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Nicht nur einen Tod gibt es
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eBook343 Seiten4 Stunden

Nicht nur einen Tod gibt es

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Über dieses E-Book

Sophia ist am Boden: keine Wohnung, kein Job, keine Perspektive. Doch dann scheint sich das Blatt zu wenden: ein reicher, älterer Herr nimmt sie in seine Villa in München auf. Sie verbringt die nächsten Wochen wie im Rausch, denn sie wird reich beschenkt und fühlt sich wie eine Prinzessin. Doch so sehr sie sich Geborgenheit und Heimat wünscht, kann sie immer weniger ignorieren, dass das Haus ein dunkles Geheimnis birgt. Die Geborgenheit wandelt sich in eine Hölle.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Feb. 2020
ISBN9783347000445
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    Buchvorschau

    Nicht nur einen Tod gibt es - Laura Milde

    Zerrissen

    Sophia!

    In mir krampfte sich alles zusammen. Unwillkürlich ballte ich die Hände zu Fäusten. Selbst seine Stimme war mir zuwider! Alles an ihm ekelte mich an: seine beständige Alkoholfahne, die gelben Finger, die Jogginghose und das Unterhemd. Es schmerzte mich, wie er mit Mama umging. Die Kraftausdrücke und seine dummen Monologe! Und gleichzeitig schämte ich mich für meine Gefühle, war er doch mein Vater. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich keine Liebe mehr für ihn empfand. Da war nur Hass. Mein Blick fiel auf den Rucksack. Er war gepackt. Ich musste mich nur noch von Abraxas verabschieden. Das tat weh. Ich schlüpfte in das Sommerkleid mit den großen Blumen, das Giancarlo so geliebt hatte an mir. Ich konnte seine Stimme hören: „Wie schön Du bist, bella Sophia!" Ich musste zu ihm! Ich würde an meinen Eltern vorbei ins Treppenhaus schleichen und dann nichts wie weg!

    Aber war ich dazu fähig? Würde ich es aushalten, Mama und meinen Raben zu verlassen?

    Abraxas landete auf dem Balkongeländer neben den Osterglocken und krächzte. Er spürte meine Unruhe. Er ruckte unruhig mit dem Kopf und spreizte immer wieder seine Flügel. Mein kluger, schöner Rabe! Wie werde ich dich vermissen!

    „Ich weiß Abraxas, ich weiß! Tränen liefen mir über die Wangen, als ich ihm mit meinem gekrümmten Zeigefinger über die schwarzblau glänzende Brust streichelte und flüsterte: „Es ist ja nicht für immer! Ich komme dich holen, versprochen!. Wird er ohne mich überhaupt überleben? Er ist so an mich gewöhnt! Ich fütterte ihn seit beinahe fünfzehn Jahren. Ich hatte ihn als hilfloses Vogelbaby im Friedhof gefunden und aufgezogen. Er kannte jedes meiner Geheimisse, auch das furchtbarste, das ich noch nie jemandem erzählt hatte. Seit meinem fünften Lebensjahr lastete die Schuld schwer auf mir. Es war mir klar, dass er nicht alle Worte verstand, aber er kannte jede meiner Stimmungen. Er verstand mich! Wenn ich nur ihren Namen nannte, vergrub er seinen Kopf in meinen Haaren und strich mir mit seinem Schnabel liebevoll über die Stelle unterm Ohr, um mich zu trösten.

    Jetzt krächzte er noch ein Mal, wandte sich ab und flog über die Friedhofsmauer, wo er hinter dem dichten Geäst der Laubbäume verschwand. Er hatte verstanden, dass ich gehen muss.

    Wieder rief mein Vater nach mir.

    Eigentlich war es noch zu kalt für mein Giancarlo-Kleid. Ich drehte mich vor dem Spiegel, als würde ich Walzer tanzen, geführt von Giancarlo. Oh, wie er mich gehalten hatte! Fest und doch behutsam. Dazu die geschmeidigen Bewegungen und sein Duft! Die Haare, so schwarz wie Abraxas' Gefieder und …

    „Sophia, verflucht!", brüllte Papa.

    Ich hatte nur noch ein Foto von Giancarlo und mir, das in der Außentasche meines Rucksacks steckte. Alle anderen waren auf dem Handy gewesen, das mir in Triest ins Meer gefallen war. Ich blieb stehen und sah mich beschwörend im Spiegel an. Diesmal musst du es schaffen! Denk an dich! Du kannst Mama sowieso nicht helfen! Ich straffte meine Schultern, setzte den Rucksack auf und betrachtete noch einmal mein Spiegelbild. Das Kleid und der Rucksack passten überhaupt nicht zusammen, weder von der Farbe noch vom Stil, dachte ich, als spiele das eine Rolle.

    Mademoiselle Sophia!, flötete Papa. Er sprach es tatsächlich wie Mademäusele aus! Es wäre überaus erfreulich, wenn Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren würden!

    Schnell griff ich mir meine Lieblingsjacke und öffnete die Zimmertür einen Spalt. Mein Herz schlug bis zum Hals. Wie erwartet fläzten Mama und Papa vor dem Fernseher, umhüllt von einer wabernden Rauchwolke.

    Papa fluchte und Mama versuchte ihn zu beschwichtigen: „Ich kann die Zigaretten doch auch holen, Konrad! Ist doch kein Problem, ich sollte mich eh ein bisschen mehr bewegen und ich könnte auch…"

    „Nein, verflucht! Das soll sie machen! Das ist doch wohl das mindeste!"

    „Sie hat doch heut ihren freien Tag…"

    „Herrgott, sie wird sich schon nicht überanstrengen!"

    „Aber…"

    Da schlug Papa ihr beiläufig mit dem Handrücken auf den Mund, tippte auf der Fernbedienung herum und brüllte wieder: „Sophia, jetzt beweg endlich deinen Arsch hierher!"

    Ich war wieder einmal schuld, dass sie geschlagen wurde! Mama hatte den Kopf eingezogen und rückte ein kleines Stück zur Seite; nicht zu weit und zu offensichtlich, damit Papa nicht wieder damit anfing, zu fragen, ob er denn so ein Unmensch war, dass man sich vor ihm fürchten musste. Das letzte Mal war ein Monolog daraus geworden, der in einem cholerischen Ausbruch und brutalen Schlägen endete.

    Vielleicht spürte Mama, dass sie beobachtet wurde, denn sie drehte ihren Kopf und sah mir direkt in die Augen. Den Rucksack konnte sie unmöglich entdeckt haben, stand die Tür doch nur eine Handbreit offen - und doch war ihr Blick flehentlich.

    Nach einem Moment des Zögerns schob ich den Rucksack wieder unter mein Bett. Dabei fühlte ich mich, als würde ich eine Freundin verraten. Nein, ich konnte weder Mama noch Abraxas zurücklassen; das brachte ich einfach nicht fertig. Sie brauchten mich beide! Es war egoistisch, seine Liebsten wegen des eigenen Glücks im Stich zu lassen!

    Ich zuckte mit den Achseln, holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer.

    „Was soll denn das!, rief Papa. „Braucht Madame denn jetzt jedes Mal eine Extraeinladung, verflucht! Sein Blick wanderte an mir von unten nach oben und blieb bei meinem Dekolleté hängen. „Bisschen tief, der Ausschnitt bei deiner Tochter, findest du nicht auch, Agnes? Und für wen wirfst du dich so in Schale, hä? Für deinen sauberen Chef, den feinen Pinkel?"

    „Sie hat doch frei heute!"

    Papa brummte.

    Oh Gott, er kann unmöglich von mir und Arthur wissen! Es sei denn…

    „Und das bei den Temperaturen! Da holst du dir eine Nierenbeckendingsbums…!"

    … es sei denn, er hätte mein Handy kontrolliert. Ich traute es ihm zu.

    „Soll ich was besorgen?", fragte ich.

    Papa glotzte wieder in den Fernseher und nahm einen Zug aus der Bierflasche, als hätte er vergessen, dass er mich gerade noch zu sich gerufen hatte.

    „Könntest du uns Zigaretten holen, Sophia?", fragte Mama. Sie sah mich beschwörend an. Ich kannte diesen Blick. Er hieß: Tu alles, was er verlangt, sofort, er ist kurz vorm Explodieren!

    Ich nickte, nahm Geld aus dem Glas über der Spüle, schlüpfte in Jacke und Ballerinas und ging ins Treppenhaus. Drei Stockwerke tiefer lebte ein älteres Schwulen-Ehepaar, ein Professor für was auch immer und ein ehemaliger Lehrer. Bei ihnen hatte ich meine halbe Kindheit und Jugend verbracht. Ich klingelte an ihrer Tür.

    Stefan öffnete sie einen Spalt und als er mich sah, entfernte er die Kette und machte sie ganz auf. Er war noch im Pyjama.

    „Sophia! Wie schön! Guten Morgen!"

    „Braucht ihr irgendwas? Tabak? Oder was vom Bäcker?"

    „Das ist lieb von dir, aber ich glaube nicht. Marc? Brauchen wir was?", rief er über die Schulter.

    Ein leises „Nein!" kam aus dem hinteren Zimmer.

    „Du hast heut frei? Magst du heut Nachmittag zum Tee kommen, Sophia?"

    „Gern!"

    Die Aussicht, inmitten von Büchern und Antiquitäten mit zwei kultivierten Menschen zu plaudern, baute mich wieder auf. Ich holte die Zigaretten am nächsten Automaten und stieg die sechs Stockwerke wieder hinauf. Mein Vater packte mich am Handgelenk, als müsse er mir die Schachtel entwinden und schimpfte, als er merkte, dass es nicht seine Marke war. Seine Aussprache war bereits undeutlich.

    Deine war aus!, sagte ich jammernd, denn er tat mir weh. Außerdem holte er mit der anderen Hand schon wieder aus. Mama mischte sich ein: „Lass sie los, sie muss doch zur Arbeit!"

    Tatsächlich lockerte er den Griff und ich konnte ihm meinen Arm entwinden. Schnell trat ich zwei Schritte zurück.

    „Wieso? Heut doch nicht!", sagte ich.

    „Doch, die Chefin hat gerade angerufen. Du musst sofort kommen, weil…!"

    „Hast du schon zugesagt? Ich bin doch nicht ihre Leibeigene, die sofort springt, wenn sie pfeift!"

    „Leibeigene! Wie du schon wieder redest, Sophia! Du musst schon schauen, dass du deine Arbeit behältst! Da geht es halt nicht immer nach deinem Kopf, da musst du dich fügen!"

    Ich dachte mir, an ihr würde ich ja sehen, wo es hinführte, wenn man sich ständig fügte! Sie arbeitete an einer Müllsortier-Anlage und lebte mit einem Mann zusammen, der sie misshandelte! Aber ich sagte nichts.

    Sie lächelte. „Im Übrigen ist es doch schön; da ist eine Kundin, die nur von dir behandelt werden will. Jetzt ab mit dir!"

    „Hast du eigentlich das Geld für März schon gezahlt?", fragte Papa.

    Ich blieb die Antwort schuldig, schnappte meine Tasche und verließ die Wohnung.

    Grenzüberschreitung

    Die Kundin, die mich und meine Arbeitsweise so schätzte, war eine nette, ältere Dame, die vergessen hatte, einen Termin zu machen. Sie nannte mich wie immer „mein Mädchen mit den Goldhändchen" und gab mir ein ordentliches Trinkgeld.

    Und auch die Chefin behandelte mich wie gewohnt: vor den Kunden begrüßte sie mich freundlich, als sei sie die herzlichste Chefin, die man sich nur wünschen konnte. Kaum waren wir allein im Mitarbeiterzimmer und die Türen hinter uns geschlossen, sagte sie: „Hör‘ jetzt ausnahmsweise mal genau zu! Nach der Mittagspause kommt die - wie heißt sie gleich wieder, die blaublütige Schabracke?"

    Die Chefin war eine kleine, zartgliedrige Person. Ein starker Kontrast zu ihrer derben Persönlichkeit!

    Frau von Uhlenstein?

    Die übernimmst du, denn ich habe Kopfweh. Wie spät ist es? Kurz vor Zwölf. Da geht sich eine Rückenmassage aus.

    Alle verfügten über mich, wie es ihnen gerade passte! Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, deutete sie ihn falsch und fragte: „Welchen Teil hast du jetzt nicht verstanden? Den mit der Uhlenstein? Das ist die Frau, die zuerst eine Fußpackung bekommt und dann die Gesichtsbehandlung mit Aloe Vera. Oder den mit der Massage? Ich brauche jetzt eine! Von dir! Die anderen sind alle besetzt."

    „Ich dachte, ich könnte jetzt wieder heimgehen. Heut ist mein…"

    „…freier Tag, ich weiß. Dann gebe ich dir halt morgen frei!"

    Ich wusste, dass ich nicht daheim bleiben würde, denn dann müssten die Kolleginnen meine sechs Behandlungen übernehmen, was ich ihnen nicht zumuten wollte. Dass ich noch vor zwei Stunden kurz davor gewesen war, alle Kolleginnen für immer im Stich zu lassen, fiel mir im Moment nicht auf.

    Widerwillig folgte ich meiner Chefin zu einer Massageliege, die durch einen schweren Vorhang von den anderen abgetrennt war. Man hörte nur die gedämpften Stimmen von Kolleginnen und Kunden und meditative, psychodelische Musik aus den Lautsprechern.

    Mit einer Unbefangenheit entblößte die Chefin ihren Oberkörper mit schlaffen Brüsten und faltigem Bauch, dass sie unmöglich einen Verdacht hegen konnte. Sie legte sich auf die Liege und als ich ihr den Rücken ölte, fragte eine leise Stimme hinter dem Vorhang: „Hase?"

    Beinahe hätte ich „Ja!" gesagt. Es war Arthur. Ein Jahr lang war ich sein Hase, sein Schatz, sein Augenstern.

    „Du kannst ruhig reinkommen", antwortete die Chefin.

    Er trat neben mich, strich mir zwinkernd eine lose Haarsträhne hinter mein Ohr und sagte zu seiner Frau: „Ich fürchte, du hast Von Steinau vergessen. Der ist jetzt da und sagt, er hätte einen Termin für eine Maniküre."

    Gedämpfte Flüche kamen unter dem Kopfteil der Liege hervor.

    „Kannst du ihn fragen, ob er nach der Mittagspause noch einmal kommen kann? Ich habe so entsetzliches Kopfweh! Nein, Sophia soll gehen, von einer jungen Frau lässt er sich wohl eher vertrösten! Und dann kannst du mich weitermassieren, Arthürchen!"

    Der verdrehte die Augen, griff mir an beide Brüste und sagte gleichzeitig: „Aber gern, mein Schatz!" Ich wich zurück und sah ihn irritiert an. Er ignorierte, dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte, formte seine Lippen zu einem Kussmund, machte eindeutige Bewegungen mit seinem Becken und verabschiedete mich mit einem lautlosen Klaps auf den Hintern. Was bildete der sich eigentlich ein! So toll war der Sex mit ihm nun auch nicht! Ich konnte verzichten! Ich warf ihm noch einen wilden Blick zu, der wirkungslos blieb, weil er sich bereits seiner Frau zugewandt hatte. Ich war stinksauer…und traurig…ach, ich war einfach durch den Wind.

    Neuland

    Herr von Steinau war ein schlanker, hochgewachsener Mann, mit grauem, vollem Haar, der gut, wenn auch einen Tick altmodisch gekleidet war. Er kam mir bekannt vor; vermutlich war er hier im Salon schon länger Kunde. Als ich ihn ansprach, stand er sofort auf, um mich per Handschlag zu begrüßen. Er musterte mein Gesicht, während ich mich räusperte und ihn fragte, ob es möglich wäre, den Termin auf den frühen Nachmittag zu verschieben.

    „Ja, können nicht Sie meine Hände machen?", fragte er mich und streckte sie mir entgegen. Es waren für einen Mann recht zarte Hände, die darauf schließen ließen, dass er zeitlebens nie mit ihnen gearbeitet hatte.

    „Meine Chefin würde Sie gern wie vereinbart persönlich behandeln. Aber wenn Sie nach der Mittagspause um zwei…"

    „Gern! Unter einer Bedingung: wenn ich Sie in ihrer Pause in ein Café einladen dürfte?"

    Jetzt war ich überrumpelt. Was will er von mir? Der könnte mein Opa sein!

    Er bemerkte mein Zögern, beugte sich zu mir herunter und sagte leise: „Ihre Augen wirken so traurig. Vielleicht kann ich Sie etwas aufheitern!"

    Da lächelte ich, sagte: „Das wäre schön!", nahm meine Tasche und verließ mit dem Mann das Studio. Auf dem Gehsteig bot er mir ganz altmodisch und vermutlich nicht ganz ernst gemeint seinen Arm zum Unterhaken an. Lachend nahm ich sein Angebot an. So flanierten wir die Straße hinunter bis zu seinem 911er.

    „Wollen wir schnell zum Botanischen Garten fahren? Das Café dort ist wunderschön und jetzt blüht bereits so vieles! Wieder bemerkte er mein Zögern. „Haben Sie gelernt, nicht zu fremden Männern ins Auto zu steigen? Das ist vernünftig, aber ich bin doch kein Fremder mehr! Sie kennen meinen Namen und ich bin schließlich in Ihrem Studio Stammgast. Von mir haben Sie nichts zu befürchten! Ich bin ein alter Mann! Er zwinkerte und das sah eher nach Lausbub als nach Greis aus.

    „Wie alt sind Sie denn?", fragte ich und merkte im gleichen Moment, dass ich mich unmöglich benahm.

    Von Steinau öffnete die Beifahrertür. Lächelnd sagte er: „Ü-Sechzig."

    Ich stieg ein, wie es mir Stefan und Marc, die beiden Schwulen, beigebracht hatten: zuerst setzte ich mich, dann hob ich meine Beine in den Fußraum. Als er mit leichtem Druck die Tür schloss, wirkte er nicht sonderlich beeindruckt - weder von meinen geschmeidigen Bewegungen, noch von meinen langen Beinen. Das störte mich. Ich war andere Reaktionen von Männern gewohnt. Ich wollte nichts von ihm, aber ein paar bewundernde Blicke hätten mir gerade gut getan. Vielleicht sollte ich mich entspannen und die Situation genießen. Wann fuhr ich schon in einem Porsche durch die Gegend? Es gab Unangenehmeres, als von einem gut situierten Herrn ins Café eingeladen zu werden!

    Im Auto duftete es leicht nach teurem Rasierwasser und Leder. Eine gute Mischung. Es roch fein, besonders; eben, wie es wohl bei den Oberen Zehntausend riecht. Der volle Sound des Motors wurde sofort von den Rolling Stones übertönt. Überrascht sah ich ihn an. Er lachte, drehte die Musik leiser und fragte: Wundern Sie sich über meinen Musikgeschmack?

    Ich nickte.

    Warum? Mick Jagger ist älter als ich! Es ist die Musik meiner Jugend. Aber ich kann Sie beruhigen: ich höre auch Jazz und klassische Musik.

    Von Steinau war ein routinierter und ruhiger Fahrer und sehr aufmerksam, denn als er die Gänsehaut auf meinen Armen sah, drehte er die Heizung hoch. Ich bedankte mich und sagte entschuldigend, ich hätte meine Jacke vergessen. Als wir auf der Terrasse des Cafés saßen, gab mir von Steinau sein Jackett. Papa hatte ja Recht gehabt: Das Kleid war zu sommerlich für die Jahreszeit. Ich war trotzdem froh, es angezogen zu haben, denn es war mein einziges Designerkleid aus wunderbar fließendem Stoff, das ich in einem Second-Hand-Laden erstanden und mir enger genäht hatte. Ich fühlte mich passend angezogen. Es passte zu diesem Augenblick, der Gesellschaft des feinen Mannes, in dieses Ambiente. Ich liebte es, weil mir Giancarlo die schönsten Komplimente gemacht hatte, als ich es trug. Dieses Kleid würde mich immer an unseren Abend erinnern, als er mich auf der Piazza mitten in Triest galant zum Tanz aufgefordert hatte. Aus einem geöffneten Fenster drang Walzermusik. Es war so romantisch gewesen, wie ich es mir nicht schöner hätte erträumen können.

    Als Cappuccino und Apfelstrudel vor uns standen, sagte von Steinau: Das war eine außerordentlich gute Idee, Sie hierher einzuladen. Sie sehen jetzt auch viel fröhlicher aus. Darf man fragen, was Sie bedrückt? Ist es Liebeskummer? Oder bin ich jetzt indiskret?

    Was es auch war, was mich zu ihm Vertrauen fassen ließ, der interessierte Blick, die vorsichtige Art, die väterliche Fürsorge, mit der er mir seine Jacke um die Schultern gelegt hatte - ich wollte ihm augenblicklich von Giancarlo erzählen.

    Da ist so ein Mann, mit dem man eine fünfköpfige Familie gründen will! Er ist gutaussehend, intelligent, arbeitet als Maschinenbauingenieur in einer Firma, die Schiffsschrauben oder so herstellt. Was ich ganz rührend finde: er ist ein bisschen altmodisch, was man mir auch hin und wieder vorwirft. Ich lachte. Wir sind beide unter dem Einfluss von älteren Menschen groß geworden - er wurde von seinen Großeltern erzogen, ich zum Teil von einem homosexuellen Ehepaar. Wir wirken manchmal beide, als wären wir aus der Zeit gefallen.

    Oh, wie ich das kenne!

    Und er kann tanzen - phantastisch! Sie lächeln? Ich finde das wichtig! Wenn jemand tanzen kann, dann zeigt das doch einiges über ihn!

    Da bin ich ganz Ihrer Meinung!, beschwichtigte er. Wenn ein Mann beim Tanz führen kann, im Gleichgewicht ist und auf Musik und Tanzpartnerin eingeht, dann hat er ähnliche Qualitäten auch in anderen Lebenslagen. Ich lächelte, weil Sie so strahlen, wenn Sie von ihm erzählen. Unvorstellbar, dass er nicht in Sie verliebt ist! Ist er doch, oder? Sie sind eine wunderschöne Frau, mit Ihren langen, blonden Haaren, den blauen Augen und Ihrer liebenswürdigen Art!

    Meine Wangen wurden heiß.

    Wo liegt also das Problem?, fragte von Steinau.

    Sofort begannen meine Augen zu schwimmen. Er lebt in Triest. Und ich kann hier nicht weg, weil… Eine Weile schwiegen wir. Meine Tränen tropften auf den Strudel.

    Vielleicht kann ich Ihnen helfen?, bot von Steinau an.

    Das ist sehr liebenswürdig, aber nein, leider nicht. Ich kann meine Mutter nicht mit… Ich schlug eine Hand vor den Mund. …nicht mit meinem Vater alleinlassen, weil…

    Von Steinau nahm meine andere Hand, die kalt und unbeteiligt neben dem Teller lag, und drückte sie leicht.

    Da brach es aus mir heraus: …weil mein Vater trinkt und uns schlägt!

    Nun flossen meine Tränen in Strömen. Ich zog meine Hand unter der Steinaus hervor, um meine Taschentücher heraus zu kramen, aber auch weil mir die Berührung unangenehm war. Wenn mich fremde Männer anfassten, konnte ich das oft nicht einordnen. Als ich mich geschnäuzt und wieder beruhigt hatte, sagte er eindringlich: Das ist ja schrecklich! Das tut mir Leid. Jedoch: Sie sind nicht verantwortlich für Ihre Mutter!

    Vielleicht hatte er Recht! Sollte ich doch endlich gehen? Mama ist so schwach und… sie weiß auch nicht wohin. Sie ist ja abhängig von ihm.

    Dafür können Sie nichts!

    Wenn er wüsste!

    „Und Sie können sie nicht ewig beschützen, Sophia! Sie sollten jetzt nur an sich selbst denken. In Ihrem Alter darf man das! Man ist sogar regelrecht dazu verpflichtet! Wann erlauben Sie es sich, Ihr eigenes Leben zu leben? „Mein eigenes Leben? Ach, er wusste ja nichts. Nichts davon, dass ich schuld war an der Depression meiner Mutter. Ich konnte zwar nichts dafür, dass mein Vater seinen Schmerz durch Gewalt ausdrückte, aber der Auslöser für seinen unstillbaren Kummer war ich. Ich war schuld an dem unerträglichen Verlust meiner Eltern. Ich hatte ihnen alle Freude geraubt. Mein eigenes Leben? Hatte ich überhaupt ein Recht auf so etwas, wie ein eigenes Leben?

    Ich war nach der mittleren Reife von der Schule abgegangen, obwohl meine Leistungen überdurchschnittlich waren. Mein Vater hatte gesagt, es wäre an der Zeit, dass ich Geld verdiene und einen Teil der Miete übernähme. Dass mich Mama damals überhaupt beim Gymnasium angemeldet hatte, verdankte ich Stefan und Marc. Weder Mama noch Papa hielten viel von meiner Intelligenz. Mit neunzehn hätte ich die Möglichkeit gehabt, in eine WG zu ziehen, ließ es aber bleiben, weil Papa, als ich das ansprach, den Wohnzimmerschrank zerlegte, um anschließend Mama und mich zu verprügeln.

    Wann war ich selbstbestimmt auch nur ein paar Meter auf meinem Lebensweg gegangen?!

    Steinau hatte gesagt, ich solle es mir erlauben, aber genau das konnte ich nicht. Er bemerkte nicht, was seine Frage in mir angestoßen hatte, da er sich gerade dem Kellner zuwandte, der nach weiteren Wünschen fragte.

    Immerhin hatte ich mir zwei Dinge nicht ausreden lassen: Als ich Abraxas fand, war er so klein und schwach, dass meine Eltern meinen Rettungsmaßnahmen keine Chance gaben. Aber unbeirrt hatte ich ihm Wärmflaschen gemacht und in der Nacht zwei Mal den Wecker gestellt, um ihn zu füttern.

    Ebenso wichtig waren mir die Zusatz-Ausbildungen, die ich freiwillig absolviert und selbst bezahlt hatte.

    Für was soll ein Vigasist - wie heißt das gleich wieder - oder ein Maskenbildner gut sein? Alles Firlefanz! Du hast Deine Lehre abgeschlossen und verdienst Geld!, hatte mein Vater gesagt. Selbst meine Mutter unterstützte mich nicht, obwohl sie meine Dienste gern in Anspruch nahm, wenn ich ihre, von meinem Vater zugefügten, Blessuren und blauen Flecken überschminkte.

    Ich war ganz in Gedanken versunken und ließ meinen Blick über den Teich schweifen, als plötzlich ein Glas Weißwein vor mir stand.

    Das wird ihnen jetzt gut tun, vertrauen Sie mir. Ein passabler Chardonnay., sagte von Steinau und lächelte aufmunternd. Da konnte er Recht haben. Eigentlich lehnte ich Alkohol ab, aber hier auf dieser Terrasse, in Gegenwart dieses feinen Mannes und in diesem Kleid fühlte ich mich nicht wie ein Prolet, als ich an dem Glas nippte. Kurz hatte ich ein Traumbild vor Augen, in dem von Steinau mein Vater war und mich zum Altar führte, wo Giancarlo auf mich wartete.

    Als ich von Steinau ansah, lächelte er noch immer. Der Mann war wirklich deutlich geeigneter als mein Vater, eine Braut zu führen!

    Während ich den Blick senkte und mit dem Glas spielte, betrachtete er mich. Seine Aufmerksamkeit tat mir gut. Schließlich sagte ich: Als meine Mutter mit mir schwanger war, hat sie getrunken. Ihr Arzt hatte ihr gesagt, dass sie so das Gehirn des Ungeborenen schädigen würde. Sie hat es geglaubt. Von Anfang an hat sie mich für dumm gehalten, hat sich zwar schwere Vorwürfe gemacht, aber es nie in Frage gestellt: das Kind ist dumm, tragisch, aber nicht zu ändern.

    Und glauben Sie das auch?

    Ich schüttelte den Kopf. Bis Stefan und Marc in unser Haus eingezogen sind, bin ich auch davon ausgegangen, dass alle - meine Freunde und Schulkameraden - gescheiter sind, als ich. In der Grundschule hatte ich schlechte Bewertungen und eine Lehrerin hat sogar vorgeschlagen, mich auf eine Sonderpädagogische Schule zu schicken. Meine Eltern hätten das sofort gemacht, ohne es zu hinterfragen. Und dann kamen die beiden Intellektuellen in mein Leben. Ihr Umzugswagen war vollgepackt mit Büchern. Marc war damals noch Gymnasiallehrer, Stefan Professor an der LMU. Sie haben mich unterrichtet, mir bei den Hausaufgaben geholfen, meine Fragen beantwortet, sind mit mir den Knigge durchgegangen, ach, sie haben mich einfach gefördert, wo es nur ging.

    Das ist wunderbar. Die beiden haben Ihr Potential erkannt und dafür gesorgt, dass Sie es auch erkennen. Oder?

    Auf dieses Oder ging ich nicht ein. Was sollte schon in mir stecken? Ja, ich kann gut schminken und tanzen und habe einen Sinn für Ästhetik und Schönheit. Aber was war das schon wert?

    Ein Schmetterling setzte sich auf meinen Arm. Das war ein Zeichen: Schau wie wunderschön alles um dich herum ist! Und auch du bist schön und richtig, so, wie du bist. Ich war ein Kind, das die Luft anhielt, um die Magie dieses Augenblicks nicht zu zerstören. Der Zitronenfalter flatterte weiter. Er hatte seine Mission erfüllt. Ich nahm noch einen Schluck.

    Stefan und Marc haben versucht, meine Eltern davon zu überzeugen, dass sie mir mehr zutrauen können, sagte ich, als wäre das eine Antwort auf seine Frage. Aber sie hielten an dem Bild, das sie von mir hatten, fest. Selbst meine guten Noten änderten nichts daran.

    "Ich

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