mit dem Wind, der die Samen hierhertrug», antwortete Sargon zynisch. Zwei starke junge Frauen traten ein. Eine trug auf einem Tablett mehrere Tonbecher und verteilte sie an alle. Die andere trug einen schweren Tonkrug auf ihrer Schulter und schenkte jedem Tee ein. Wiederum recht erstaunt fragte Daliah: «Verehrter König Sargon, woraus besteht denn dieser Tee, und woher stammt die Süsse?»

    «Der Tee ist aus Orangenblüten und Kräutern, die im kochenden Wasser gebrüht wurden, und gesüsst ist er mit Stangen aus Zuckerrohr», wandte sich Königin Atalia an die fragende Daliah und bot sogleich allen an, auch die Speisen zu kosten. «Ihr lebt im Überfluss, und Ihr Volk ist vermutlich arm», fing Daliah amüsiert an zu sticheln. Doch der verführerische Duft der aufgetischten Speisen lenkte sie ab, und ihre Gedanken wurden wieder ganz profan: Sie wollte essen. Besteck gab es keines, alle assen mit den Händen. Selbst Sargon nahm sich mit den Fingern ein grosses Stück Huhn und biss mit seinen schneeweissen Zähnen herzhaft das Fleisch vom Knochen. Dabei strich er sich sorgfältig mit der Hand über das Bärtchen, um zu schauen, ob die Fälschung noch an Ort und Stelle war, und leckte alle Finger wie eine Katze. Baspoi sammelte indes alle Knochen ein und warf sie nach draussen. Es verging keine Minute, da stürzten sich Hunde und Raben gierig auf die Reste. Als Nachspeise verzehrten sie genüsslich die süssen Orangen und nur leicht bitteren Grapruits. Anstelle von Servietten diente ihnen ihre Kleidung, um die Hände abzuwischen.

    «Was wäre nur, wenn die englische Königin mit uns bei Tisch gewesen wäre?», fragte Atalias Mutter scherzend. Als hätte er die Frage überhört, blickte Schukuro auf einmal ernst in die Runde. Daliah wollte wissen, was passiert war. Der Lehrer aber schwieg zunächst, bevor er Luft holte und pathetisch sagte: «Hochgeachteter König Sargon, Sie haben unserem Volk eine grosse Niederlage gebracht. Vor ungefähr einundzwanzig Sonnenaufgängen haben Sie ganze Städte und Dörfer ausgeplündert.»

    Mosche fiel ihm ins Wort: «Ganz richtig! Auch in unserem Haus haben Sie sämtliche Schätze mitgehen lassen!»

    «Bei uns auch!», doppelten

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