Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Negomi
Negomi
Negomi
eBook849 Seiten11 Stunden

Negomi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wien, 2010: Die 18jährige Negomi hat gerade die Schule abgeschlossen und zieht vom Land in die Großstadt, um sich ihren Mädchentraum zu erfüllen: Schauspielerin zu werden! Sie lernt in dem 44 Jahre älteren Schauspieler, Quergeist und Pleitier Felix die Liebe ihres Lebens kennen und erlebt eine körperliche, geistige und seelische Revolution. Sie beginnt, Fragen zu stellen, und stößt in ihrer sozialdemokratischen Familie auf Lügen, Gewalt, Rassismus und korrupte Machenschaften, die eng mit den dunkelsten und skandalösesten Kapiteln der österreichischen Zeitgeschichte verwoben sind. Plötzlich macht es einen lauten Knall, und Negomi taucht in ihre Kindheit im Waldviertel ab, um zu finden, was sie sucht, ohne zu wissen, was es ist und ob sie es finden wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Okt. 2021
ISBN9783347394865
Negomi

Ähnlich wie Negomi

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Negomi

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Negomi - Iracema Engel

    ERSTES BUCH

    DER ERSTE TAG

    Wien, Sommer 2010

    »Hallo, liebe Stadtindianer! Hier ist euer Mike vom Hit-Radio-66! Die Sommerferien haben gerade erst begonnen, und schon stellen wir die ersten Hitzerekorde auf – von einem Abklingen ist so bald keine Rede! Ich hoffe, ihr verbringt den heißen Tag bei einem coolen Drink im Liegestuhl am City-Beach oder kommt kräftig ins Schwitzen beim Volley-Ball! Eure heißen Hit-Wünsche erfülle ich euch in der kommenden Stunde! Ein Anruf genügt! Und hier haben wir auch schon eine heiße Stadtindianerin in der Leitung! Hallo, Süße, what’s your name?«

    »Hi, Mike! Hier ist Negomi!«

    »Negomi? Geiler Name! Woher kommt der?«

    »Aus dem Keltischen – glaube ich!«

    »Uh! Gänsehaut! Mit dem bleibst du also immer supercool!«

    »Darauf kannst du wetten!«

    »Und was tut Negomi-Cool in diesen heißen Stunden?«

    »Ich richte mein Zimmer ein.«

    »Schweißtreibend?«

    »Nein, ganz locker. Die Möbel stehen alle schon drin, jetzt räume ich nur noch die Bücher ein und stelle meine Lieblingssachen auf.«

    »Negomi, du bist neu in Wien und studierst, habe ich gehört?«

    »Ich habe die Aufnahmeprüfung auf einer Schauspielschule geschafft. Im Herbst geht es los.«

    »Geile Sache, Negomi-Cool! Dann kann man dich hoffentlich bald auf der Bühne oder im Fernsehen bewundern!«

    »Das hoffe ich auch!«

    »Welchen heißen Hit darf ich denn für dich auflegen?«

    »Ring of Fire von Johnny Cash!«

    »Yeah, Baby, go! Negomi-Cool, ich wünsche dir viel Spaß beim Einräumen und einen supergeilen Hitze-Sommer! Und hier ist der King of Country mit einer seiner heißesten Nummern: Ring of Fire!

    Love is a burning thing

    And it makes a fiery ring

    Bound by wild desire

    I fell into a ring of fire…«

    Ich tanzte und sprang durchs Zimmer, die letzten Bücher landeten im Regal. Zum feierlichen Abschluss nahmen meine Lieblinge ihre Ehrenplätze auf den niedrigen weißen Ikea-Kuben ein. Die rote Keramik-Hand, an der meine schönsten Ringe und Ohrringe und Armreifen und Ketten hingen: ein Geschenk von Anja zu meinem 13. Geburtstag. Die Glasschale mit den Steinen vom Strand von Cavalière: Im feuchten Sand unter den Wellen, die auf die kleine Bucht zugestürzt waren, hatten sie pastellen geleuchtet und geglänzt. Ich hatte sie wie Edelsteine gesammelt und in eine große Tüte gepackt, die meinen Reisekoffer gleich um ein halbes Kilo schwerer gemacht hatte. Trocken in der Glasschale waren ihre Farben matt und wenig verführerisch, aber sie trugen die Erinnerung an mein Paradies an der Côte d’Azur in sich. Unser Familienfoto im goldenen Rahmen: Papa, Mama, Irma, Arno und ich in den schönsten Sonntagskleidern. Alle lächeln. Nur ich gucke mit großen Augen ernst in die Kamera und halte mein Lieblingskuscheltier Nene fest in der Hand. Das Foto von Anja und mir in ihrem Garten auf der Schaukel: zwei vierzehnjährige Wirrköpfe, die, zugleich frech und verschämt, in die Kamera lachen. Und die hohe, schmale Vase aus blauem Glas, mundgeblasen für mich in einer Manufaktur in Venedig: ein Geschenk von meiner Omama Emi während unseres einzigen Aufenthalts in der traumhaften Lagunenstadt. Emi und ich hatten eine gelbe Tulpe aus Papier gebastelt, Emis Lieblingsblume in ihrer Lieblingsfarbe, und sie in die Vase gesteckt. So war sie seit meinem achten Geburtstag in meinem Kinderzimmer in Heisendorf gestanden. »…and it burns, burns, burns the ring of fire, the ring of fire!« – Alles ist fertig, ich bin angekommen, bereit ein neues Kapitel meines Lebens aufzuschlagen, endlich erwachsen, endlich frei! –

    Ich trat aus dem kühlen Stiegenhaus und tauchte ein in die Hitzeschwaden im Innenhof, die sich wie dicke Decken um meine Haut legten. Vorne beim Tor grüßte ich die beiden steinernen Löwen, die auf den mächtigen Sockeln lagen und majestätisch über mich hinweg in die Ferne blickten. Meine weißen Pumps tänzelten mich zur Straßenbahnhaltestelle beim Schloss Belvedere. Ich hatte den roten Ledergürtel eng um meine Taille geschlungen und seinen Zipfel keck am Rücken in den Riemen gesteckt. Der leichte weiße Unterrock spielte um meine Knie, der Wind schwenkte den blauweiß geblümten Rock wie eine pralle Blüte. Die Hitze flirrte über dem glühenden Asphalt. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum.

    An der Gartenmauer des Schloss Belvedere entlang klackerten meine Absätze über das Kopfsteinpflaster. Ein weißer Lieferwagen fuhr die Straße hinauf, mir entgegen. Er bremste. Zwei junge südländische Männer pfiffen und winkten mir aus dem offenen Fenster zu. Ich lächelte, hob den Kopf und setzte meinen Weg fort.

    Am Schwarzenbergplatz beim Hochstrahlbrunnen stand ein Eiswagen. Ich kaufte mir eine Tüte mit Erdbeere und Vanille und setzte mich auf eine Bank im Schatten der alten Nadelbäume. Die Erdbeere gab der Vanille einen Kuss, der wie ein Traum auf meiner Zunge zerschmolz. Der Wind blies gegen den hoch aufschießenden Strahl in der Mitte des runden Steinbeckens und die Fontänen, die ihn umringten, und trug dicke Wasserfahnen über den Platz, auf dem sich eine große Pfütze bildete. Asiatische Touristen mit Fotoapparaten brachten sich schreiend in Sicherheit, kleine Kinder sprangen lachend und kreischend in dem Pfützensee. Ich saß weit genug abseits und bekam nur zarte Tröpfchenschleier ab. Ich schloss die Augen, ließ mein Gesicht von den Schleiern besprühen und atmete die Tröpfchen ein.

    Als Kind hatte ich mich jedesmal auf die bunte Beleuchtung des Hochstrahlbrunnens gefreut, wenn wir abends nach eineinhalbstündiger Fahrt vom Waldviertel mit dem Auto über den Schwarzenbergplatz auf den Brunnen zugefahren waren und an ihm vorbei die Prinz-Eugen-Straße hinauf zur Belvederegasse. Ich hatte den Kopf nach ihm verdreht, um möglichst lange die wechselnden Farben bestaunen zu können.

    An der Ampel vis-à-vis der französischen Botschaft mit ihren rot blühenden Rosensträuchern tickte der Apparat für blinde Fußgänger im langsamen Takt. Die Straßenbahnen surrten über die Schienenkreuzungen, das Rauschen der Autokolonnen flutete den Platz. Es machte Klick, und der Apparat an der Ampelsäule begann, schnell zu ticken. Als ich den Fuß über die Bordsteinkante hob, sauste ein Radfahrer auf mich zu. Ich konnte gerade noch zurückspringen. Er zischte an mir vorbei, fluchte und schlug mir die Eistüte aus der Hand: Erdbeere und Vanille klatschten kopfüber auf den Gehsteig. »Fuck!«, schrie ich, musste dann aber lachen und lief beim letzten Blinken des grünen Männchens über den Zebrastreifen.

    Den langen Weg am Schwarzenbergplatz entlang versuchte ich mich im Streifenschatten der Häuser zu halten. Endlich am Ring angekommen, spendeten mir die Platanen mit ihren ausladenden Ästen und dichten grünen Kronen Schatten und Kühle. Ihre Blätter wogten, raschelten und rauschten im Wind.

    Ich bog zu den Ringstraßengalerien ein und stöckelte weiter in eine ruhige Seitengasse. Auf der Terrasse einer italienischen Caffè-Bar war noch ein Tisch frei. Ich setzte mich, lehnte mich zurück und atmete den Wind ein. Die weißen Schwingen eines Sonnensegels über mir flatterten und blähten sich, als wollten sie davonfliegen. Die Leute auf der Terrasse tranken Kaffee und aßen Kuchen oder Eis, manche saßen bei Wein und Bier und hatten sich Pizza bestellt oder kleine Sandwiches. Eine junge Kellnerin kam zu meinem Tisch, »Was darf es sein?«

    »Caffè-Latte und Erdbeertorte, bitte!«

    »Kommt sofort.«

    Ich schloss die Augen und badete im Summen und Brummen der Stimmen. Gesprächsfetzen flatterten in meine Ohren. Plaudern und Lachen. Gläserklingen. Besteck klapperte auf Tellern und in Tassen. Ein Hund kläffte. Ein Kind lallte laut und giggelte. Der Geruch von Milchkaffee und Pizzakäse kitzelte meine Nasenflügel.

    Ein Mann trat mir gegenüber unter das Sonnensegel. Er überschaute die vollbesetzten Tische, sah den Stuhl neben mir leer und lächelte mich an. Ich spürte mein Herz wild klopfen, meine Wangen glühten. Zwei Tischreihen weiter erhob sich ein Paar und verließ das Caffè. Der Mann zwinkerte mir zu und ging zu dem freien Tisch.

    »Hier, bitteschön, und guten Appetit!«, die Kellnerin stellte ein Tablett mit Caffè-Latte und Erdbeertorte vor mich hin. Sie erblickte den Mann, der gerade Platz nahm und eine schwarze Ledertasche auf den Stuhl neben sich stellte, und ihr Gesicht hellte sich auf. Sie ging zu ihm hinüber, er stand auf, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie auf den Mund.

    Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Mit zittriger Hand ergriff ich die Gabel und stach in die Torte. Die Erdbeercreme schmeckte lasch, die Fruchtstücke waren zäh, der Teig klebte trocken an meinem Gaumen. Ich legte die Gabel zurück auf den Teller.

    Der Mann setzte sich und unterhielt sich mit der Kellnerin, dabei huschte sein Blick immer wieder zu mir herüber. Sie lachte und strich sich durch ihr langes Haar.

    – Haben die was miteinander? - Dafür wirkt sie zu kokett! –

    Sie zückte ihren Block und schrieb seine Bestellung auf. Er sagte noch etwas zu ihr, was sie abermals zum Lachen brachte, und sie ging mit geröteten Wangen ins Lokal. Er sah mich an, schmunzelte und zwinkerte: munter und verschmitzt wie ein Kind, ein frecher Junge! Ich versuchte, woanders hinzuschauen, konnte meinen Blick aber nicht von ihm abwenden. Plötzlich zuckte er zusammen, griff in seine Hosentasche und hielt sich sein Handy ans Ohr. Ich holte auch meines heraus und tat so, als wäre ich beschäftigt. Er hatte sein graues Haar locker nach hinten gestrichen, seine Wangen waren glattrasiert, er trug sein Hemd oben aufgeknöpft. Er legte das Handy auf den Tisch, zog eine Packung Zigaretten aus der Ledertasche, holte ein Buch hervor, klopfte eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, lehnte sich im Stuhl zurück und schlug das Buch auf. Seine Arme ruhten auf den Lehnen, ein Bein war über das andere geschlagen. Er saß aufrecht, aber keineswegs steif, nein, unglaublich locker und kraftvoll zugleich. Er wirkte entspannt, aber bereit, jede Sekunde aufzuspringen und aus voller Brust eine mitreißende Rede zu halten oder einen Tango zu tanzen.

    Die Kellnerin brachte ihm einen Cappuccino. Er blickte kurz auf, lächelte und las weiter.

    – Die haben nichts miteinander! –

    »Felix!«, ein junger Typ ging auf ihn zu. Die beiden begrüßten sich mit einem Kuss auf die Lippen.

    – Also, entweder er hat was mit ihm und mit ihr, oder das ist einfach seine Art, lieben Freunden Hallo zu sagen. –

    Der Junge setzte sich zu ihm und redete auf ihn ein.

    Ich ging ins Lokal auf die Toilette und ließ mir kaltes Wasser über die Handgelenke rinnen. Hinter mir öffnete sich die Tür, und er stand da. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Er trat an mich heran und küsste meinen Nacken, strich über meinen Rücken, meinen Po. Ich drehte mich zu ihm, unsere Lippen berührten einander. Ich schmeckte seinen Speichel, seine Zunge war spitz und glatt. Seine Hand fuhr unter meinen Rock, in mein Höschen, seine Finger glitten in die Feuchte zwischen meinen Schamlippen. Ich zog ihn in eine Kabine und setzte mich auf den heruntergeklappten Klodeckel. Er kniete sich hin, zog mir das Höschen aus, schob meinen Rock hoch und leckte meinen Kitzler, saugte an ihm und stieß mit der Zunge in meine Muschi. Ich beugte mich zu ihm, leckte ihm die Feuchte von den Lippen. Er erhob sich, ich riss ihm die Hose runter und lutschte an seinem Schwanz. Er zog mich hoch, öffnete meine Bluse und meinen BH und knabberte an meinen Nippeln. Ich drängte ihn auf die Toilette, setzte mich auf ihn, sein Schwanz bohrte sich in meine Vagina, unsere Hüften bewegten sich gegeneinander, er knetete meine Pobacken. Wir schwitzten und stöhnten. Ich presste seine Hand auf meinen Mund, um das Schreien zu unterdrücken. Sein Schwanz wurde noch spitzer und steifer, er stieß heftiger und schneller zu, stöhnte, presste meine Hand auf seinen Mund und riss die Augen auf im stummen Schrei. Das kalte Wasser rann über meine Handgelenke. Ich sah mich im Spiegel an und musste schmunzeln. Als ich aus dem Lokal unter die Markise trat, waren er und der junge Typ nicht mehr da.

    Der Abend senkte sich über die Stadt. Die untergehende Sonne färbte die zarten Wölkchen am Himmel rosarot und tauchte die Straßen in goldenes Licht. Die Luft roch nach Blüten, nach Getreide und kühlem Wasser. Ich spazierte durch die schmalen Gassen der Altstadt hinunter zum Kai, überquerte eine der Brücken und stieg die Treppe nach unten an den Kanal.

    Jogger liefen an mir vorbei, Radfahrer sausten über den Asphalt, am City-Beach waren die meisten Liegestühle schon leer, die verbliebenen Besucher genossen die letzten Sonnenstrahlen.

    Ich schlüpfte aus meinen Pumps und setzte mich an den Rand der Kaimauer. Meine Beine baumelten über dem Wasser, eine frische Brise kitzelte meine Zehen. Ich schloss die Augen, drehte das Gesicht zur Sonne und ließ es von ihr wärmen. Ihre Strahlen streichelten meine Wimpern, ich blinzelte und sah auf den leichten Strudeln und den niedrigen Wellenkämmen Lichtpunkte glitzern.

    Der rotgoldene Sonnenball verschwand am Horizont hinter den Häusern. Ich stand auf, steckte meine Finger in die Spitzen meiner Pumps, breitete die Arme aus und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf den warmen Asphalt. An der Mauer neben mir zogen bunte Graffiti-Fratzen vorbei. Ich hielt im Gehen die Augen geschlossen, nur ein paar Schritte, ein paar Meter, dann stieg in meine Pumps und lief die nächste Treppe hoch auf die Brücke.

    Die Straßenlampen strahlten gegen den tiefblauen Himmel, auf dem erste Sterne funkelten. Ich hörte das Rauschen des abendlichen Verkehrs wie in Watte gepackt. Die Scheinwerfer der Autos waren lange Lichterketten: rot und weiß. Meine Füße schmerzten in den Pumps, aber die Stadt hob mich auf ihre Schultern und trug mich durch den Abend, durch die Nacht.

    In den Gassen der Altstadt beleuchteten die Laternen die Hausfassaden mit ihrem dumpfen Orange. Masken lachten mich von Fenstergiebeln an. Zarte Frauenköpfe mit aufwändig gemeißelten Frisuren schauten blicklos in die Nacht. Kleine bärtige Köpfe, deren buschige Brauen unter gehörnten Stahlhelmen hervorsprossen, schienen wutschnaubend gegen ihre Versteinerung aufbegehren zu wollen. Das Licht umspielte die nackten Körper riesiger Statuen, die sich mit grimmigen Mienen unter dem Gewicht von Türstöcken beugten, die sie mit ihren Pranken stemmten. Andere standen aufrecht, in ewiger Jugend erstarrt, als spürten sie die tonnenschweren Steine auf ihren Schultern nicht. Eine Frauengestalt in faltenreichem Kleid schien in einem Anflug von Scham ihren Kopf gesenkt und wie zufällig die Hände gehoben zu haben, auf denen sie den Erker eines vierstöckigen Hauses trug.

    Glockenschläge hallten über den verlassenen Stephansplatz und in die Kärntnerstraße. Ich lief der Mitternacht davon in die ersten Sekunden des neuen Tages hinein, der noch gar nichts von sich wusste. Aus den Schaufenstern funkelten mich teure Taschen, Kleider, Uhren und Schmuck an. Ich machte einen Sprung, kam zu stehen, legte den Kopf in den Nacken und drehte mich am Stand im Kreis. Der dunkle Himmel, die bunten Reklameschilder, das Licht aus den Schaufenstern, alles verschmolz zu einem rasenden, schimmernden Farbband. Ich taumelte, hielt an und schloss die Augen, in meinem Kopf drehte es sich weiter.

    »Hallo!«

    Ich öffnete die Augen: ein kleiner rundlicher Mann erhob sich von einer der Holzbänke, die, geometrisch angeordnet, auf der ganzen Einkaufsstraße verteilt stehen. Er war braungebrannt, hatte schwarzes Haar, trug eine dunkle Hose und ein strahlend weißes Hemd.

    »Hallo!«, antwortete ich.

    »Wo gehst du hin?«, der Mann sprach mit Akzent.

    – Na toll! Der macht mich an, weil ich naiv und wehrlos scheine! – »Nach Hause!«, ich ging los.

    »Entschuldige, ich spreche normalerweise keine jungen Frauen auf der Straße an. Aber du bist mir aufgefallen, du hast etwas Besonderes.«

    »Jaja!«, ich ging an ihm vorbei.

    »Nein, wirklich, ich meine das so!«, er grinste mich auffordernd an.

    Ich blieb stehen: »Ich weiß, dass ich besonders bin.«

    Er lachte auf. »Entschuldige bitte, ich will nicht aufdringlich sein, aber ich will dich nicht einfach so vorbeigehen lassen.«

    »Ich gehe jetzt aber nach Hause«, ich wollte los.

    »Hey, nein, komm!«, er grinste, breitete die Arme aus, »Wie heißt du?«

    Ich zögerte. »Ich heiße Negomi.«

    »Negomi? – Ein außergewöhnlicher Name. Geh‘ mit mir was trinken, Negomi!«

    »Nein, heute nicht mehr!«, ich ging weiter.

    »Komm! Bitte! Sei nicht so! Nur auf ein Glas. Ich lade dich ein«, er ging neben mir her, »Komm!«

    Ich musste lachen. »Nein! Heute nicht mehr. Ich bin wirklich müde.«

    »Einmal ist keinmal!«

    Ich blieb stehen. »Gut! Wo gehen wir hin?«

    Er reichte mir seine Hand, »Ich bin Fatih. – Verrückt! Ich mache das zum ersten Mal!«

    Wir gingen nebeneinanderher und grinsten. Fatih gab die Richtung vor. Er bog mit mir in eine Gasse ein, an deren Ende ein Irish Pub noch geöffnet hatte, und trat, ganz Gentleman, vor mir ein.

    Das Lokal war leer. Nur hinter der Bar stand ein Kellner und trocknete Gläser ab. Er blickte kurz auf, als wir hereinkamen. Wir setzten uns einander gegenüber an einen Tisch beim Fenster.

    »Was darf es sein?«, rief der Kellner uns zu.

    Fatih sah mich an.

    »Eine Cola, bitte!«

    Fatih sah mich immer noch an.

    »Fatih?«

    »Ja… für mich auch!«, er schlug sein linkes Bein über das rechte, stellte es gleich wieder auf den Boden und schlug das rechte übers linke.

    Der Kellner brachte uns die Getränke. Wir stießen an. Fatih nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas ab und trommelte mit den Fingern dagegen, »Ich habe schon geglaubt, ich schaffe es nicht, dich zu überreden«, er lächelte verlegen.

    »Aber jetzt sind wir hier.«

    »Ja!«, er seufzte: »Du machst mich nervös!«

    »Das merke ich.«

    Wir lachten.

    Fatih lehnte sich zurück, »Was machst du beruflich?«

    »Ich fange im Herbst mein Schauspielstudium an.«

    »Schauspielen?!«

    »Ja!«

    »Ich hätte dich ganz anders eingeschätzt.«

    »Achso? Wie denn?«

    »Ich weiß nicht. Aber Schauspielerin, das ist doch ein harter Beruf.«

    »Das stimmt und das gefällt mir. Was machst du beruflich?«

    Ein Zucken huschte über sein Gesicht, er zögerte, dann sagte er schnell: »Ich bin geschäftlich in der Stadt«, er senkte den Blick und trommelte wieder gegen das Cola Glas.

    »Fatih?«

    Er hob den Kopf und sah mich ganz verändert an: verschlossen und geheimnisvoll, aber doch so, als wollte er mir unbedingt etwas sagen. Er öffnete den Mund, heraus kam aber nur ein stoßhafter Seufzer.

    »Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht kannst«, ich legte meine Hand auf seine.

    Er zuckte zusammen, »Doch ich will es dir sagen. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich darüber sprechen will.«

    Ich zog meine Hand zurück, »Worüber denn? – Fatih, was ich los mit dir?«

    Er wand sich auf seinem Stuhl: »Ich bin hier, weil ich vor Gericht aussagen soll, in einem Wirtschaftsprozess«, er beugte sich zu mir herüber und sprach in gedämpftem Ton weiter, »Ich arbeite für ein internationales Finanzinstitut, die meiste Zeit bin ich in London tätig. Hier in der Stadt habe ich vor Jahren angefangen, in einer Zweigstelle«, er hielt inne und sah mich prüfend an, »Ich habe einen Steuerskandal aufgedeckt. Du wirst in ein paar Wochen in allen Zeitungen davon lesen. Ich bin der Hauptbelastungszeuge in dem Prozess. Ich werde gegen meine ehemaligen Chefs aussagen. Die wissen noch nichts davon«, er lehnte sich zurück, »Du glaubst mir nicht, oder?«

    »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

    »Du kannst das Stichwort ‚General Funding London‘ im Internet eingeben, da findest du einige Artikel, die in englischen Zeitungen erschienen sind«, sagte er erregt.

    Ich nickte und lächelte. »Sind die Leute, die wegen dir angeklagt werden, nicht hinter dir her?«

    »Sie wissen nicht, dass ich der Informant bin.«

    »Aber sie werden doch sicher alles daransetzen, herauszufinden, wer der war, der sie verraten hat.«

    »Ich stehe deswegen ab Prozessbeginn unter Polizeischutz. Ich weiß, das hört sich an wie aus einem 0-8-15-Thriller.«

    »Ja, das stimmt.«

    Wir lachten.

    »Warum findet der Prozess hier statt?«

    »In Wien ist die Tochterfirma, auf deren Konten sie die Gelder verstecken-«, er unterbrach sich selbst, «Es ist kompliziert, das zu erklären.«

    »Und was machst du bis zum Prozessbeginn?«

    »Ich kann mich frei bewegen, also spreche ich zu später Stunde junge Frauen auf der Straße an.«

    Ich lachte.

    Er lachte.

    »Du bist ein toller Typ, Negomi!«

    »Danke!«

    »Nein, ich meine das ernst! Du bist offen und verständnisvoll, so jemand ist mir selten begegnet, besonders in letzter Zeit. Ich kann mich dir anvertrauen, obwohl ich dich gerade erst kennengelernt habe. Ansonsten bin ich fremden Menschen gegenüber vorsichtig.«

    »Wir schließen in ein paar Minuten!«, rief er Kellner uns von der Bar aus zu.

    »Gehen wir noch woanders hin?«, fragte Fatih.

    »Ich glaube, die meisten Lokale haben schon geschlossen.«

    Fatih zahlte, wie versprochen. Als wir aus dem Lokal auf die Straße traten, donnerte es direkt über uns ohrenbetäubend laut. Blitze zuckten am nachtschwarzen Himmel. Dicke Tropfen prasselten auf die Straße, prallten vom Boden ab, spritzten nach oben und machten meine Beine nass. Wir drückten uns an die Hauswand neben der Eingangstür. Ich lachte in das laute Rauschen des Regens hinein.

    »Wo wohnst du?«, rief Fatih mir zu.

    Ich spürte einen Stich im Magen, »Ein paar Straßen weiter!«

    »Mein Auto steht hier! Ich fahre dich nach Hause!«, er deutete auf einen großen, schwarzen, geländegängigen BMW am Straßenrand.

    Mein Herz hämmerte. – Warum steht sein Wagen genau vor diesem Lokal?! Er will mich entführen, er will mich vergewaltigen! –

    Orange Lichter blinkten. Fatih ging auf den Wagen zu.

    »Ich gehe zu Fuß!«, rief ich ihm hinterher.

    Er drehte sich um, »Du wirst ja ganz nass! Steig bitte ein. Ich fahre dich nach Hause!«

    »Der Regen macht mir nichts!«

    »Ich verspreche dir, ich fahre dich sicher nach Hause, kein Abstecher, nichts! Bitte komm! Ich bestehe darauf! Vertrau mir!«

    »Na gut!«, ich lief durch den Regen aufs Auto zu, riss die Tür auf und sprang hinein. Ich spürte weiches Leder unter mir, mich fröstelte.

    »Alles in Ordnung?«, Fatih schwang sich auf den Fahrersitz und legte die Hände aufs Lenkrad.

    Ich nickte nur.

    Er stellte den Motor an.

    »Über die Schienen nach oben Richtung Prinz-Eugen-Straße.«

    Ich kam mir lächerlich vor mit meiner Angst, er könne mir etwas antun wollen, aber ich sagte kein Wort und schaute geradeaus.

    Die Autoreifen spritzten Fontänen in die Höhe. Der Regen trommelte auf die Scheibe, im Licht der Scheinwerfer strahlten mich die fallenden Tropfen grell an: Tausende Striche, eine gleißende Wand, undurchdringlich! Ich schaute zu Fatih, der die Scheibenwischer schneller schaltete und mit geweiteten Augen das Auto in der Spur hielt. Hinter ihm verschwamm das Farbenspiel des Hochstrahlbrunnens im Tropfenmeer an der Fensterscheibe.

    Ich versuchte mich an den mir bekannten Straßenecken zu orientieren, um Fatih rechtzeitig zum Halten auffordern zu können.

    »Da vorne, da ist meine Straße, da kannst du mich rauslassen!«

    Fatih parkte das Auto und stellte den Motor ab. Mein Herz schlug so heftig, dass es fast meine Rippen sprengte. Ich wollte mich schnell verabschieden und nichts wie raus. Ich legte meine Hand an die Türklinke. Unsere Blicke trafen sich.

    »Ich kann dich so nicht gehen lassen!«, er beugte sich über mich und drückte mich nieder. Ich wollte schreien, aber es kam kein Ton heraus. Er langte ins Handschuhfach und fingerte darin herum.

    – Jetzt ist alles aus! –

    »Ich finde keinen Zettel!«

    »Was?!«, schrie ich ihm ins Ohr.

    Er fuhr zurück. »Ich finde keinen Zettel, um dir meine Handynummer aufzuschreiben.«

    »Achso!«, ich zog mein Handy aus der Rocktasche, »Sag sie mir an!«, mit zitternden Fingern tippte ich die Ziffern und seinen Namen ein.

    »Ich hoffe, du rufst mich an. Ich würde mich freuen, dich wiederzusehen.«

    »Ja, bis dann!«, ich öffnete die Tür, sprang auf den nassen Asphalt und lief durch den Regen die Straße entlang zu den steinernen Löwen – in Sicherheit!

    In der Wohnung zog ich mir schnell trockene Sachen an. Ich war hellwach vor Aufregung. Es kam mir vor, als hätte ich das alles nur geträumt. – Ich bin zu einem fremden Mann ins Auto gestiegen! Er hat mir nichts getan, trotzdem: das mache ich nie wieder! Er will, dass ich ihn anrufe. Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann. – Ich schnappte mir mein Handy.

    »Anja? Habe ich dich aufgeweckt?«

    »Nein, geht schon«, murmelte sie.

    »Ich muss dir was erzählen!«, die Worte drängten und stolperten aus meinem Mund, meine Stimme überschlug sich immer wieder, »Was soll ich jetzt tun?«, ich riss an den Fransen des weißen Teppichs, der den kalten Fliesenboden des Badezimmers bedeckte.

    »Interessiert er dich?«, fragte Anja.

    »Er ist nett, aber irgendwie auch komisch.«

    »Das Ganze hört sich seltsam an. So wie er dich angesprochen hat, und dann seine Geschichte. Aber du kannst wahrscheinlich nichts falsch machen.«

    »Meinst du?«

    »Lass uns morgen weiter darüber sprechen«, Anja stöhnte.

    »Du hast Recht! Schlaf gut! Bis morgen!«

    Ich ging im Badezimmer auf und ab. – Soll ich ihn anrufen? Ich finde ihn doch gar nicht attraktiv! Und was soll dabei herauskommen? Er lebt in einer völlig anderen Welt als ich. Er ist verstrickt in Probleme, aus denen ich ihm nicht raushelfen kann. Was soll ich für ihn sein? Eine hübsche Ablenkung? Und er für mich? Ein Mann, der sich bedroht fühlt von Menschen, die sehr wütend auf ihn sind? Außerdem hat er auf mich auch keinen besonders seriösen Eindruck gemacht – als hätte er etwas zu verbergen. Vielleicht sollte ich es bei dieser einen zufälligen Begegnung belassen. Jetzt lege ich mich erst einmal schlafen. Ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen. Morgen sehe ich weiter. –

    Sein Gesicht verfolgte mich in den Schlaf, ich hörte ihn sprechen: »General Funding, General Funding London!« Ich setzte mich im Bett auf: Natürlich! Die Zeitungsartikel! In der Dunkelheit des Zimmers tastete ich mich zum Schreibtisch und klappte den Laptop auf. Das Bildschirmlicht brannte in meinen Augen, ich kniff die Lider zusammen und tippte »General Funding London« ins Suchfenster des Browsers. Ich klickte den ersten Link an und suchte den Text nach Schlagwörtern ab. Er war im Wirtschaftsjargon verfasst, von einem Steuerskandal keine Rede. Ich ging zurück zu den Vorschlägen und wählte einen Link nach dem anderen aus, doch keiner passte zu Fatihs Geschichte. – Vielleicht haben nur die Londoner Printmedien von der Affäre berichtet. - Unwahrscheinlich! Fatih hat gesagt, dass das eine große Sache ist. – Ich öffnete noch ein paar Links: kein Hinweis, kein Skandal, keine großen Schlagzeilen! ‚Die Spur führt ins Leere‘ könnte der Titel dieses Krimis lauten: dann eben nicht! – Ich klappte den Laptop zu und starrte ins Dunkel. – Es lässt mir keine Ruhe! – Ich ging hinüber zum Bett, tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch und wählte Fatihs Nummer: Tut… Tut…

    »Hallo?«

    Ich lauschte.

    »Hallo?«

    Ich saß kerzengerade und schwieg.

    »Wer ist da?«

    Ich hielt den Atem an.

    »Negomi, bist du das?«

    Ich legte auf und ließ meine Hand sinken. Das Licht am Display ging aus. Ich schaute ins Dunkel. Plötzlich blinkte das Licht in schnellem Takt: Fatih. Ich schaute eine Weile auf seinen Namen, dann drückte ich lange auf den roten Knopf. Das Handy verschwand in der Schwärze des Zimmers. Ich ließ mich aufs Bett zurückfallen. Ich war mir jetzt sicher: ich würde ihn nicht wiedersehen.

    ERSTER TEIL

    1

    Ein Jahr später

    Nelli kramte in ihrer Tasche, »Ich finde ihn nicht!«

    Sophie lachte: »Komm, das gibt’s ja nicht!«

    »Doch! Er ist nicht da!«, Nelli leerte den Inhalt ihrer Tasche auf den Gehsteig: Bücher, Notizblock, Kalender, Handy, Socken, Schminkbeutel, Sonnencreme, Badeanzug purzelten übereinander. Sie durchwühlte den Haufen, blickte auf und schüttelte den Kopf, »Scheißeee! Was mach ich jetzt?«

    »Du kannst bei mir schlafen.«

    »Nein, das geht nicht! Morgen kommt meine Vermieterin, sich die Wohnung anschauen, ob alles passt für den Umzug und die Renovierung.«

    »Nein, Nelli, komm! Was ist das jetzt? Wir wollten fortgehen!«

    »Ja, aber das geht jetzt nicht. Ich brauche den Schlüssel!«

    »Wo könnte er sein? Kannst du ihn verloren haben?«, fragte ich.

    Nelli stöhnte, »Ich weiß nicht! Ich glaube nicht! Er ist wahrscheinlich noch in der Garderobe auf der Burg. Ja, da muss er sein!«

    »Na super, Nelli! Wie willst du jetzt noch auf die Burg kommen?«, Sophie fasste sich an die Stirn.

    »Ich rufe den Andi an!«, Nelli fischte ihr Handy aus dem Haufen.

    »Den Andi?!«

    »Ich mach das jetzt!«, sie hielt sich das Handy ans Ohr, »Hallo, Andi, da ist die Nelli, du, ich hab ein Problem…«

    »Nelli! Nelli! Du bist echt so eine Schlampe! Und mit dir soll ich zusammenziehen – mit euch! Du bist hoffentlich vernünftiger, Negomi. Ja, bist du sicher!«, sie kniff mich in die Wange.

    »Der Andi kommt und holt mich ab!«, Nelli küsste ihr Handy, »Ihr könnt ja schon losziehen, ich komm dann nach.«

    »Bist du blöd?! Wir kommen mit! Sechs Augen sehen mehr!«, bestimmte Sophie.

    »Okay!«, Nelli sammelte ihre Sachen auf, wir halfen ihr, alles wieder in ihre Tasche zu stopfen.

    Andis Wagen fuhr vor, ein alter VW, der rote Lack war stark ausgebleicht. Sophie sprang auf den Beifahrersitz. Nelli und ich setzten uns auf die Rückbank.

    Andi grinste: »Na Nelli, da hast du dir was eingebrockt!«

    »Jaa!«, Nelli zog die Mundwinkel zur Seite.

    »Also, auf geht’s!«, Andi trat aufs Gaspedal. Der Wagen brummte los. Es drückte mich nach hinten. Nelli und ich saßen auf Wolldecken, die nach Hund rochen. Nelli tastete hinter sich nach dem Gurt und wollte ihn einklinken, aber die Wolldecken waren zwischen Sitzfläche und Rückenlehne gestopft und verdeckten die Schnapper für die Gurte. Nelli zog an der Decke, doch sie steckte fest, ich packte auch zu, aber wir schafften es nicht, sie zu lösen. Nelli ließ den Gurt los und sah mich missmutig an.

    »Geht’s für euch da hinten?«, Andi schaute in den Rückspiegel.

    »Ja, ja, es geht schon!«, log Nelli, »Ist super von dir, dass du uns fährst!«

    »Weil du’s bist, Nelli!«

    »Du fährst aber schön vorsichtig, gelt!«, tönte Sophie.

    »Ja, sicher, ich habe ja wertvolle Fracht!«

    »Das kannst du wohl sagen!«

    »Dafür laden wir dich nachher auf ein Bier ein«, sagte Nelli.

    »Ich trinke keinen Alkohol. Bin seit fünf Jahren trocken.«

    »Na, dann auf einen Saft!«, Sophie klopfte ihm auf die Schulter.

    »Ich soll mit euch fortgehen nachher?«, fragte Andi erstaunt.

    »Ja, sicher!«

    Wir fuhren auf die Autobahn.

    »Mach die Klappe da auf, da ist was Gutes drin«, sagte Andi zu Sophie. Nelli und ich sahen einander fragend an. Sie lehnte sich nach vorne und schaute gespannt. Ich hörte, wie Sophie die Klappe öffnete, nahm den Schein einer orangen Lampe wahr und hörte Blech quietschen. Nelli packte mich am Arm und deutete mit dem Kopf zu Sophie. Die hielt eine Blechdose in ihren Händen, holte ein langes, dünnes Etwas heraus und kicherte, »Also Alkohol nicht, aber Gras schon!«

    »Man tauscht eine Sucht nur gegen eine andere!«

    »Ich zünd’s an!«

    »Bist du blöd!? Jetzt im Auto!? Was, wenn uns die Polizei aufhält?«

    »Geh Nelli!«

    Ich sah eine kleine Flamme, Rauch stieg auf, ein stechender Geruch nahm mir den Atem. Nelli rückte dicht an mich heran und hielt uns beiden ihren Schal vor Mund und Nase. Andi kurbelte sein Fenster herunter, Sophie tat es ihm gleich. Der Fahrtwind brauste um meine Ohren, ich hörte Sophie und Andi lachen, ich sah, wie sie ihm den Joint reichte. – Jetzt und hier sterben, auf Hundedecken in einem alten Volkswagen, umwölkt von Marihuana! – Wir fuhren von der Autobahn ab und bogen ein in die kurvigen Straßen Richtung Burg. Ich betete, dass das Auto bald anhielt und ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Die Autoreifen rollten über Schotter. Ich sah die Burg schwarz in den sternenklaren Himmel ragen. Das Auto bremste, wir standen. Nelli stieß die Tür auf und riss mich mit nach draußen. Frische, kühle Luft strömte in meine Lungen. Wir liefen den Weg hinauf zu den Garderoben. Nelli fummelte an dem Eisenschloss herum, die Containertür sprang auf. Im Schein der Taschenlampen unserer Handys tasteten wir uns vorwärts, vorbei an den Spiegeln, zwischen den Kleiderständern hindurch, über die am staubigen Boden verteilten Requisiten, nach hinten zu Nellis Platz. Nelli bückte sich, ich hörte es rascheln, ich hörte sie murmeln, sie kreischte: »Da ist er! Er ist da, er ist da, er ist da!« Sie sprang auf und nieder, der Schein ihrer Taschenlampe zuckte an der Wand hin und her. Sophie stimmte in das Kreischen ein. Die beiden fassten mich an den Händen, wir sprangen im Kreis und lachten. Sophie lief hinaus auf die Bühne und blieb in der Mitte stehen. Ich sah ihre schwarze Silhouette im Mondlicht, sie breitete die Arme aus und tönte: »Habe ich, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin durchaus studiert mit heißem Bemühen…«, sie verstummte, stand regungslos und ließ ihren Oberkörper nach vorne fallen ins Dunkel der Zuschauertribüne.

    Wir stiegen wieder zu Andi ins Auto.

    »Alles klar bei euch?«

    »Wir haben was zu feiern!«, schrillte Sophie.

    Andi gab Gas – die kurvigen Straßen zurück zur Autobahn.

    »Wie viele Sommer arbeitest du schon hier?«, fragte ich.

    »Das ist der fünfte.«

    »Wirst du so gut bezahlt?«, fragte Sophie.

    »Nein, überhaupt nicht! Aber ich muss das machen, sonst komm ich nicht über die Runden. – Das ist ein verlogenes Pack hier!«

    »Was? Wieso?«

    »Mamas Liebling zahlt an sich selbst doppelte und dreifache Gagen – er hat ja so viel zu tun! Und wir Bühnenarbeiter kriegen von Jahr zu Jahr weniger. Bis zum Schluss wissen wir oft nicht, ob wir überhaupt korrekt ausgezahlt werden.«

    »Du schmierst mich an!«

    »Nein, gar nicht! Die sind mir noch vom letzten Jahr was schuldig.«

    »Und da arbeitest du noch für sie?«

    »Ja, du weißt ja, wie es ist: die machen einen auf Gut-Freund und vertrösten dich. Und wie gesagt, ich hab nur das im Sommer, und das wissen die. Die entschuldigen sich immer damit, dass sie ja so wenig einnehmen. Aber ich kann zuschauen, wie der Herr Arian einmal mit dem Mercedes Cabrio und einmal mit dem BMW-Geländewagen angefahren kommt, und heuer hat er sich einen neuen Mini gekauft. Woher kommt denn das Geld bitte? Aber ich lasse mir das diesmal nicht mehr gefallen. Ich gebe ihnen nur Zeit, bis das Sommertheater vorbei ist, wenn sie dann nicht zahlen, zeige ich sie an.«

    Mir stand der Mund offen. Ich suchte Nellis Blick. Sie zog die Brauen hoch und hob die Arme.

    »Wo soll’s denn hingehen?«, fragte Andi, als wir in die Stadt einfuhren.

    »In den Hammer!«, befahl Sophie.

    »Da ist doch nie was los!«

    »Nelli, Schätzchen, das ist ja nur zum Vorglühen. Ich muss erst auf meine Höhe kommen!«

    »Okaay!«

    Auf dem Schild über dem Eingang leuchtete uns »amme« entgegen.

    »Dann schauen wir mal, ob die Amme uns an ihrem fetten Busen saufen lässt!«

    »Sophie! Bitte!«, zeterte Nelli.

    Sophie ging in die Knie und bewegte ihre Arme wie ein Rapper: »Das ist Hammer, Nelli, Hammer!«

    Nelli verdrehte die Augen und lachte. Sophie schürzte die Lippen, sah Nelli fest an, machte eine geschmeidige Drehung und ging mit schwingenden Schritten auf den Eingang zu. Wir folgten ihr.

    Von außen erinnerte mich das Lokal an die versiffte Kleintierhandlung aus einem Horrorfilm, in dem die Tiere nachts aus ihren Käfigen ausbrechen und auf Menschenjagd gehen. Die schmale Front des Lokals war verglast, die Scheiben waren angelaufen, rote und grüne Lichtblitze vermischten sich mit dem Kondenswasser. Wir tauchten ein in den rotgrünen Nebel. Der Bass brummte unter meinen Füßen, schwere Gitarrenmusik kreiste im Raum. Wir gingen an die Bar. Sophie schrie dem Barmann was ins Ohr. Der nickte und stellte uns kurz darauf drei große Gläser mit brauner Flüssigkeit auf die Theke. Meine Frage »Was ist das?« wurde von der Musik übertönt. Sophie hob das Glas, riss den Mund auf, ich versuchte zu hören, von ihren Lippen las ich »Auf ex!«, wir stießen an. Ich schluckte: Cola-Rum brannte mir auf der Zunge, ich schluckte, ich schluckte, es stach in meinem Magen, ich schloss die Augen, ich schluckte, ich schluckte, ich schluckte: das Glas war leer. Schwarze Silhouetten zuckten im Takt der Lichtblitze. Ich hielt mich an der Theke fest. Sophie lief kreischend auf die Tanzfläche. Nelli sprang ihr hinterher. Andis tiefes, kehliges Lachen dröhnte in meinen Ohren, er zwinkerte mir zu. Ich wollte fliehen, taumelte in die Menge, wurde aufgeschluckt, hochgerissen, davongetragen von dem dumpfen Vibrieren des rotgrünen Musiknebels. Alles drehte sich. Mein Kopf schlug wie das Pendel in einer schweren Glocke hin und her.

    »Komm, Negomi, wir gehen woanders hin!«, Sophie riss mich am Ärmel. Ich stolperte hinter ihr her. Wieder ins Auto und ab durch die Stadt. Vor meinen Augen flimmerte es, Sophies lautes Lachen jagte durch meinen Kopf, ein greller Pfeifton bohrte sich in mein Trommelfell, ich presste meine Hände auf die Ohren, eine kalte Faust schlug in meinen Magen, ich stieß die Autotür auf, Andi bremste scharf, »Bist du wahnsinnig!?«, ich stolperte auf die Straße, riss den Mund auf, würgte und kotzte. Sophie schlug mir auf die Schulter, ich schwankte, ihr Lachen waberte kreischend und brennend in der Luft, ich fiel nach hinten und schlug hart auf: Dunkelheit.

    Sophies große, schwarz umrandete Augen tauchten verschwommen vor mir auf. Ihr roter Mund feixte. Sie steckte mir einen Joint zwischen die Lippen. Ich atmete ein und spürte beißenden Geschmack auf der Zunge. Ich hustete und spuckte den Joint aus. Andi lachte, Sophie krähte. Nelli beugte sich zu mir herunter, »Kannst du aufstehen?«, sie zog mich hoch.

    Zwei Türsteher vor dem »Video« musterten uns. Sophie betörte sie mit ihrem Augenaufschlag. Wir stiegen eine steile Treppe nach unten in ein Kellergewölbe. Gelbe, grüne, rote, blaue Lichtblitze zuckten im Nebel, alles war Musik, auf der Tanzfläche drängten sich die Menschen.

    »Da vorne ist der Arian!«, Sophie deutete mit dem Kopf zum Rand der Tanzfläche und verzog das Gesicht: da stand Mamas Liebling, mittelgroß, braungebrannt, breit gebaut, sehr muskulös, seine kurzen, dunklen Haare aufgegelt.

    »Das da ist, glaub ich, sein Freund!«, schrie Nelli: neben Arian stand ein Typ gleicher Größe, ebenso braungebrannt, muskulös und mit Gelfrisur. Die beiden tranken aus Flaschen und unterhielten sich.

    »Scheiße, wir müssen Hallo sagen, irgendwann sieht er uns sowieso!«, Sophie packte mich an der Hand und schob unsanft die Leute beiseite, um uns einen Weg zu Arian und seinem Begleiter zu bahnen. Als Arian uns erblickte, lächelte er aufgesetzt, begrüßte uns mit »Hi, Mädels!« und schmatzenden Küsschen. »Das ist David!«, Arian strich seinem Begleiter über die Wange. Dieser grinste, sagte »Hi!« und gab uns ebenfalls schmatzende Begrüßungsküsschen – dabei legte er mir seine Hand auf den Po.

    »Geht’s euch gut?«, schrie Arian, »Wollt ihr was trinken? Ich lade euch ein!«, er verschwand kurz zur Bar und kam mit drei Flaschen Eristoff Ice zurück. Wir stießen an.

    »Ich bin froh, dass wir uns endlich an einem anderen Ort sehen, bei den Proben ist immer so viel Stress, da bin ich auch manchmal schwer zu ertragen.«

    Ich hob die Schultern, Nelli schüttelte den Kopf, Sophie winkte ab.

    »Mit wem seid ihr hier?«, fragte Arian.

    »Mit dem Andi!«, antwortete Nelli.

    »Wo ist er?«

    Wir schauten uns um: Andi saß hinten an der Bar. Arian lächelte und winkte ihm zu. Andi hob die Hand.

    »Der ist nicht gut auf dich zu sprechen, weißt du das eh?«, schrie Sophie.

    »Ja, der Andi ist ein bisschen ein Muffel, aber an sich ist er ein guter Kerl. Ich werd mit ihm reden.«

    Nelli sah mich groß an, ich musste schmunzeln.

    Wir tranken aus und gingen auf die Tanzfläche. Es war heiß. Mir klebte die Wäsche an der Haut. Die bunten Lichter zuckten, drehten sich, schnitten Strahlen in den Nebel. David war dicht hinter mir. Er legte seinen Arm um meine Hüften, seine Hand auf meinen Venushügel, drückte meinen Hintern an sein Geschlecht, ließ seine Hüften kreisen und nahm mich in der Bewegung mit. Seine weichen, vollen Lippen berührten meinen Nacken. Ich legte den Kopf zurück, er leckte über meinen Hals, fuhr mit der Hand über meine Kehle, mein Dekolleté, er streichelte meine Brüste, meinen Bauch, schob seine Hand zwischen meine Beine und drückte gegen meine Klitoris. Ich spürte, wie ich feucht wurde. Ich drehte mich zu ihm, unsere Münder öffneten sich, seine große, feste Zunge umschlang meine. Wir küssten uns lange. Irgendwann nahm David mein Gesicht in seine Hände. Ich sah berauscht in seine dunklen Augen. Er drückte seine Lippen an mein Ohr: »Ich gehe auf die Toilette. Komm nach!« Er biss sanft in mein Ohrläppchen, ließ von mir ab, ging einen Schritt zurück, zwinkerte mir zu und verschwand zwischen den Tanzenden. Jemand packte mich am Arm und drehte mich herum. »Negomi! Du bist ja total daneben! Das ist Arians Lover!!«, kreischte Sophie mir ins Ohr. Ich wollte sie nicht hören und drehte mich weg. Wieder wurde ich am Arm herumgerissen. Diesmal stand Nelli vor mir. »Negomi! Du gehst ihm jetzt nicht nach! Sei froh, dass der Arian nichts gesehen hat! Lass es dabei, bitte!«

    »Lasst mich in Ruhe, ihr Spaßverderber! Seid wohl neidisch!«, ich wollte mich losreißen, aber Nelli und Sophie zerrten mich von der Tanzfläche und drängten mich zu einem Barhocker.

    »Setz dich!«, befahl Sophie.

    »Seid ihr jetzt meine Aufpasser!?«

    »Negomi, bitte, mach keinen Blödsinn! Wenn du jetzt echt zu ihm gehst-«, Sophie schnitt Nelli das Wort ab: »Ja, wir sind deine Aufpasser, verdammt! Was glaubst du, was der Arian mit dir macht, wenn er das mitkriegt – und mit uns! Wir haften da mit, das weißt du schon!«

    Ich schnaubte.

    »Negomi, was ist! Es gibt genug andere zum Ficken, muss ja nicht ausgerechnet der Typ sein!«, schrie Sophie.

    Ich wand mich, »Okay, okay! Ich lass es!«, ich setzte mich auf den Barhocker. Nelli griff sich an die Brust, Sophie fasste sich an den Kopf, dann lachte sie: »Du bist vielleicht eine geile Sau, Negomi! So würde man dich gar nicht einschätzen! Aber bitte das nächste Mal nicht mit dem Lover vom Kronprinzen, Schatzi!«

    Ich musste lachen, Nelli grinste, Sophie schnitt eine Grimasse und schrie: »Darauf trinken wir!«, zum Barkeeper: »Drei Tequila!«, wir stießen an, »Auf ex!«, Schluck, Brennen: Ah!

    »Kommt, wir ziehen weiter!«, schlug Sophie vor.

    »Und wohin gehen wir?«, fragte Nelli.

    »Na ins Rabenstein! Da ist heute Seventies-Abend!«

    Wir bahnten uns einen Weg durch das Gedränge in Richtung Ausgang. Am Ende der Bar schlüpften wir aus dem dichten Menschenknäuel. Gerade als wir auf die Treppe zugingen, öffnete sich uns gegenüber die Tür zum Männerklo, und David stand vor uns. Nelli und Sophie erstarrten. Bevor jemand etwas sagen konnte, erschien Arian oben auf der Treppe, »Hey, Mädels! Geht ihr schon?«, er setzte einen halbtraurigen Dackelblick auf.

    »Ja, es steigt noch woanders eine Party«, grinste Sophie.

    »Okay, wir sind hier noch mit Freunden verabredet. Also, euch viel Spaß, treibt es nicht zu bunt, und bis Montag!«, Arian näherte sich uns zum Abschiedsküsschen, dann ging er zu David, der vor der Toilettentür stehengeblieben war.

    »Tschau!«, sagte Sophie in Davids Richtung.

    David lächelte und hob die Hand.

    »Na komm, Mausebär, verabschiede dich doch richtig von meinen Mitspielerinnen!«, Arian warf sich in die Brust.

    David zuckte mit den Schultern, lächelte und kam auf uns zu. Er küsste erst Nelli, dann Sophie, stellte sich vor mich hin, zwinkerte mich an, drückte seine Lippen an meine Wange – ich roch seinen Schweiß und sein After-Shave – und ging zurück zu seinem Lover. Von der Treppe aus winkten wir ihnen noch mal und stiegen hinaus zum Ausgang.

    Draußen brüllte Sophie: »Wah! Fuck! Ich scheiß mich an! Negomi, mach das nie wieder!«, sie lachte und schlug mir auf die Schulter. Ich grinste sie an.

    »Leute mir ist-«, Nelli kotzte auf die Straße.

    »Geh bitte, Nelli! Was ist los mit dir!? Zuerst Negomi, jetzt du. Ihr seid vielleicht zwei Schlappschwänze!«

    Ich reichte Nelli ein Taschentuch, sie brach zusammen und landete mit dem Hintern voll auf der Bordsteinkante, »Auaaa!«

    Ich packte sie am Arm, »Kannst du aufstehen?«

    Nelli stöhnte, »Ich glaub, ich hab mir was gebrochen!«

    »Ach, Quatsch!«, Sophie schlug ihr auf den Hintern.

    »Auaaa!«, Nelli knallte ihr eine.

    Sophie brach in schallendes Lachen aus, »Ich bring dich nach Hause, du Heulsuse.«

    »Danke«, Nelli legte ihren Arm um Sophies Schulter und humpelte neben ihr her.

    »Wegen dir krieg ich heute keinen Fick ab! Dafür zahlst du morgen beim Pop-Fest eine Runde.«

    »Ich geh in die andere Richtung!«, sagte ich.

    »Okay, Süße, tschau!«, die beiden knutschten mich ab und wankten um die nächste Straßenecke.

    2

    Die Laternen warfen trübe Flecken aufs Pflaster. Junge Typen in Jeans, Sneakers und T-Shirts kamen uns breitbeinig entgegen, ihre Haare waren in alle Himmelsrichtungen frisiert, sie stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen in die Rippen, ihr Lachen keckerte in ihren Kehlen. Einer warf seinen Kopf in den Nacken, ein anderer grölte. Grüppchen von Mädels trippelten aufgeputzt an uns vorbei: rote Lippen, klebrig schwarze Wimpern, rosa gepuderte Wangen, die Haare geglättet. Sie kicherten hinter vorgehaltener Hand und schauten um sich nach möglichen Werbern.

    »Sophie! Das kann doch nicht sein! Du Langweilerin!«, Nelli hielt im Gehen die Hand über das Mikro am Handy, schielte mich krass an und feixte, »Sie hat heute einen alten Schulfreund wiedergetroffen! – Jaja, Süße, dann lass es mal krachen!«, sie legte auf, nahm mich an der Hand und lief mit mir auf den Platz unter die bunten Scheinwerfer. Aus den angrenzenden Gebäuden wummerten Bässe aus Verstärkeranlagen.

    »Komm! Wir gehen da rein!«, Nelli zog mich hinter sich her zu einem großen, weiß getünchten Gebäude, dessen üppig gestaltete Fassade an herrschaftliche Zeiten erinnerte. Zu ebener Erde stand, wie beim Eingang zu einer Lagerhalle, ein Eisentor einen Spalt breit offen. Nelli war schon hineingeschlüpft, ich folgte ihr. Laute Synthesizer-Musik, gelbes Licht. Am Ende einer langen, niedrigen Halle sprangen vier Mitglieder einer Hip-Hop-Band auf einer Bühne herum und brüllten unverständliches Zeug in ihre Mikrophone. Auf der Tanzfläche standen Grüppchen von jungen Leuten. Sie hielten Plastikbecher mit bunten Flüssigkeiten in ihren Händen und schauten stur nach vorne.

    »Ist das hier eine Trauerfeier?!«, Nelli zog mich hinter sich her in die Mitte der Tanzfläche, schwang ihre Arme in die Luft und ließ ihre Hüften kreisen. Ich schloss die Augen und ließ mir vom Rhythmus die Langeweile aus dem Körper schütteln.

    Nelli stieß mich in die Seite, »Die Typen da! Die gaffen uns an!«

    Zwei Studis mit Plastikbechern standen wie angewurzelt ein paar Meter entfernt und starrten zu uns herüber.

    »Kein Wunder! Wir sind ja auch die einzigen Lebendigen hier!«, ich bewegte meine Arme wie Schlangen, wippte mit dem Kopf und kreiste ihn in schnellen Achtern: vor meinen Augen rasten verschwommene Farbfahrer. Mein Blick fiel wieder auf die beiden Gaffer. Sie standen immer noch am selben Fleck und guckten uns an. Der eine prostete mir zu und grinste affig, er hob einen Fuß und eierte auf mich zu, »Du hast einen abgefahrenen Tanzstil!«

    Ich ignorierte ihn und tanzte weiter.

    Er stand da wie in den Boden geschraubt und grinste, »Wie heißt du?«

    Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.

    »Wie heißt du!?«

    – Mann, ist der aufdringlich! – »Negomi!«

    »Wie?«

    »Negomi!«

    »Was für ’n Gummi?«

    Ich zeigte ihm den Vogel: »N-e-g-o-m-i!«

    »Cool! Ich heiße Tom!«

    »Gratuliere!«, ich tanzte weiter.

    Der Typ rührte sich nicht vom Fleck, den Plastikbecher in der Hand, sein Grinsen immer noch auf dem Gesicht, durchbohrte er mich mit seinem Blick.

    »Was ist mit dem?!«, schrie Nelli mir ins Ohr.

    »Keine Ahnung!«, ich drehte mich von ihm weg. Meine Füße flogen im Zickzack über den Boden, mein Kopf kreiselte, der Beat peitschte meine Arme, ich atmete die Synthesizer-Töne ein, ließ sie meine Lungen füllen und stieß sie durch die Nasenflügel wieder aus, sodass sie als verbogene Noten auf den Boden purzelten. Der Typ stand immer noch da. Seine schwarzen Locken wirbelten in wilden Strömen um seine Stirn, sein kleiner, eckiger Körper wackelte und zitterte: Neandertaler! Seine Augen schossen brennende Pfeile in meine Brust. Nelli riss mich am Arm, »Der ist ja irre! Komm, wir gehen woanders hin!«, sie zog mich hinter sich her. Im Gehen blickte ich noch mal zurück: Der Neandertaler hatte sich ein Stück gedreht und schaute mir über die Distanz messerscharf in die Augen: armer Trottel!

    Wodka, Tequila, Farbblitze, der Beat jagte meinen Puls in die Höhe. Nellis Lachen zerrte ihr Gesicht in die Länge, ihre Augen waren schallplattengroße Teller, auf denen rote Adern platzten, ihr Mund öffnete sich zu einem Abgrund, in dem Feuer loderte, ihre Lippen flogen als Luftschlangen durch den Raum. Ich stieß die Tür auf. Ein warmer Hauch berührte meine Haut. Flämmchen von Teelichtern zuckten in dickwandigen Gläsern. Menschenrücken. Gedämpfte Stimmen. Die Tür fiel ins Schloss. Auf dem Balkon hoben manche ihre Köpfe. Ich hielt mich am Geländer fest und schaute hinunter auf den Platz. Das Bild vibrierte vor meinen Augen. Ich griff mir an die Stirn.

    »Hey!«, ein großer schlaksiger Typ mit Kapuzenweste stellte sich neben mich und lächelte mich von der Seite an.

    »Hi!«

    »Alles klar bei dir?«, er sprach wie nebenbei.

    »Ich hab von allem ein bisschen zu viel erwischt.«

    Er lachte leise. »Gefällt dir das Fest?«, seine Stimme war sanft und warm.

    »Geht so.«

    »Studierst du?«

    »Ja.«

    »Was denn?«

    »Hiho!«, der Neandertaler mit dem irren Blick stand da, »Du warst vorhin auf einmal weg!«

    »Ich wollte weg von dir!«, ich drehte mich wieder zu dem sanften Typen.

    »Negomi, oder?«, sagte mir der Neandertaler in den Rücken.

    »Du nervst!«, zischte ich ihm über die Schulter zu.

    »Ein abgefahrener Name, so wie dein Tanzstil.«

    »Du, ich geh mal rein an die Bar. Hoffentlich sehen wir uns noch«, der sanfte Typ verschwand nach drinnen. Der Neandertaler sah ihm hinterher und nickte zufrieden, »Mir hat dein Tanzstil gefallen.«

    »Das hast du schon gesagt.«

    »Was machst du so? Ich meine, beruflich.«

    »Ich studiere.«

    »Ich auch! Und was studierst du? – Negomi!«, er betonte meinen Namen, als wäre er stolz darauf, ihn aussprechen zu können.

    »Schauspiel.«

    »Oh, toll! Ich habe viele Freunde, die Schauspielschüler sind, am Reinhardt Seminar. Auf welcher Schauspielschule bist du?«

    »Schauspielakademie Rita May.«

    »Die kenne ich nicht. – Bist du aus Wien?«

    »Nicht direkt. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, aber meine Familie kommt ursprünglich aus Wien.«

    »Lebst du gerne hier?«

    »Ich bin mit Vielem nicht einverstanden, was hier läuft.«

    »Geht mir auch so. Hier ist alles ein bisschen hinterm Mond.«

    Ich musste lachen. »Und was machst du?«

    »Ich bin auf der Angewandten und studiere Bühnenbild. Eigentlich hätte ich vor Kurzem mein Biologie-Studium abschließen sollen, aber ich hab’s geschmissen. Ich habe mir eingebildet, was G‘scheites studieren zu müssen. Kurz vor meiner Diplomarbeit habe ich erkannt, dass ich mit der Wissenschaft nicht weitermachen will. Bühnenbild ist spannend, das begeistert mich, und auf der Angewandten laufen viel lustigere Typen rum als auf der Biologie.«

    »Sperrstunde!«, ein tätowierter Typ steckte seinen Kopf durch die Tür. Außer uns war niemand mehr auf dem Balkon. Der Himmel leuchtete matt rosa.

    Tom und ich durchquerten das Lokal und traten hinaus auf den Platz. Die Strahlen der Morgensonne bohrten sich wie Dolche in meine Stirn, vor meinen Augen flimmerte es, ich hielt mich an Toms Schulter fest, er ergriff meinen Arm, »Ist dir nicht gut, Negomi?«

    »Mir geht es blendend!«, ich zog durch die Nase kräftig Luft ein und atmete durch den Mund so lange aus, bis ich auch noch das letzte Bisschen Alkohol-Nikotin-Mief aus meinen Lungen rausgepresst hatte und meine Nase wie von selbst wieder Luft einsaugte: Sauerstoff strömte ein, meine Lungen blähten sich auf.

    »Negomi!«, Nellis Stimme kratzte wie der Fingernagel auf der Schiefertafel, »Negomi!« Mein Kopf wollte bersten! Nelli wankte mit ein paar anderen Nachtschwärmern im Schlepptau auf uns zu und streckte die Hand nach mir aus, »Komm, Negomi, wir gehen frühstücken!«

    »Ja, das ist eine gute Idee! Lasst uns Frühstücken gehen!«, rief Tom.

    »Nein, du kommst nicht mit, du bist komisch!«, lallte Nelli.

    »Wieso?«, Tom tat gekränkt, »Wartet, ich hole mein Rad!«

    Nelli zerrte an meinem Shirt, »Komm, Negomi! Wir gehen frühstücken! Komm!«, sie stampfte mit dem Fuß auf.

    »Ich warte auf Tom.«

    »Aber wir gehen jetzt! Ruf mich an! Dann könnt ihr nachkommen.«

    »Vielleicht, aber ich gehe wohl eher nach Hause.«

    »Nein, nein!«, greinte Nelli. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen, beugte sich zu mir und flüsterte laut: »Du kommst nach, Negomi!«

    »Nein, Nelli, ich gehe nach Hause.«

    »Na gut, Negomi, na gut, wenn du es so willst… ich gehe!«, Nelli warf mir eine Kusshand zu und torkelte mit ihrem Anhang davon.

    Ich stand alleine auf dem Platz, die Sonne wärmte meine Haut, mein Atem ging ruhig.

    »Hey! Wie schön! Die anderen sind weg! War die eine da deine Freundin? Die ist ja irre!«, Tom schob sein Fahrrad auf mich zu.

    »Ich gehe nach Hause«, sagte ich.

    »Nein!«, flehte er.

    »Doch!«, beharrte ich.

    »Ich will dich wieder sehen!«

    »Ja, wir sehen uns bestimmt irgendwo wieder.«

    »Nein, ich will dich schnell wieder sehen.«

    »Gut. Wann?«

    »Um 12 im MQ-Daily.«

    »Ich werde dort sein.«

    Tom schob sein Rad über den Platz und verschwand in einer Seitenstraße. – Ein Treffen ohne Telefonnummer? Wie kann er sicher sein, dass ich komme? Nicht mehr denken, nur ins Bett – und nie mehr so viel Alkohol! –

    Ich öffnete die Wohnungstür. Aus dem offenen Türrahmen der Küche schien Licht ins Vorzimmer. Ich legte meine Tasche ab, schlüpfte aus meinen Schuhen und trat über die Schwelle. Mama stand im Pyjama am Herd, »Guten Morgen, Schätzchen! War's schön?«

    »Ja, geht so.«

    Die Eieruhr piepte. Mama nahm das Töpfchen vom Herd, goss das heiße Wasser ab, stellte das Töpfchen in die Spüle und ließ kaltes hineinlaufen. Sie wartete ein paar Augenblicke, griff ins Töpfchen, nahm das Ei heraus, stellte es in einen Eierbecher und trug ihn zum Tisch, auf dem ein Butterbrot, ein Messer und eine Tasse Schwarztee vorbereitet waren. Sie setzte sich auf den Hocker und schlug das Ei auf. Ich sah ihre Handgelenke, und es drehte mir den Magen um: Früher hatte sie große Hände und kräftige Arme gehabt, jetzt hingen ihre Hände übergroß von knochigen Gelenken an dünnen Ärmchen herunter.

    »Willst du auch was?«, Mama biss in ihr Butterbrot.

    »Nein, danke. Ich gehe in mein Zimmer.«

    Ich spürte nicht den Boden unter meinen Füßen, alles an mir war taub. Im Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen und drückte mein Gesicht in den Kopfpolster. Ich wollte heulen, ich wollte schreien, aber heraus kam nur ein trockenes Schluchzen.

    – Sprich sie endlich darauf an! So kann es nicht weitergehen!

    Ich traue mich nicht!

    Mach’ schon! Geh! Los! Sag es ihr! –

    Mama löffelte gerade ihr Ei aus. Ich blieb im Türrahmen stehen. Ihre früher so volle Löwenmähne hing zottig und ergraut an ihren Wangen herunter. Ihre Augen hatten tiefe Schatten, sie schauten mich aus einem bleichen, knochigen Gesicht heraus leer an.Ich hätte gerne gelächelt, ich hätte gerne ganz locker darüber geredet, aber mein Gesicht war versteinert, mein Mund eingefroren.

    – Sag es! Los! Es gibt kein Zurück! –

    »Mama, du bist viel zu dünn, du isst viel zu wenig!«

    – Ich habe die Grenze übertreten! Was wird sie tun? –

    »Ich weiß. Ich mache das mit Absicht. Ich brauche das. Aber ich habe mich im Griff, keine Sorge«, Mama wendete sich wieder ihrem Frühstück zu. Ich stand da, war aber eigentlich vollkommen verschwunden. Irgendwie fand ich in mein Zimmer zurück, wo ich mich in mein Bett verkroch und in einen trüben Dämmerschlaf sank.

    Der Klingelton meines Handys riss mich hoch: Nelli: »Alles okay bei dir, Süße? Bist du gut nach Hause gekommen?«

    »Jaja. Und du?« Plötzlich schoss es mir ein: Tom! »Nelli, ich muss Schluss machen! Ich bin verabredet!«

    »Was? Negomi? Ist es der Typ-?«

    Ich legte auf, raste ins Vorzimmer, schlüpfte in meine Schuhe, schnappte meine Handtasche, besserte meine Schminke im Spiegel nach und flitzte aus der Wohnung. Zum Glück fuhr die Straßenbahn gerade in die Station ein, als ich über die Kreuzung zum Schloss Belvedere lief. Ich sprang hinein und setzte mich auf einen freien Platz beim Fenster.

    – 11:45 Uhr. Wenn die Bahn schnell macht, komme ich vielleicht nur zehn Minuten zu spät. Hoffentlich wartet Tom auf mich! –

    Beim Dr.-Karl-Renner-Ring stieg ich aus, hastete über die Schienen und an der Hinterseite des Naturhistorischen Museums vor zur Hauptstraße. Die Hitze hing in den Straßen wie unsichtbarer Nebel. Um mich her surrte und brummte der Verkehr. – Gleich bin ich da, nur noch den Zebrastreifen überqueren: ein Ding der Unmöglichkeit! Die gemeine Ampel lässt mir dafür gerade mal eine halbe Sekunde Zeit, dann wird dem gehenden Mann sein grünes Licht entzogen und der stehende Mann erstrahlt in teuflischem Rot: »Halt! Stehen bleiben! Kein Weiterkommen!« Und ich befinde mich gerade mal auf dem ersten Drittel des Zebrastreifens: Blöde Ampeln, Stressfabrikanten! – Mit großen Schritten überquerte ich die letzten beiden Drittel des Zebrarückens. Ich setzte meinen rechten Fuß auf den Gehweg, der linke zog nach, da brausten die Autos auch schon wie losgelassene wilde Tiere hinter mir vorbei.

    »Ja, fahrt schon, und alles Gute! Ich werde euch alle überleben!«

    Ich ging auf die Torbögen des Hauptportals zu, trat ins Dunkel des Durchgangs, machte ein paar schnelle Schritte und war wieder im Licht, auf dem großen Museumsplatz – genau zehn Minuten zu spät und außer Atem!

    Die Lokale, die sich zwischen den Museumsgebäuden in die alten Gemäuer eingenistet hatten und am Rand des Platzes ihre Schanigärten ausbreiteten, waren bevölkert mit mittagshungrigen Menschlein: Der eine wartete noch auf jemanden, die andere saß schon mit ihrer Freundin bei einem frischen Salat und einem Aperol Spritz: Eine nette Kulisse, wie aus dem Werbeprospekt. Tom saß auf der Terrasse des MQ-Daily an einem der klotzigen Plastiktische auf einem lungenschwachen Stanzstuhl, winkte mir zu und grinste.

    »Entschuldige die Verspätung!«, ich setzte mich zu ihm auf einen etwas gesünderen Stanzstuhl: hart, platt, eckig: mein Hintern stöhnte, mein Rückgrat ächzte.

    »Kein Problem!«, flötete Tom.

    Die Kellnerin kam zu unserem Tisch. Ich warf einen Blick in die Karte. Tom bestellte einen Couscous-Salat und irgendsoein zuckrig-alkoholisches Getränk mit einem besonders schicken Namen, für den man es teuer verkaufen kann. Ich tat es Tom gleich.

    »Ich freue mich, dass du da bist!«, Tom machte die Arme lang, fasste mich an den Handgelenken und schmiegte seine Schulter an meine, »Wie geht es dir, Negomi?«

    »Mir geht es gut. Wie geht es dir, Tom?«

    »Ja, auch«, er flatterte mit den Wimpern, »Also, Negomi, sag’ mal, wie kommt es, dass du Schauspielerin werden willst?«

    »Das ist schon lange mein Traum.«

    »Schön!«, hauchte er und lachte.

    »Warum lachst du?«

    »Weil es mir gut geht!«, schnurrte Tom.

    Die Kellnerin servierte unser Essen und die Getränke. Wir stießen an: rosa Flüssigkeit, Limettenscheiben, Eiswürfel. Ich sog das Gesöff zwischen den Lippen durch die Zähne an den Gaumen und spürte bittere Süße und stechenden Alkohol: ich schluckte!

    »Was machst du im Sommer?«

    »Sommertheater. Auf einer Burgruine. Draußen in der Pampa.«

    »Im Ernst?«

    »Spaß ist es keiner. Ich hätte nie damit anfangen sollen.« Ich nahm einen kräftigen Schluck und schwieg.

    »Jetzt sag aber: du bist am Land aufgewachsen?«, er bewegte seine Schultern vor und zurück, sodass sein Kopf sich hin und her drehte.

    »Ich war drei, da haben meine Eltern ein altes Dorfschulhaus im Waldviertel gekauft und renoviert. Mein Vater hat unter der Woche in Wien gearbeitet, und meine Mutter war bei uns Kindern.«

    »Du bist also so richtig am Arsch der Welt groß geworden«, lachte Tom.

    »Ich fand es wunderschön. Die Stille dort draußen, die Natur, das waren meine Kraftquellen, davon bin ich geprägt.«

    »Klingt nett. Also, ich war immer nur in Städten: Wien, Berlin, Dortmund, Köln, oder weiter weg: Rom, Venedig, Mailand – ich liebe Italien! Warst du schon dort?«

    »Einmal in Venedig und einmal in Rom, aber immer nur für ein paar Tage.«

    »Ich liebe Städte! Da ist es laut und hektisch, die Menschen sind unfreundlich, es stinkt, es ist immer zu warm oder zu kalt, alles läuft mehr schlecht als recht, ständig geht was schief. Aber es gibt dann immer irgendwo diese kleinen Oasen, an denen man vergisst, was einen umgibt, wo man einfach entspannen und Spaß haben kann. Außerdem ist in der Stadt die Kultur zu Hause: ich liebe es, in Ausstellungen zu gehen, ins Kino, ins Theater, in Konzerte, das brauche ich, davon ernähre ich mich.«

    »Das mag ich auch. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich hierbleiben werde.«

    »Wieso? Wo willst du hin? Bleib da, bitte!«, Tom formte seine Lippen zu einem Schmollmund, »Oder geh nach Berlin, da komm ich mit: Berlin ist zurzeit die geilste Stadt!«

    »Ja, vielleicht, mal sehen«, ich zwang mich zu einem Lächeln und schlang das Essen hinunter: Das Gemüse und die Minze waren frisch, der Couscous war locker, aber ich schmeckte nichts. Tom aß mit gutem Appetit, er schmatzte und putzte den leeren Teller mit Fladenbrot sauber.

    »Und du hast was gegen Österreich, Negomi?«, Tom bewegte die Schultern und grinste.

    »Naja-«, fing ich an.

    »Es ist schon ein kleines Faschistennest«, unterbrach er mich und lachte, so als hätte jemand anderer seinen Satz gesagt.

    Die Kellnerin räumte die Teller ab. Wir verlangten die Rechnung.

    »Gehst du noch mit mir auf ein Eis am Schwedenplatz?«

    »Bei der Hitze den ganzen Weg durch die Innenstadt?«

    »Wir nehmen uns City-Bikes!«

    »Ich weiß nicht.«

    »Komm! Das wird ein Riesenspaß!«

    »Na gut.«

    Ich lud Tom auf das Mittagessen ein – als Wiedergutmachung für die Verspätung. Wir gingen zur Fahrradstation vor dem Museumsquartier und entlehnten zwei Räder über den digitalen Bildschirm an der Eingabesäule. Jeder zog das Rad aus dem Ständer mit der von ihm gewählten Nummer, wir stiegen auf und fuhren los.

    Tom ritt voran. Er war der City-Bike Cowboy. Sein Pferd wieherte unter seinem festen Tritt. Es setzte an zum Sprung. In schnellem Galopp jagte er

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1