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Lúnlight: Die Chroniken von Leyan
Lúnlight: Die Chroniken von Leyan
Lúnlight: Die Chroniken von Leyan
eBook1.366 Seiten20 Stunden

Lúnlight: Die Chroniken von Leyan

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Über dieses E-Book

"Ich werde das alles hier zerstören."

DIE WAHL ZWISCHEN ZWEI VERFEINDETEN RASSEN,
EINE LIEBE ENTGEGEN ALLER VERNUNFT
UND EIN MÄDCHEN, DAS DIE WELT VERÄNDERN WIRD.

Das Leben der 17-jährigen Sulay wird komplett auf den Kopf gestellt, als sie von einer Gruppe fremder, magiebegabter Krieger, die sich selbst Feyj nennen, in eine ihr völlig unbekannte, wenngleich mystisch faszinierende Welt entführt wird.
Gemeinsam mit anderen menschlichen Gefangenen, den Nah'ru, wird sie auf brutalste Weise zur Kriegerin ausgebildet - für einen bevorstehenden Kampf gegen das Dunkel, welches sowohl ihre eigene als auch die Heimat der Feyj zu verschlingen droht.
Ihre Liebe zu Muyak, dem Jungen, der sie einst entführt und der ihr damaliges Leben zerstört hat, wird gefährdet durch die Missbilligung zweier verfeindeter Rassen - und durch die ungewisse Zukunft eines dem Untergang geweihten Landes.
Als Sulay endlich das wahre Ausmaß der bevorstehenden Katastrophe begreift, versteht sie, dass sie eine Entscheidung treffen muss. Zwischen zwei Welten. Zwei Rassen. Sie muss das Dunkel besiegen, das sie selbst in sich trägt.
Sulay weiß nicht, ob sie sich selbst noch trauen kann: Wird sie für die Menschen, die sie liebt, die lang ersehnte Erlösung darstellen? Oder verkörpert sie die Vernichtung, die alles beenden wird?

"Du bist das Lúnlight, das sie sucht - ich bin die Zerstörung. Ich bin das Licht."
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Nov. 2015
ISBN9783732363124
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    Buchvorschau

    Lúnlight - Sabine Steger

    ❖ Teil 1 ❖

    Fremde Welten

    Deine Aura so warm,

    deine Lippen wie Blut,

    doch dein eisiger Kuss

    erstickt jede Glut

    1. Kapitel

    Beeil‘ dich, Sulay – bei dem Tempo werden wir garantiert zu spät kommen." Mitten im Lauf hatte sich meine beste Freundin zu mir umgedreht und warf mir nun einen vorwurfsvollen Blick zu – der mich, um ehrlich zu sein, herzlich wenig interessierte. Denn ich will da sowieso nicht hin.

    „Ist ja gut …", erwiderte ich nüchtern und gab mir Mühe, nicht allzu desinteressiert zu wirken, als ich mit wenigen Schritten zu ihr aufschloss. Noch immer konnte ich es nicht fassen, dass sie mich mal wieder zu einer Feier überredet hatte, auf der ich nicht einmal willkommen sein würde. Befänden wir uns gerade nicht mitten auf der Straße … wahrscheinlich hätte ich mich selbst geohrfeigt.

    Ich stieß einen langen Seufzer aus und beschleunigte widerwillig meine Schritte, ganz entgegen meines ursprünglichen Vorhabens – denn je später wir ankamen, desto früher konnten wir logischerweise auch wieder gehen. Und vor allem wäre ich nicht länger als nötig gezwungen, Zeit in der Nähe des Gastgebers zu verbringen. So ein oberflächlicher Macho-Idiot. Was fand Acoya nur an ihm?

    Sebastian hatte – zumindest für meinen Geschmack – viel zu kurze Haare, eine Knubbelnase und eine äußerst befremdliche Art, jemanden zum Lachen zu bringen. Allein schon der Gedanke an ihn reichte, um mich auf die Palme zu bringen – und selbst wenn böse Zungen das Gegenteil behaupten mochten: Sonst gelang es nur wenigen Menschen, mich derart aus der Fassung zu bringen.

    Noch einmal stieß ich gedehnt die Luft aus, als ich mich an einen weiteren Grund erinnerte, warum dieser Abend in meinen Augen keinesfalls eine Wertung über akzeptabel erlangen konnte: Und selbiger Grund manifestierte sich in einem hellgrünen, wogenden Traum aus Samt, wie Coya es auszudrücken pflegte, inklusive acht Zentimeter hohen Stilettos – zweifelsfrei mein Untergang in dieser Nacht. Denn. Ich. Kann. In. High Heels. Nicht. Laufen. Fairerweise sei angemerkt: Oder zumindest nicht, ohne am nächsten Tag mit mindestens fünf Blasen am Fuß, sprich pro Zeh eine, aufzuwachen.

    Und bei aller Liebe … was zu viel war, war zu viel. Denn wenn es zwei Dinge auf dieser Welt gab, die ich abgrundtief hasste … dann waren es Sebastian, der vor meinen Augen meine Freundin verführte und Schuhe, mit denen man gut und gerne am Flughafen wegen versuchten Waffenschmuggels festgehalten werden konnte.

    Ein weiterer Seufzer stahl sich von meinen Lippen – wenigstens aufgrund von Atemnot werde ich heute Abend nicht kollabieren.

    „Ach, Sulay", meine Freundin grinste mir amüsiert entgegen, „so schlimm, wie du tust, wird es nun auch wieder nicht. Es handelt sich um eine harmlose Feier." Ich sah ein neckisches Funkeln in ihren Augen aufblitzen; mittlerweile kannte sie mich gut genug, um zu wissen, wie viel Überwindung mich eine Zusage gekostet hatte.

    Dennoch war ich nicht bereit, auf ihre Aufmunterung einzugehen. Denn du hast ja keine Ahnung, wie schlimm es werden wird.

    Missmutig kaute ich beim Gehen auf meiner Unterlippe. Meine modebewusste beste Freundin hatte mich nicht einmal mit schlicht offengelassenen Haaren aus dem Haus gelassen; die braun-blonden Strähnen meines mittellangen Haares waren zu einer zugegebenermaßen edel aussehenden Hochsteckfrisur arrangiert worden. Ein absoluter Hingucker – würden mich die lästigen Spängchen nicht bei jeder Kopfbewegung malträtierten wie pickende Vögel. Langsam aber sicher bereitete mir der ungewohnte Druck auf meiner Kopfhaut Schmerzen.

    Um es zusammenzufassen: Ich konnte nicht ausdrücken, wie froh ich sein würde, wenn ich endlich wieder bequem vor dem Kamin saß und ein Buch lesen konnte. Nicht mehr und nicht weniger – aber am Tag vor meinem siebzehnten Geburtstag würde mir ein solch ruhiger Abend wie ein Geschenk des Himmels vorkommen. Stattdessen wurde ich mit bereits jetzt schmerzenden Füßen bestraft. Na wunderbar.

    Inzwischen waren wir vor Sebastians Haus angekommen, Acoya öffnete das braune Gartentörchen und ließ zielstrebig ein kleines, gepflastertes Wegchen hinter sich. Da scheint sich jemand wie zuhause zu fühlen …

    Ich hatte mich in der vagen Hoffnung zurückfallen lassen, dass sie mich vielleicht vergessen würde, wenn ich mich nur unauffällig genug verhielt, aber an der Haustür wartete sie auf mich und bedachte mich mit einem auffordernden Blick. Als ich sie erreicht hatte, schlich sich ein nervöser Ausdruck in ihre Miene.

    „Sitzt meine Frisur noch?", fragte sie mich nun, während sie vorsichtig ihr Haar betastete und ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Ihre dunklen Augen funkelten im diffusen Licht der Lampe am Eingang und ich musste zugeben, wie atemberaubend sie doch aussah. Fast war ich ein wenig neidisch auf ihre dunklere, schokoladenfarbene Haut und ihre leicht schrägstehenden, grünen Augen – aber hastig ließ ich Gedanken dieser Art fallen. Heute werde ich sowieso niemanden zu Gesicht bekommen, der mich interessieren würde.

    „Natürlich, Coya", antwortete ich schließlich brav, auch wenn sie sich wirklich keinerlei Sorgen hätte machen müssen: Meine Mutter hatte auch ihre Haare zu einem geflochtenen Knoten hochgesteckt und diesen anschließend mit ein paar weißen Blüten verziert. Einige gelockte, dunkelbraune Strähnen waren bewusst aus dem Arrangement herausgehalten worden und kringelten sich ein kurzes Stück über ihren entblößten Schultern.

    Mein Blick schweifte zu ihrem Gesicht, zu dem in Blautönen gehaltenen Augen-Make-up, das sich wunderbar frisch von ihrer algerianischen Hautfarbe abhob und perfekt zu ihrem gleichfarbigen Kleid passte.

    „Kommst du nun?", riss mich Acoya in die Wirklichkeit zurück, sichtlich erleichtert, dass mit ihren Haaren noch alles in Ordnung schien. Noch immer hörte ich aus ihrer Stimme ein kleines Zittern heraus und sie hielt ihre goldene Clutch wie einen Talisman umklammert.

    Ich hingegen erwiderte nichts und schickte lediglich ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich diesen Abend so schnell wie möglich hinter mich bringen würde – wenn möglich, ohne dass jemand Bier auf mein neues Kleid verschüttete.

    Letztendlich folgte ich meiner Freundin widerstrebend in Sebastians Haus; es war beinahe ungemütlich in modern-kargem Stil eingerichtet und keinerlei Familienfotos, kaum persönliche Gegenstände waren im Hausflur zu erkennen – dafür schlug uns bereits hier wummernder Bass entgegen, der ab und an von lautem Gelächter übertönt wurde. Dubstep – womit hab‘ ich das verdient?

    Die Wohnzimmertür stand einen Spalt weit offen und so konnten wir einige Gäste ausgelassen tanzen sehen. Eine Discokugel war an der hohen Decke angebracht worden und durch eine Fensterseite konnte man in den Garten blicken, wo im fahlen Mondlicht ein kleiner Teich auszumachen war.

    Kurz drehte sich Acoya noch einmal mit blitzenden Augen zu mir um und ein nagendes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Wenn du mit ihm nicht einen gewaltigen Fehler begehst, Coya …

    Doch wieder schwieg ich und behielt meine Bedenken für mich – dieses Thema hatten wir schon so oft durchgekaut und zumindest in dieser Hinsicht besaß meine Freundin den wohl ausgeprägtesten Dickschädel der Welt, gegen den selbst ich, Meisterin der gewonnenen Diskussionen, nichts entgegenzusetzen hatte. Was Liebe nur alles anrichten kann.

    Obwohl ich mich nicht wirklich auf den Abend freute, zwang ich mich zu einem matten Lächeln – aber Acoya hatte sich bereits wieder umgewandt und öffnete nach einem tiefen Atemzug schwungvoll die Tür. Mit souveränen, selbstsicheren Schritten betrat sie das Zimmer – mit einer Leichtigkeit, um die ich sie in ihren Peeptoes zugegebenermaßen beneidete. Außerdem hätte ich ihr einen solch forschen Auftritt gar nicht zugetraut.

    Auch ich nahm mir noch einmal Zeit zum Atemschöpfen und folgte ihr dann anschließend mit nüchternem Gesichtsausdruck. Missmutig und nicht ganz so schwungvoll.

    Wir hatten kaum den überfüllten Raum betreten, da stürmte Sebastian auch schon in Acoyas Richtung; mich hatte er nicht einmal wahrgenommen. Meine Meinung über sein mangelndes Betragen interessierte aber wohl niemanden.

    „Acoya – da bist du ja endlich!", rief der Junge freudig aus und schenkte meiner Freundin eines seiner billig wirkenden Zahnpastalächeln, mit denen er wohl schon die ein oder andere rumgekriegt hatte. Mich hingegen schien er noch immer nicht bemerkt zu haben, obwohl ich mich inzwischen hinter Acoya gesellt hatte; er wirkte viel zu sehr damit beschäftigt, meiner Freundin Komplimente über ihre makellose Erscheinung zu machen. Als ob nicht jeder hier im Raum erkennen könnte, wohin du ihr wirklich schaust.

    Aber immerhin besaß ich noch Überlebensinstinkt genug, um in der Situation meine Chance zu erkennen: Verstohlen bewegte ich mich aufs Innere der Tanzfläche zu, um diesem Idioten möglichst aus dem Weg zu gehen. Angespannt hatte ich beinahe mein Ziel erreicht, da rief mir Acoya wild gestikulierend über den allgemeinen Lärm hinweg etwas zu. Die Botschaft war deutlich, auch wenn ich den genauen Wortlaut nicht vernehmen konnte.

    Ich verkniff mir eine genervte Miene und setzte mich abermals in Bewegung – ich war mir nicht sicher, wie echt mein Lächeln wirkte, aber immerhin glaubhafter als Sebastians, dessen Mundwinkel bei meinem Anblick verräterisch zuckte. Wenigstens schien er nicht vergessen zu haben, wie ich ihn zur Schnecke gemacht hatte, als er es tatsächlich einmal gewagt hatte, Acoya anzufassen.

    „Sulay …, er legte den Kopf schief und musterte mich von oben bis unten, „ich hätte nicht erwartet, dass du sie begleiten wirst. Ich hatte ganz bestimmt keine Wahl.

    Ich lächelte in mich hinein, als ich die Bedeutung hinter seinen Worten verstand: Keiner von uns beiden war von der Anwesenheit des jeweils anderen sonderlich begeistert.

    „Ich scheine wohl stets für eine Überraschung gut zu sein, entgegnete ich mit einem feinen Lächeln und beobachtete zufrieden, wie er ob dieser Anspielung getroffen zusammenzuckte – Acoya hingegen schien von meinen Worten alles andere als begeistert und rettete hastig den eigentlichen Gesprächsfaden: „Sie war sehr erfreut, als ich ihr von deiner Einladung berichtet habe. Ihr Seitenblick auf mich wirkte eisig und ich war nicht so bescheuert, ihr zu widersprechen, sondern nickte nur brav. Brachte sogar ein kleines, bitteres Lächeln zustande.

    Offensichtlich zufrieden mit mir, wandte sich Acoya wieder Sebastian zu, der aufgrund meiner Anwesenheit wenigstens einen gebürtigen Abstand zu ihr hielt.

    „Alles Gute", gratulierte sie und umarmte den großen Jungen kurz, aber herzlich – immerhin besaß er den Anstand, ihr nicht allzu offensichtlich in den Ausschnitt zu starren. Und nur noch einmal zum Mitschreiben: Dieser Kerl nimmt sich wirklich die Frechheit heraus, einen Tag vor mir geboren zu sein.

    „Von mir ebenfalls", presste ich zähneknirschend hervor und schüttelte Sebastian etwas steif die Hand. Eine unleugbare Spannung knisterte zwischen uns beiden in der Luft, die ich einerseits genoss, aber auch fürchtete.

    „Danke, Sulay", erwiderte Sebastian; doch seine Augen lächelten nicht: Wir beide wussten, dass unser Gespräch lediglich darin bestand, um vor Acoya die Form zu bewahren, die wir nicht verletzen wollten. Und das war – igitt – noch eine Gemeinsamkeit zwischen uns.

    Aber zumindest hatte ich meinen Sold für diesen Abend nun erfüllt und ich konnte mich nach einer hastigen Verabschiedung zurückziehen. Aus den Augenwinkeln bekam ich noch mit, wie Sebastian Acoya mit einem verwegenen Lächeln zum Tanzen aufforderte – und sie willigte mit einem seligen Gesichtsausdruck ein. Liebe muss wirklich blind machen. Und zudem ein oder zwei Hirnzellen zerstören, so viel steht jedenfalls fest.

    Ich arbeitete mich zu einer stilleren Ecke des Raumes vor, in der ein Sofa zur Seite gerückt worden war. Verstimmt ließ ich mich auf das harte Leder fallen. Diese Feier kostete mich wertvolle Zeit, in der ich so viel andere, angenehmere Dinge hätte unternehmen können: Der Farblack meiner Nägel blätterte inzwischen ab und es gab noch eine Reihe CDs, die ich zu einem guten Zweck aussortieren wollte.

    Irgendwann meldete sich vehement mein Magen und ich erinnerte mich daran, dass ich leichtsinnigerweise schon seit dem Mittagessen keinen Happen mehr zu mir genommen hatte. Entschlossen stand ich also auf und schlenderte zum Büffet, wo sich belegte Brötchen, Süßes und verschiedenes Obst in kunstvollen Pyramiden türmte. Letztendlich entschied ich mich für ein Paprika-Frischkäsebrötchen und ein paar Trauben – vom Alkohol ließ ich bei meiner geringen Größe lieber die Finger.

    Insgeheim hoffte ich, dass es Acoya ebenfalls mit alkoholischen Getränken nicht übertreiben würde – ich hatte wenig Lust, sie den ganzen Weg mit sowieso schon schmerzenden Füßen nach Hause zu bugsieren.

    Trotz meines kleinen Imbisses hatte meine Laune mittlerweile einen beachtlichen Tiefpunkt erreicht: Acoya schien Sebastian offensichtlich mir vorzuziehen und Lust zu tanzen verspürte ich in diesen Schuhen ebenfalls wenig. So schlenderte ich scheinbar ziellos zurück zu meinem Sofa und nippte gelangweilt an meinem Orangensaft. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mein Smartphone hervorzog, um die Uhrzeit zu überprüfen. Kurz nach zehn.

    Auf Dauer ließ mich das flackernde Licht der Diskokugel müde werden und ich lehnte mich ein wenig zurück, um mein Gewicht von den pochenden Füßen zu verlagern. Irgendjemand hatte langsamere Musik hervorgezogen und als ich einen prüfenden Blick zu Acoya hinüberwarf, lag sie mit einem feinen Lächeln in Sebastians Armen – dessen Hände lagen gerade noch so hoch, dass ich ihn nicht offen wegen Angrabscherei zur Rede stellen konnte.

    Eilig sah ich weg – ihr eng umschlungener Anblick war sicherlich keine Wohltat für meinen Puls.

    Der Sänger stimmte gerade endlich den letzten Refrain an, da trat ein Klassenkamerad auf mich zu und setzte sich mit einer solch anzüglichen Lässigkeit zu mir aufs Sofa, dass mir augenblicklich wieder die Galle hochkam. „Hast du Lust zu tanzen? Er legte einen Arm um mich und ich spürte seinen alkoholisierten Atem auf meiner Haut. „Nur wir zwei? Ganz sicher nicht.

    Allem Anschein nach war er jedoch bereits so bedudelt, dass er meinen Gesichtsausdruck nicht richtig deuten konnte – denn im nächsten Augenblick hatte er mich bestimmerisch auf die Tanzfläche gezerrt, wo er abermals den Arm um mich legte.

    Ich war mir nicht sicher, wie ich in diesem Moment dreingeblickt haben musste – aber meine Miene löste bei ihm offenbar enorme Erheiterung aus, denn er beugte sich grinsend zu meinem Ohr herunter und raunte: „Ganz locker, Süße. Ich beiße nicht." Der Geruch seines teuren Parfüms stieg mir in die Nase und obwohl wirklich wenig Platz um uns herum war, drückte er sich unnötig eng an mich. Du beißt möglicherweise nicht – aber vielleicht tue ich das ja.

    Gerade so beherrschte ich mich und presste scheinbar gequält hervor: „Tut mir leid – mir ist schwindelig. Vehement machte ich mich von ihm los. „Ich werde draußen ein wenig nach Luft schnappen. Es handelte sich zugegebenermaßen um keine sonderlich glaubhafte Ausrede – aber darauf hatte ich auch gar nicht erst Wert gelegt. Soll dieser Kerl ruhig merken, wie wenig ich von seiner Gesellschaft halte.

    Schleunigst bahnte ich mir einen Weg zur Terrassentür, die ich ohne zu zögern aufschob.

    Kühle und klare Nachtluft umstrich mein Gesicht und ich atmete zittrig ein; die verbrauchte, stickige Luft im Wohnzimmer hatte mir üble Kopfschmerzen beschert und meine Füße brannten wie nach einem Dauerlauf.

    Langsam folgte ich dem Verlauf eines kleinen Gartenpfades um das Haus herum, bis ich an einem mit Rosensträuchern umrandeten Kirschbaum anlangte, ganz in der Nähe des Zauns. Erschöpft lehnte ich mich gegen den Stamm und schloss, geschützt unter den ausladenden Zweigen, für einen Moment die Augen. Ein kleines Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel. Ich bin schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Und die Stille des Gartens ist mir tausendmal lieber als das Gedränge in Sebastians Wohnzimmer.

    Hier draußen war die Musik nur noch als ein fernes Wummern zu vernehmen und der aufgegangene Vollmond tauchte die etwas zerzaust wirkenden Rosensträucher und den rostigen Springbrunnen in ein kühles, silbriges Licht – ein klein wenig Magie. Dies könnte einer dieser Momente sein, in dem etwas passieren wird. Irgendetwas Außergewöhnliches.

    Einem kindlichen Drang folgend lauschte ich, aber nichts als das leise Plätschern des Teiches durchbrach die Stille um mich herum.

    Gelangweilt schloss ich abermals die Augen und versuchte, nicht auf den pochenden Kopfschmerz zu achten – ein leises Rascheln erregte meine Aufmerksamkeit; es war nichts weiter gewesen als ein kaum vernehmbares Knacken, so als sei jemand auf einen Ast getreten. Dennoch durchrieselte mich ein Schauer und einen Herzschlag lang vibrierte eine ferne Ahnung durch die Luft – ich ließ den Blick schweifen, aber selbst nachdem ich einige Minuten lang angestrengt und überraschend furchtlos meine Umgebung inspiziert hatte, blieb alles ruhig. Bloße Einbildung. Als ob in unserem verträumten Städtchen etwas Spannendes passieren würde.

    Dennoch stieg ein nervöses Kichern in meiner Kehle auf. Manchmal sah ich wirklich Gespenster – ein Umstand, den mir Acoya des Öfteren amüsiert und ein klein wenig spöttisch bestätigte.

    Ich vergaß den Vorfall und lehnte mich abermals seitlich an den Baum hinter mir. Hoffentlich ist es bald vorbei – ich habe herzlich wenig Lust, mir hier die Füße –

    Auf einmal vernahm ich einen zischenden Luftzug hinter mir.

    Seitdem ich mich an den Baumstamm gelehnt ein wenig ausgeruht hatte, musste bereits eine geraume Zeit vergangen sein – irgendwann weckte mich eine vor Unglaube schrill klingende Stimme: „Oh, mein Gott, Sulay – was ist denn passiert?!" Acoya.

    Verwirrt blinzelte ich und mit Verwunderung stellte ich fest, dass meine Pupillen einige Sekunden benötigten, um das besorgte Gesicht meiner Freundin fokussieren zu können. „Gar nichts, ich –, versuchte ich es mit einer Antwort, doch sie ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen: „Sulay – du blutest! Vorsichtig strich sie mir mit dem Finger über den Nacken – als ihre Finger abermals in mein Gesichtsfeld gerieten, waren sie tatsächlich rot befleckt. Was …?

    Mehr verwirrt und benommen als entsetzt griff ich mir nun selbst an meinen hinteren Halsansatz und erspürte eine raue Wunde, die trotz ihrer geringen Größe gehörig blutete und mein neues Kleid mit leuchtenden, verräterischen Tropfen durchnässte. Meine Mutter wird begeistert sein.

    „Wie hast du das denn wieder hingekommen?" Energisch packte mich Acoya an den Schultern und zwang mich so, sie direkt anzusehen; ein klein wenig Wut verdunkelte ihre hellen Augen und es tat mir ein wenig leid, ihr mal wieder Sorgen bereiten zu müssen.

    „Ich werde sofort Sebastian hierher holen – er wird uns einen Verbandskoffer besorgen, verkündete sie mir nun und sie schob meine Proteste mit einer herrischen Handbewegung fort, „dreh‘ dich mal zu mir her.

    Mit unwohlem Gefühl in der Magengegend kam ich ihrer Aufforderung nach – nicht, ohne einmal zusammenzuzucken, als das wilde Pochen in meinem Nacken urplötzlich einem stechenden Schmerz wich. Er zog sich fort, mein Rückgrat entlang, setzte meinen Rücken in Brand, bis ich mich fühlte, als sei das himmlische Feuer persönlich in mich gefahren.

    Acoya hinter mir stieß einen missbilligenden Laut aus. „Das muss sofort desinfiziert werden. Komm!" Ohne mir auch nur den geringsten Hinweis auf den Zustand meines Nackens zu geben, stiefelte sie auch schon voran und zog mich entschlossen mit sich ins Haus. Geschickt umrundete sie mit mir im Schlepptau die Tanzenden, bis wir vor der Tür, die in den Flur führte, kurz innehielten.

    „Warte hier – ich bin gleich wieder da." Sie wandte sich hastig um und verschwand abermals inmitten der anderen Gäste, während mir nichts Gutes schwante. Ich könnte Sebastians gehässiges Gesicht nicht ertragen.

    Nach einigen Minuten, in denen der Schmerz in meinem Nacken alles andere als nachließ, kehrte sie gemeinsam mit Sebastian zurück und ich war drauf und dran, auf dem Absatz kehrtzumachen. Immerhin schien sich meine Freundin im Haus mittlerweile so gut auszukennen, dass es die Hilfe des Gastgebers nicht benötigt hätte, um den Verbandskoffer ausfindig zu machen.

    „Folgt mir", wies Sebastian uns an; selbst in meinem benebelten Zustand fiel mir auf, wie wichtigtuerisch sein Gang auf mich wirkte – und wie sehr ich seine bloße Anwesenheit doch verabscheute.

    Wir wurden in ein kleines, im mediterranen Stil gehaltenes Bad geführt, das mit einigen Muscheln und stilisierten Meerestieren, die die Wände schmückten, seltsam einladend wirkte im Vergleich zu den kargen Möbeln im Eingangsbereich und dem modernen Wohnzimmer.

    „Setz‘ dich." Geschäftig wies Acoya auf den Rand der Badewanne und ich nahm etwas schwindelnd Platz; mein Kopfschmerz hatte sich inzwischen ins Unermessliche gesteigert, ganz zu schweigen von dieser seltsam nebeligen Trägheit, die meine Glieder befallen hatte. Wäre ich mir nicht ganz sicher, lediglich Orangensaft getrunken zu haben – ich hätte vermutet, dass mir jemand etwas ins Glas hinzugegeben hat.

    Als ich Sebastian mit wachsender Gereiztheit dabei zusah, wie er einige Zeit lang in einem kleinen Badschrank herumkramte, hoffte ich inständig, dass die ganze Prozedur so bald wie möglich vorüber sein würde. Endlich hatte er einige Salben und Pflaster hervorgekramt und ich drehte ihnen den Rücken zu, damit sie besser sehen konnten. Ich konnte hören, wie sie beide scharf die Luft einsogen.

    „Dein gesamter Nacken wirkt aufgeschrammt, Sulay, begann Acoya nun und die anfängliche Wut über meine Unvorsichtigkeit war vollkommen blanker Sorge gewichen, „und dein Kleid ist vollkommen hinüber.

    Ungläubig runzelte ich die Stirn – es war bereits öfters vorgekommen, dass ich die Ursache meiner Verletzungen nicht hundertprozentig zuordnen konnte – aber das hier schien selbst mir unerklärlich.

    Gedankenverloren ließ ich den Abend Revue passieren, wie ich mich von meinem Klassenkamerad losgemacht hatte und in den Garten geflüchtet war – da war dieses Rascheln in den Büschen gewesen, ein eisiger Hauch einer stillen Furcht in meinen Knochen – aber ich hatte nichts bemerkt.

    Mir kam der Kirschbaum in den Sinn. Vermutlich habe ich mich an der Rinde verletzt, als ich mich angelehnt habe. Vermutlich bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen und habe mir irgendwo die Haut aufgerissen.

    In diesem Moment streckte mir Acoya einen kleinen Spiegel entgegen und hielt ihn so, dass ich meinen blutigen Rücken wie zum Beweis selbst betrachten konnte. Tiefe Schnitte hatten eine faustgroße Wunde gerissen, aus der noch immer Blut strömte – es wirkt, als habe man mir etwas willentlich ins Fleisch getrieben. Und anschließend mit voller Wucht herausgerissen.

    Ich fröstelte, als die Kopfschmerzen an Bedeutung zunahmen, ein Wispern … – ich vertrieb den Gedanken, verbannte meine blühende Fantasie in einen Winkel meines Selbst, wo sie mich nicht von der Realität ablenken konnte. Ich werde mir später den Baum und seine Umgebung noch einmal genauer ansehen. Denn nichts ist unerklärlich.

    „Das wird jetzt gleich ein bisschen brennen", informierte mich Sebastian nüchtern – ich war so sehr in meine Gedanken vertieft gewesen, dass mich das heiße Brennen des Desinfektionsmittels vollkommen unvorbereitet traf. Ein zweites Mal zuckte ich zusammen, biss die Zähne aufeinander, als der Alkohol sich tief in die Wunde grub.

    „Schmerzt es sehr?", sprach mich Acoya sanft an und ich erkannte Mitgefühl in ihren grün schimmernden Augen, als sie sich zu mir vorbeugte und eine Hand in meine Richtung streckte – aber ich wich aus. Vor Sebastian würde ich keine Schwäche zeigen.

    „Nein, es … geht schon", presste ich deshalb tapfer hervor, obwohl ich spürte, wie heiße Wundflüssigkeit den Saum meines Kleides benetzte – es fühlt sich nicht an wie eine normale Wunde. Es wirkt wie bloßes Feuer, durchzogen von einem Fluch aus Schmerz.

    Unwohl rutschte ich auf dem Rand der Badewanne hin und her – inzwischen war mir die Situation wirklich unangenehm. Noch nie bin ich von einer Party mit einer Verletzung solchen Ausmaßes zurückgekommen.

    „Trotzdem bin ich der Meinung, wir sollten die Wunde mit etwas abdecken – nicht, dass sie sich noch entzündet", lenkte Acoya meine hinfort geglittene Aufmerksamkeit auf sich – beinahe musste ich schmunzeln, als ich erkannte, dass sie herausfordernd die Hände in die Hüften gestützt hatte und mich von oben herab anfunkelte, als erwartete sie weitere Proteste meinerseits. Sie sieht so sehr aus wie ihre Mutter Shila – sie wird einmal eine hervorragende Ärztin sein.

    Mit derselben Strenge wandte sich meine Freundin anschließend an Sebastian, der etwas verloren in der Nähe der Tür von einem Fuß auf den anderen trat: „Vielen Dank – aber warte jetzt bitte draußen."

    Offensichtlich erleichtert verschwand der Junge auf den Flur und erst jetzt erlaubte ich es mir, meine Schultern zu entspannen, dem Schmerz nachzugeben, der mich in seinem Bann hielt.

    Behutsam klebte Acoya meine Wunden ab und wir versanken beide in nachdenklichem Schweigen; ihre intensiven Seitenblicke sprachen jedoch Bände – irgendwie fühlte ich mich schuldig, weil ich ihr die Ursache für meine Verletzung nicht zu erklären vermochte.

    Endlich traten wir zurück auf den Flur – und fanden ihn zu Acoyas Enttäuschung leer vor; Sebastian musste des Wartens leid gewesen und deshalb schon vorgegangen sein.

    Gemeinsam traten wir den Weg zum Wohnzimmer an und obwohl sie Eskapaden dieser Art von mir gewohnt war, spürte ich ihren Blick diesmal länger und bohrender auf meinem Rücken ruhen; es wirkte wie eine Erlösung, als wir endlich vor der Tür stehen blieben. Zu meinem Glück zwang mich Acoya nicht dazu, ihr auf die Tanzfläche zu folgen, um sich zu verabschieden. Durch die Verletzung in meinem Rücken und die Blasen an meinen Zehen war ich für den Abend bereits genug gestraft. Auf Geläster und wilde Spekulationen kann ich gut und gerne verzichten.

    Ich verspürte allerdings wenig Lust, im stickigen Hausflur zu warten und dabei doch noch einem der Gäste zu begegnen und so schlug ich entschlossen den Weg zum Kirschbaum ein, der sich still und unschuldig vor mir in den Nachthimmel erhob.

    Aufmerksam beugte ich mich vor und begutachtete die Rinde des Baumes von oben bis unten, strich wachsam mit den Fingern über die kalte, raue Oberfläche – wirklich: Ungefähr auf der Höhe meines Rückens befand sich ein Nagel. Verkehrt herum in der Rinde steckend. Was –?!

    Ich zog die Augenbrauen zusammen und verkniff mürrisch den Mund: Irgendwie wirkte die Situation wenig real auf mich, seltsam verzerrt – wer bitte steckte einen Nagel mit der Spitze nach außen zwischen die Rinde eines Baumes?

    Dennoch war ich wild entschlossen, der schleichenden Furcht, die mich bei dieser Entdeckung befallen hatte, Herrin zu werden und so sah ich suchend nach oben – und entdeckte ein kleines Vogelhäuschen, das versteckt zwischen einigen Zweigen angebracht worden war. Vielleicht war jemand zu faul gewesen den übrig gebliebenen Nagel aufzuräumen – Sebastian würde ich wirklich alles zutrauen.

    Ich schnaubte entrüstet, wenngleich mitsamt meines Atems ein klein wenig Angst von mir glitt, die Raum ließ für meinen rationalen Verstand. Es wundert mich nicht, dass doch letztendlich er schuld daran ist, wenn mein Nacken mir nun mindestens während der kommenden vierzehn Tage gehörige Schmerzen bereitet.

    Verstimmt entfernte ich den Nagel aus der Rinde, an dessen Spitze ich im fahlen Mondlicht wirklich ein klein wenig Blut ausmachen konnte. Gut sichtbar platzierte ich ihn auf einem Fensterbrett des Hauses; vielleicht würde er Sebastian irgendwann an seine Unaufmerksamkeit erinnern.

    Merklich erleichtert durch die plausible Erklärung meiner Verletzung wandte ich mich um, als auch schon Acoyas aufgebrachtes Rufen zu mir herüberschallte. Offenbar hatte sie ihre Verabschiedung beendet und war inzwischen auf der Suche nach mir und so antwortete ich ihr hastig.

    In einiger Entfernung sah ich sie fröstelnd am Gartentor stehen und ich eilte durch den stillen Garten zu ihr hinüber; eine kleine Freude hatte mich erfasst: Endlich konnte ich den Lärm und den Trubel hinter mir lassen, konnte mich darauf konzentrieren, den Schmerzen keine Beachtung mehr zu schenken.

    Ich bemerkte das grüne, kastanienförmige Etwas nicht, das nur einen Fuß vom Stamm des Kirschbaumes entfernt lag – genauso wenig wie die schwarz behandschuhten Finger, die blitzschnell nach ihm griffen, sobald ich mich abgewandt hatte.

    Als wir die gepflasterte Straße in Richtung meines Hauses einschlugen, beruhigten mich der volle Mond über mir und die nächtliche Stille um uns herum im Laufe der Zeit. Die allgegenwärtige Ruhe schien selbst die Wunde an meinem Nacken ein wenig zu kühlen – aus irgendeinem Grund hatte mich diese Tageszeit schon immer in ungekannter Weise fasziniert: Sie forderte Aufmerksamkeit, Feingefühl – verursachte ein adrenalingeschwängertes Kribbeln auf meiner bloßen Haut.

    Aber die Stille sollte nicht lange währen: Bald begann Acoya in den höchsten Tönen von der Feier zu schwärmen: „… und als er mich dann an sich gezogen hat –"

    Ich hörte nicht mehr zu, konnte diese Sebastian-ist-ja-so-unglaublich-toll-Schwärmerei nicht länger ertragen – es würde mich in diesem Moment sicherlich den letzten noch vorhandenen Nerv kosten. Es mag banal erscheinen, aber … der verwunschene Anblick unseres kleinen Städtchens bei Nacht vermag mich mehr zu beruhigen als alles andere.

    Leicht verstimmt ließ ich mich mit der Intention, ihrem Redeschwall endlich zu entkommen, einige Meter zurückfallen – aber Acoya schien gar nicht zu bemerken, dass die Wörter, die von ihren Lippen glitten, einem unaufhaltsamen Wasserfall glichen. Sie erzählt zu viel. Vom falschen Thema.

    Nach einigen Minuten schaltete mein Hirn vollkommen ab und die Silben verklangen ungehört in der Luft vor meinen Ohren – meine Sinne schweiften ab, wandten sich den Schatten um uns herum zu, der Dunkelheit und der Nacht, die mich zu sich zu rufen schien. Was sind wir Menschen doch für armselige Geschöpfe; schwächlich am Tag und blind bei Nacht.

    Beinahe wäre ich gestolpert – der Gedanke erschreckte mich, wühlte mich merkwürdigerweise auf – abermals zuckte ich zusammen, diesmal jedoch aus einem anderen Grund.

    Wir hatten eine schmale Seitenstraße passiert und wandten uns diesmal der Hauptstraße zu – als ein sanftes Leuchten in der Dunkelheit hinter mir meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen, starrte in das undurchdringliche Dunkel hinter mir – zwei nahe beieinander liegende Lichtpunkte, ein grimmiges Starren – der Blick zweier Augen. Auf mir.

    Mein Herz begann wie mit eingesperrten Schwingen zu flattern, aber als ich weiterhin in die Gasse hinter mich starrte, erkannte ich nichts als fließende Schwärze, erfüllt von geschlucktem Licht. Ob diese eingebildeten Gespenster ein Omen sind für mein neues Lebensjahr?

    „Sulay – was machst du denn schon wieder?, riss mich Acoyas verärgerte Stimme aus meiner Trance; in ihrem Tonfall lag Argwohn. „Warum bleibst du stehen?

    Ihr Blick verdeutlichte mir, dass ich für heute wohl bereits für genügend Trubel gesorgt hatte – und so schloss ich hastig zu ihr auf und ignorierte das Prickeln in meinem Nacken, das Gefühl eines Blickes, der meine Haut in Brand setzte. Irgendetwas trieb mich fort von der Abgeschiedenheit, die ich zuvor noch genossen hatte: Eine hauchdünne, kaum vernehmbare Stimme riet mir, dass es gefährlich war, Licht in jegliches Dunkel zu bringen. Weil manche Geheimnisse zu meiner eigenen Sicherheit ihr Sein als diese wahren mussten.

    Bei meiner Freundin angekommen erkannte ich, dass diese sich fröstelnd die Schultern rieb und unruhig auf den Zehenspitzen auf und ab wippte; inzwischen war eine frische Brise aufgekommen und auch ich verspürte den Drang, endlich wärmende vier Wände betreten zu können.

    Mit fahrigen Fingern legte ich mir meine Jacke um und kaschierte damit zudem gekonnt das weiße Pflaster in meinem Nacken, den befleckten, leicht eingerissenen Stoff an meinem Rücken.

    Plötzlich spürte ich Acoyas musternden Seitenblick auf mir. „Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, du würdest in deiner eigenen Welt leben, Sulay. Als würdest du in den Schatten etwas erkennen, was für uns andere verborgen bleibt … Ihr nachdenklicher, distanzierter Gesichtsausdruck behagte mir nicht, machte mich unruhig – „Komm‘ jetzt, meinte sie schließlich nur. „Wenn wir nicht um halb zwölf zuhause sind, werden deine Eltern nicht gerade froh darüber sein. Du weißt doch, dass sie uns morgen früh wecken werden, um dir zu gratulieren."

    Kurzentschlossen ergriff sie meinen Arm und zog mich beinahe im Stechschritt hinter sich her – den Blasen an meinen Füßen tat dieses hohe Tempo gar nicht gut, aber ich schwieg beharrlich; es schien mir nicht der geeignete Zeitpunkt für eine Diskussion.

    Noch einmal wandte ich den Kopf zu der kleinen Gasse; eine dunkle Vorahnung schien über mir zu schweben, machte mir die Kehle eng – aber nichts wies auf etwaige Verfolger, auf eine stumme Bedrohung hin und so stieß ich resigniert einen Seufzer aus. Ich sollte meiner blühenden Fantasie wirklich weniger Beachtung schenken.

    Nach wenigen Minuten gelangten wir am Dorfrand an und blieben nach einigen Metern vor einem großen, eisernen Tor stehen, auf dem in verschnörkelten Buchstaben Hohenstein Manor geschrieben stand.

    Mit einem Anflug von Stolz ließ ich meinen Blick über das anmutige, mit rötlichen Backsteinen errichtete Gebäude schweifen und die Stallungen, die sich dahinter in den Himmel erhoben.

    Ich drückte die Klinke herunter und betrat den sandigen Pfad, der zum Anwesen führte. Im silbrigen Mondlicht schälte sich ein kleines Wäldchen aus der Dunkelheit heraus, der See, den ich auf dem gesamten Anwesen am liebsten hatte. Das Land mitsamt dem Adelstitel hatten meine Großeltern bereits von ihren Eltern geerbt; mein Stammbaum reichte mütterlicherseits bis ins späte achtzehnte Jahrhundert.

    Dennoch machte ich mir wenig aus meinem Adelstitel, Sulay, Fürstin von Hohenstein, den weiträumigen, teuer eingerichteten Zimmern oder dem Geld, das meine Familie ihr Eigen nannte; wir alle verbrachten unsere Zeit am liebsten in Stallklamotten bei unseren Zuchtpferden oder aber in lockerer Freizeitkleidung, während wir am nahe gelegenen Weiher picknickten. Was würde mir das ganze Geld nützen ohne eine Familie, die bedingungslos zu mir hält?

    Mein wahrer Schatz war jedoch mein kleines, hellbraunes Quarter Horse Cochiti, das ich wirklich über alles liebte. Es war das einzige Pferd, das nicht zum Verkauf bestimmt worden war, nachdem ich es liebevoll mit der Flasche aufgezogen hatte – seine Mutter war bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Gemeinsam mit meiner besten und auch wohl einzigen, wirklichen Freundin Acoya liebte ich es, im Frühling im Wald auszureiten, nur zu zweit und mit den Tieren.

    Inzwischen ließen wir die sorgfältig gestutzten Rosensträucher zu beiden Seiten des Weges hinter uns und an der Eingangstür angekommen angelte ich nach dem Schlüssel, den ich mit den kalten Fingern kaum aus meiner Jackentasche befördern konnte.

    Im nächsten Moment wurde die Tür jedoch schwungvoll geöffnet und unser Butler James empfing uns mit seinem üblichen, herzlichen Lächeln. „Fräulein Hohenstein – schön, dass Sie von der Feier zurück sind."

    Er wich zur Seite, damit wir eintreten konnten und ich warf ihm im Vorbeigehen einen mahnenden Blick zu. „Ich habe dir bereits tausendmal eingebläut, dass du mich nicht siezen sollst, James!" Herausfordernd stützte ich die Hände in die Hüften, um bei meiner geringen Grüße von einem knappen Meter sechzig wenigstens halbwegs autoritär zu wirken – was bei James jedoch noch nie auf fruchtbaren Boden gefallen war. „Und ein Fräulein bin ich erst recht nicht."

    In seinem warmen Blick erkannte ich, dass ich für ihn wohl immer die kleine, süße Lady bleiben würde, als die er mich im zarten Alter von fünf Sommern kennengelernt hatte. Schon seit ich denken konnte, war der mittlerweile altersgraue Herr bei meiner Familie angestellt und ersetzte mit einer beruhigenden Selbstverständlichkeit den Opa, den ich niemals kennengelernt hatte.

    „Nein, das bist du wirklich nicht – viel zu temperamentvoll." Obwohl James‘ Entgegnung als Tadel gedacht war, blitzten seine grauen Augen auf und ein kleiner Schimmer trat in seinen Blick, als sich Amüsement in seine Züge legte.

    „Womit du unbestreitbar Recht hast, James", kommentierte Acoya und ich war froh, dass sie den Vorfall von heute Abend mittlerweile mit Humor zu nehmen schien.

    Im Anschluss bat uns James darum, uns die Jacken abnehmen zu dürfen – doch ich hielt ihn hastig davon ab, um das blutige Kleid zu verbergen und dem armen Mann zu solch später Stunde eine unnötige Aufregung ersparen zu können.

    Ich hatte mich bereits dem Treppenhaus zugewandt, als uns der Butler noch einmal mit einem feinen Lächeln zurückhielt: „Habt ihr beiden vielleicht noch Hunger? Ich habe einige Snacks vorbereitet." Wortlos verschwand er in der Küche und kehrte kurz darauf mit einigen Schüsseln und Tellern zurück, die er uns schmunzelnd überreichte.

    Nach einem kurzen Dank machten wir uns auf den Weg nach oben, wo sich im zweiten Stock meine gesamte Etage ausbreitete, mitsamt einem eigenen Bad und einem Fitnessraum, den ich rege nutzte. Im dritten Stock mussten meine Eltern bereits schlafen – das Untergeschoss verfügte zudem noch über einige öffentliche Säle, die ab und an von Vereinen oder Hochzeitsgesellschaften als Treffpunkt genutzt wurden.

    Inzwischen hatte Acoya die Tür zu meinem Zimmer aufgestoßen und ließ sich mit einem genüsslichen Seufzer aufs Bett fallen. „Sulay – einen Tag lang einmal du sein, das wäre der Himmel auf Erden."

    Etwas ausweichend zog ich eine Grimasse; ich war es gewohnt, dass Leute mit offenem Neid von meinem Luxusleben sprachen – mit einem Ausdruck in den Augen, der mich stets dazu brachte, mich aus irgendeinem Grund schuldig zu fühlen.

    Und obwohl ich wusste, wie Acoyas Worte gemeint gewesen waren, fühlte ich mich unwohl: Nichts lag mir ferner, als durch meinen Reichtum anzugeben; er zog nichts weiter an als falsche Freunde und stumme Gier, versteckt hinter künstlicher Höflichkeit.

    Um nicht auch noch absichtlich ein solches Verhalten bei meinen Mitschülern heraufzubeschwören, war ich an meiner Schule unter dem Nachnamen meines Vaters Nate – einem Halbengländer – angemeldet worden: Sulay Ravenheart. Dennoch ließen sich manche Geheimnisse nicht auf ewig wahren – und nicht alle Menschen hatten nun einmal eine solch reine Seele wie meine beste Freundin, die mir mein Leben neidlos gönnte.

    Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich solch bedrückende Gedanken und schälte mich anschließend vorsichtig aus meinem Bolero, den ich mit einem gekonnten Wurf in den Korb für getragene Wäsche beförderte – vorher hatte ich mich gewissenhaft versichert, dass die Blutflecken auf dem schwarzen Stoff für James nicht allzu offensichtlich sein würden.

    „Hast du eine Idee, wie wir uns bis Mitternacht die Zeit vertreiben könnten?", fragte Acoya und steckte sich einige Nachos in den Mund, während sie auf meinen digitalen Wecker schielte: elf Uhr neunzehn.

    Ich musste ob der Tatsache grinsen, dass ihr, ohne es bemerkt zu haben, ein wenig Mayonnaise aufs Bein getropft war – sie ist schon immer etwas ungeschickt gewesen. Aber ich liebe sie dafür. Ich biss mir leicht auf die Lippe. Dafür bin ich diejenige mit den gefährlichen Ideen.

    Kurzentschlossen begann ich eine kleine Kissenschlacht – in wenigen Minuten würde schließlich mit siebzehn der Ernst des Lebens anfangen und förderte im Anschluss einige Filme zu Tage, mit denen die Zeit wie im Flug vergehen würde.

    Kurz vor Mitternacht deutete Acoya lächelnd auf meinen Wecker – keine zwei Minuten später umarmte sie mich herzlich. „Alles Gute zum Geburtstag, Süße." Ein wenig Freude regte sich in mir, als ich erkannte, dass sie mich viel stürmischer umarmte, als sie es zuvor bei Sebastian getan hatte. So etwas nenne ich zumindest einen Fortschritt.

    „Danke, Coya", erwiderte ich lächelnd und nahm das kleine Geschenk entgegen, das sie aus den Tiefen ihrer Tasche hervorgezaubert hatte. Es war ganz nach ihrer ordnungsliebenden Art sorgfältig, wenngleich schlicht verpackt und ließ sich leicht öffnen. Ich frage mich wirklich, was es ist – wir kennen uns bereits seit über zehn Jahren und ihre Geschenke sind stets mit Abstand die besten.

    Zu meinem zehnten Geburtstag hatte sie mir beispielsweise eine Mappe mit bekannten Kinderliedern geschenkt – ich hatte wirklich eine ausgeprägte Leidenschaft für das Singen. Immerhin ist es das praktischste Instrument von allen: Man trägt es immer bei sich und gibt einem das Gefühl, nicht vollkommen allein auf der Welt zu sein, wenn man sich einsam fühlt.

    Dennoch hatte meine Mutter in meiner Gegenwart einmal mit undurchdringlichem Blick gesagt: „Musik ist mächtig. Sie nimmt den Schmerz und gaukelt dir eine Fröhlichkeit vor, die nicht die deine ist." Ihre Augen hatten an Tiefe gewonnen, waren distanziert und still geworden, wie die Oberfläche eines Sees. Und mit meinen wenigen Sommern hatte ich keine Antwort gewusst. Hatte lediglich meine kleine Kinderhand um ihre Finger gelegt, während ich ihrer klaren, wehmütigen Stimme lauschte, mit der sie in einer mir unbekannten Sprache sang. Dennoch würde mir der Klang der Silben, so weich, so unglaublich anziehend stets in Erinnerung bleiben.

    „Na, komm schon – beeil‘ dich!", forderte mich Acoya mit vorfreudiger Erwartung in den Augen auf und ich öffnete das schmale Kästchen, welches zum Vorschein gekommen war. Ein schlichtes, silberfarbenes Medaillon blitzte mir entgegen und berührt klappte ich es auf. Ein winziges Foto war darin angebracht worden; zwei junge Mädchen mit Pferdeschwänzen lächelten mir glücklich entgegen.

    „Erinnerst du dich noch?", fragte mich Acoya leise und ein wenig nostalgisch nickte ich – ich erinnerte mich nur zu gut.

    An diesem Tag schien meine Mutter in einer bedrückenden, unerklärlichen Stimmung gefangen gewesen zu sein, die sich in Form von traurigen Liedern und glitzernden Tränen bemerkbar gemacht hatte. Ihre schmalen Hände hatten unablässig auf ihrem schlanken Bauch geruht, den sie mit zitternden Fingern umschlungen gehalten hatte – irgendwann hatte ich keinen anderen Ausweg mehr gewusst, um ihrer ungewohnt schlechten Stimmung zu entfliehen und hatte mich gemeinsam mit Acoya zu einem kleinen Picknick aufgemacht.

    Auf dem Foto erkannte ich im Hintergrund Leila, mein damaliges Pony, mit einem Picknickkorb im Maul. Zum Zeitpunkt des Fotos war ich mir noch nicht darüber im Klaren gewesen, dass sich keine drei Sekunden später der gesamte Inhalt des Korbes auf meine Haare ergießen würde.

    Wir schwelgten gemeinsam in Erinnerungen und sahen im Anschluss unseren Film zu Ende – irgendwann bemerkte ich jedoch, dass Acoya neben mir eingenickt war und so schaltete ich den Fernseher aus und machte mich leise bettfertig.

    Am nächsten Morgen wachte ich ohne das Zutun meiner Eltern auf und schlich lautlos in das kleine Bad neben meinem Zimmer, um Acoya nicht zu wecken, die noch immer tief und fest schlief.

    Vorsichtig strich ich ein wenig Heilsalbe auf die Wunde in meinem Nacken, die glücklicherweise weniger schmerzte als am Tag zuvor und arrangierte meine Haare anschließend so, dass das Pflaster kaum zu sehen sein würde.

    Ich schlüpfte hastig in eine schlichte Jeans und ein T-Shirt und tapste schließlich noch etwas schlaftrunken nach unten ins Erdgeschoss. Aus dem Esszimmer schlug mir bereits belebender Kaffeeduft entgegen und das Klappern in der Küche verriet mir, dass James ebenfalls schon wach sein musste und gerade das Frühstück für die ganze Familie zubereitete.

    „Morgen, James!, rief ich über die schwingende Saloontür hinweg – wider meiner Erwartungen war es jedoch nicht der Butler, der mir freudig antwortete: „Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling.

    Meine Mutter schaffte es geschickt, mich trotz der Teller zu umarmen, die sie in einer Hand balancierte und schenkte mir ein strahlendes Lächeln – im nächsten Moment lugte James hinter meiner Mutter hervor und ich musste anhand des hilflosen Ausdruckes in seinen Augen schmunzeln.

    „Sie wollte unbedingt selbst das Frühstück vorbereiten – jetzt weiß ich gar nicht, was ich so früh am Morgen tun soll!, beklagte er sich im Scherz, bevor sich eine zweite Stimme aus der Küche einmischte: „Andere Angestellte wären froh, wenn sie einmal nichts zu tun hätten, James. Mein Vater stellte schwungvoll ein Korb mit Hörnchen und Nussecken auf dem Esstisch ab und klopfte dem Butler freundschaftlich auf die Schulter, bevor er ihn mit einer Handbewegung einlud, sich zu setzen. „Du hingegen würdest am liebsten den ganzen Tag an etwas herumwerkeln."

    Ich gab meinem Vater Nate nickend Recht, bevor dieser sich zu mir herunterbeugte, um mich ebenfalls zu umarmen. Im Gegensatz zu mir war er von stattlicher Größe und überragte selbst meine Mutter mit ihren 1,64 Metern um einiges. Lediglich das fein geschnittene Gesicht und die helle Haut schien ich von ihm geerbt zu haben.

    „Naja, wenigstens vom Alter her bist du jetzt meine große Tochter", neckte er mich und strich sich einmal durch das kurze braune Haar, das so früh am Morgen noch ein wenig zerzaust wirkte. Er fixierte mich grinsend mit seinen golden funkelnden Augen, doch ich schnaubte nur und wandte mich demonstrativ meinem Frühstück zu.

    „Vielleicht wächst sie ja noch –, warf meine Mutter nüchtern ein, „in die Breite.

    „Mama!" Als Sandra lachte, fiel ihr das goldgelbe Haar wie flüssiger Honig um die schmalen Schultern und ihre grünen Augen funkelten jugendlich im frühen Morgenlicht – ein klein wenig beneidete ich sie für diese intensive, leuchtende Farbe in ihrem Blick, die bei mir von einem dunkleren Braunton gedämpft wurde.

    Nach einer Weile gesellte sich auch Acoya zu uns; es schien, als sei erst jetzt die gesamte Familie versammelt.

    Nachdem wir unser Frühstück beendet hatten und der Tisch abgeräumt worden war, zogen meine Freundin und ich uns schnell um und legten unsere Reitklamotten an, bevor wir uns mit gehobener Stimmung auf den Weg zu den Ställen machten.

    Es war erst neun Uhr morgens und so befanden sich die Pferde noch träge in ihren Boxen und fraßen genüsslich ihr Heu. Als ich die Tür zum Stall öffnete und den Stallgang betrat, wieherte mir Cochiti bereits zur Begrüßung entgegen.

    Acoya bereitete den Falben Cloud für unseren Ausritt vor und gemeinsam brachen wir auf in Richtung Wald.

    Später würde mir unser Ausflug noch lange im Gedächtnis bleiben – es sollte auf lange Zeit der Letzte gewesen sein.

    Nach fünfzehn Minuten langten wir am kleinen Wäldchen im Süden des Anwesens an und trieben unsere Pferde zum Galopp. Cochiti flog nur so über den weichen Boden und ich ignorierte den Schmerz, der bei jedem seiner Sprünge in meinen Nacken fuhr, denn mich ergriff ein Gefühl, das meine Seele zittern ließ, das federgleich über meine Nerven strich. Ich wollte mich erheben, wollte fliegen, wollte fliehen – da draußen in der Natur war etwas, das mich zu sich rief.

    Der Moment verflog, als ich Cochiti zum Schritt durchparierte und glitt gemeinsam mit der seltsamen Emotion davon, die mein Herz eine Weile lang umfangen hatte.

    Den Rest des Tages verbrachten wir mit allem Möglichen und als es langsam zu dämmern begann, rief uns Nate zurück ins Haus. „Deine Mutter hat angerufen, Acoya: Du sollst nach Hause kommen. Er richtete anschließend das Wort an mich. „Begleite sie doch bitte, Sulay – ich möchte nicht, dass sie ihr Gepäck allein durch die Dunkelheit schleppen muss.

    Gemeinsam suchten wir Acoyas Sachen zusammen und verließen anschließend das Anwesen durch das Tor. Meine Angst, diese beklemmende Vorahnung vom Vortag war mittlerweile in meinen Erinnerungen abgetaucht – bis wir die kleine Gasse betraten, in der ich gestern diesen flammenden Blick auf mir zu spüren geglaubt hatte.

    Und plötzlich schnürt Angst mir die Kehle zu, als mich Erinnerungen zu sich rufen: Geschlitzte Augen, glitzernder Stahl – die Bilder schossen durch meinen Geist, ließen mich schwindeln, während sich ein Prickeln unter meiner Haut fortsetzte. Die Furcht setzte mein Innerstes in Brand.

    Alarmiert starrte ich in die Dunkelheit vor mir – ich konnte nichts entdecken.

    Und so passierte ich eilig gemeinsam mit Acoya die Seitenstraße, hastete an einer weiteren Gasse vorbei, während mich ein Stimmchen zu schnelleren Schritten antrieb – bis selbige Stimme innehielt, es sich offenbar anders überlegte. Schwieg.

    Der erste Vorbote war das wiederkehrende Gefühl, beobachtet zu werden. Das zweite waren diese geschlitzten Augen. Diese Vision, dieses Bild, mit dem ich absolut nichts anzufangen wusste. Ich keuchte unter der Last dieser Eingebung und Acoya warf mir einen verwunderten Blick zu – der schnelle Rhythmus meines Herzen fühlte sich ungesund an, so als wolle es vor etwas weglaufen. Verzweifelt suchte ich nach einer Erklärung für diese Bilder, diese stumme, namenlose Furcht – aber ich fand nichts als gähnende Leere in mir –

    Es musste eine Ahnung gewesen sein, ein Knistern, das durch die Luft hinweg zu mir hinübergeglitten war, denn ich wandte mich um zu dieser zweiten Gasse hin und ein Schrei sammelte sich in meiner Kehle, grundlos, ein wenig hysterisch.

    Keine fünf Meter entfernt lehnte ein vollkommen in schwarze Kleidung gehüllter Junge – und sein grimmiges Grinsen ließ mein Blut zu Eis gefrieren.

    2. Kapitel

    Seltsam zu solch später Stunde noch zwei Mädels hier draußen anzutreffen." Ein süffisantes Lächeln hatte sich auf die Lippen des schwarzhaarigen Jungen geschlichen, der Rest seines Gesichtes lag jedoch im Halbschatten, wurde nur spärlich von dem gelben Licht der Straßenlaterne einige Meter entfernt beleuchtet. Eine silberne Schnalle an seiner Brust blitzte auf, als er das Gewicht spielerisch von einem auf den anderen Fuß verlagerte und ein wenig Licht traf auf seine dunkel gehaltene Kleidung. An Brust, Beinen und Unterarmen schien sie gepolstert und an den Schultern erkannte ich robust wirkende Schulterklappen – irgendwie erinnerte mich das Ganze an Motorradkleidung, wenngleich ich einige goldene Stickereien an Kragen und Handgelenken erkannte, die viel zu festlich wirkten, als dass meine Vermutung zutreffen könnte.

    Mein Blick glitt hoch zu seinen feinen, exotisch anmutenden Gesichtszügen, dem harten Schwung seines Kinns – er musste ein wenig älter sein als ich, wenngleich irgendetwas an seiner Erscheinung es mir schwer machte, ihm ein ungefähres Alter zuzuordnen. Waren es seine wohldefinierten, ebenen Gesichtszüge? Der verkniffene Mund, der ihn so erwachsen erscheinen ließ – und doch einen deutlichen Kontrast zu dem verwegenen Glitzern in seinen dunklen Augen malte?

    „Wir haben jedes Recht, hier zu sein", entgegnete ich und zu meiner eigenen Überraschung klang mein Tonfall aufgebrachter, als er es in einer solch banalen Situation hätte sein sollen – aber die herablassende Art, dieser durchdringende Blick, mit dem der Fremde uns taxierte, gefiel mir nicht: Eine stumme, wenngleich überdeutliche Bedrohung schien von ihm auszugehen und die Luftmoleküle schienen zu flattern, waren unruhig – zeugten von einer unverhohlenen Angriffslustigkeit. Wir müssen hier weg.

    Meine Antwort schien ihn zu amüsieren, denn sein leises Lachen glitt durch die Dunkelheit zu mir herüber, strich verheißungsvoll um mein Ohr – ich bekam eine Gänsehaut.

    „Genauso wie ich", erwiderte er, doch seine Miene veränderte sich nicht, war vollkommen undurchsichtig und ließ keinerlei Schlüsse auf seine Gefühle zu. Er bohrte lediglich den Blick seiner dunklen Augen in mich. Offen und direkt. Ohne zu blinzeln. Ein weiterer Schauer rieselte über meinen Rücken, hinterließ ein eisiges Gefühl in meiner Magengegend, das sich so sehr nach Furcht anfühlte.

    „Aus irgendeinem Grund wage ich, das zu bezweifeln, schoss ich zurück – im gleichen Moment fragte ich mich, warum ich die Zeit mit Reden vergeudete, wo ich doch eigentlich rennen sollte – aber die Worte ließen sich nicht aufhalten. „Tut mir leid, dass ich mich von deinem Äußeren verleiten lasse …, meine Stimme zitterte kaum merklich, brach beinahe unter der Last meiner Angst, „aber ich kann mir kaum vorstellen, dass du hier draußen etwas Legales vorhast."

    Mein Herz klopfte wie wild, gab meinem Blut einen alarmierenden Rhythmus vor – warum verunsichert er mich in einem solchen Maße?! Er ist vermutlich nichts weiter als ein normaler Junge, auf der Suche nach – irgendetwas unterbrach mich, verriet mir, dass viel mehr unter seiner makellosen Fassade schlummerte. Irgendetwas, was ich mir in meiner Starre nicht eingestehen wollte.

    „Du hast eine scharfe Zunge, Mädchen", kommentierte der Junge und lächelte milde – im Gegensatz zu mir schien ihn die Situation auf seltsame Weise zu erheitern. Im Mondlicht blitzte etwas silbern auf, als seine Hand zu seinem Gürtel wanderte – aus der Entfernung konnte ich jedoch nicht mit Genauigkeit sagen, worum es sich handelte.

    Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, schnürte mir die Luft zum Atmen ab – aber ich bekämpfte ihn, besiegte ihn mit freigelassenen Silben: „Wirklich? Du scheinst mir auch kein Kind verlorener Worte zu sein." Ich war mir bewusst, dass ich meine Unsicherheit lediglich hinter offener Aggressivität verbarg – und ich spürte, wie mir die Kontrolle über unser Gespräch, über unsere Lage entglitt wie ein Fisch im Wasser. Langsam, aber unaufhaltsam. Wir müssen hier weg. Sofort.

    „Sulay – es ist genug." Acoyas Worte flüsterten mit dem Wind und ich erkannte, wie ihre Lippe unruhig zitterte, als sie dem Fremden mit großen, schreckgeweiteten Augen entgegenblickte. Ihre Tasche hielt sie fest umklammert und streckte sie abwehrend wie eine Waffe von sich.

    „Sulay also …" Abermals breitete sich ein grimmiges Grinsen auf dem Gesicht des Jungen aus, als er meinen Namen auf der Zunge zergehen ließ – etwas an der Art, wie er die Silben aussprach, riss an meinen Nerven, drängte mich zur Flucht.

    Inzwischen schien der Fremde nachdenklich, hatte beinahe fragend den Kopf schiefgelegt; es wirkte, als sinne er über etwas nach – als empfände er unser Gespräch als ein Spiel, das es auf die ein oder andere Weise zu gewinnen galt. Eisige Ruhe erfasste mich, durchmischte sich mit einem Hauch von Wut. Ließ mich unvorsichtig werden.

    „Sprich mich nicht an – du hast uns bereits lange genug aufgehalten." Meine Stimme überschlug sich beinahe, schäumte voller unterdrückter Emotionen, obgleich ich mich um einen ruhigen Tonfall bemüht hatte. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete ich Acoya zu gehen. Endlich fort von dem Jungen mit dem intensiven, besitzergreifenden Blick –

    Abermals vernahm ich sein Lachen. Leise nur, wie hinter hervorgehaltener Hand – aber der Klang, die einzelnen Töne schienen umwoben von Gefahr und Härte und Überheblichkeit, trafen mich wie Schläge in die Magengegend. Wir können ihm nicht entkommen. Der Gedanke versteinerte mich, gefror mich zu lebendigem Eis.

    „Du bist erstaunlich vorlaut, mính", raunte er nun und sein Unterton wirkte bedrohlich – mit Entsetzen nahm ich wahr, wie er sich geschmeidig von der Wand abdrückte, seine Augen mit einer düsteren Entschlossenheit auf mich geheftet, „fragt sich nur: Wie lange noch?"

    Und auf einmal war er nichts weiter mehr als ein verschwommener Schemen, ein Schatten in der hereinbrechenden Nacht – mit einem gewaltigen Sprung war er bei uns und riss Acoya mit unglaublicher Kraft zu sich herum. Meine Freundin ließ vor Schreck die Tasche fallen und ihre Bürste mit dem kleinen Katzenanhänger, den ich ihr einmal geschenkt hatte, landete klappernd auf dem Asphalt – das Geräusch hatte etwas seltsam Endgültiges an sich, erreichte eine tiefe Furcht in mir und eine Stimme, die schrie – Acoyas Augen waren schreckgeweitet, verdeutlichten ihr ungläubiges Entsetzen, während mich der Junge musterte. Einschüchternd. Berechnend. Vereinnahmend.

    Der Schrei in meiner Kehle wollte freigelassen werden – aber da drehte der Fremde Acoya die Arme auf den Rücken, presste sie unnachgiebig an sich – während er ihr ein Messer an die Kehle hielt. Die Waffe, die er vorhin so beiläufig in den Fingern gedreht hat.

    Wachsam wanderten seine stechenden Augen zwischen mir und Acoya hin und her und er wirkte im Gegensatz zu uns beinahe aufreizend gelassen – er war sich der Tatsache offensichtlich bewusst, dass wir nichts gegen ihn ausrichten konnten. Wieder erklang sein feines Lachen durch die entstandene Stille zu mir herüber, entriss mir jegliche Silben und Buchtstaben, als die Angst mich lähmte.

    „Mich würde interessieren, wo dein loses Mundwerk geblieben ist, Kleines. Er legte gespielt bedauernd den Kopf schief und die Klinge des Messers glitt bei dieser Bewegung nur wenige Millimeter von Acoyas Haut entfernt über ihre Kehle. „Oder sprichst du etwa nicht mehr mit mir? Wie bedauerlich.

    Erst jetzt fiel mir sein etwas fremdländischer Akzent auf, ein unbekannter, weicher Klang, der in den sonst so hart wirkenden deutschen Wörtern mitschwang. Mittlerweile wurde er ebenfalls vom Licht der Laterne erhellt – und noch immer wirkten seine Augen so schwarz und hart wie Onyx, so düster, so unendlich tief, dass man sich in ihnen verlieren konnte, ohne jemals den Weg in die Realität zurückzufinden.

    Mit Mühe riss ich mich aus meiner Starre und erwiderte den herausfordernden Blick des Jungen standhaft, wenngleich ein wenig unsicherer als zuvor. Ein leichtes Zucken in seinem Mundwinkel verriet mir, dass ihm weiterer Spott auf den Lippen lag – aber in diesem Moment zerriss ein lauter Schrei die Luft, drang durch den Nebel in meinem Kopf, brach den Bann, in den mich der Fremde geschlagen hatte: „Lauft! Lauft, so lange ihr noch könnt." Oh Gott – wir sind nicht allein.

    Der panische Tonfall der männlichen Stimme ließ mich ungewollt getroffen zusammenzucken und meine Augen flogen ruhelos hinüber zu Acoya, die immer noch fest, hilflos, im Griff des Schwarzhaarigen gefangen war. Sie warf mir angstvolle, bittende Blicke zu – aber ich konnte, konnte ihr nicht helfen. Konnte nichts anders tun, als nach dem Jungen Ausschau zu halten, der uns offenbar so kläglich zu warnen versucht hatte.

    Ich erkannte ihn tief im Schatten der Gasse verborgen. Er hatte sich an einer Wand zusammengekauert und seine Hände schienen straff gefesselt. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich das Zittern erkennen, das seinen gesamten Körper befallen hatte. Und er war wirklich nicht allein: Eine ganze Gruppe weiterer Jungen lungerte im Halbschatten; sie schienen ähnlich gekleidet wie der Fremde, der Acoya angegriffen hatte – Adrenalin durchflutete mich, riss mich erbarmungslos mit sich, als die Jungen die Köpfe wandten und mir zugrinsten; eine stumme Drohung flatterte zu mir herüber, umschlang mit schwarzen Schwingen mein rasendes Herz.

    Im nächsten Moment zwang ich mich zur Ruhe: Unsere Lage schien bereits brenzlig genug, ich musste unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Fieberhaft überlegte ich, ob es in dieser Abgeschiedenheit und um diese Uhrzeit etwas bringen würde, laut um Hilfe zu rufen – Klatsch.

    Erschreckt zuckte ich zusammen und verstand erst nach einem Herzschlag, dass einer der Fremden dem zusammengekauerten Jungen, ohne zu zögern, eine schallende Ohrfeige verpasst hatte. „Sei still, nshaktí" Und ich verstand, dass Schreien uns nicht retten würde.

    „Nachdem sie euch inzwischen sowieso bemerkt hat, ist es nicht mehr nötig, euch bedeckt zu halten, Jungs", mischte sich der Schwarzhaarige abermals ein; sein Tonfall wirkte nun desinteressiert, missmutig, so als sei auch er nicht erfreut über den Warnversuch des gefesselten Jungen. Mit einer auffordernden Kopfbewegung unterstrich er seinen Befehl und sie traten nacheinander hervor in den Lichtkegel, den die Laterne warf. Ihre Bewegungen zeigten von kraftvoller Eleganz, wirkten zu geschmeidig, zu einschüchternd, als dass sie wie normale Jugendliche auf mich hätten wirken können.

    Ihre Anzahl, ihr bloßer Anblick löste ein Schwindelgefühl bei mir aus und wieder verspürte ich dieses leise Zischen in mir, das begleitet wurde von einem heftigen Kopfschmerz. Doch ich hatte keine Zeit, diesen Regungen weitere Beachtung zu schenken; wenn Acoya und ich nicht bald von hier wegkamen, würden wir wohl genauso wie der andere Junge enden: Gefesselt und verängstigt im Schatten der Sackgasse.

    Ein nagendes Wissen schlich sich in mein Bewusstsein, machte meine Glieder schwer – und ich traf eine Entscheidung, trat bestimmt einen Schritt nach vorne. „Falls ihr vorhabt, uns beide zu entführen …, ich ließ meine Augen herausfordernd über die Versammelten schweifen und der überraschend feste Klang meiner Stimme verlieh mir neuen Mut, „solltet ihr mit mir vorlieb nehmen.

    „Und warum sollten wir das, wenn ich fragen darf?", erwiderte der Schwarzhaarige lauernd – er schien irgendeine Anführerposition innezuhaben, denn die anderen nickten nur, durchbohrten mich mit interessierten Blicken.

    Ich schluckte, ballte die Finger zu Fäusten, damit sie nicht sehen konnten, wie sehr ich zitterte. „Meine Eltern sind reich. Das Lösegeld –"

    Meine Worte gingen unter in ihrer Erheiterung, in diesem mitleidigen Lachen, welches die Furcht in mir neu entfachte. Mein Herz raste, wummerte erbarmungslos gegen meine Brust – sie wollen kein Geld, keine Schlagzeilen. Sie sind hinter etwas anderem her. Die Antwort lag irgendwo tief in mir verborgen, wollte gehört werden – aber sie glitt hinfort in die Dunkelheit, als ich nach ihr zu greifen versuchte.

    Das Gelächter um mich herum legte sich, wich einer angespannten, knisternden Stille, bis abermals ihr Anführer sprach: „Der Wunsch, deine Freundin zu schützen ehrt dich", wie zur Bestätigung bemerkte ich, wie er den Griff um Acoyas Kehle ein wenig lockerte, sodass diese etwas freier atmen konnte. Er blickte mich von oben herab an und ich reckte tapfer das Kinn, hielt seinem Blick stand, bis – „Deshalb werden wir ihn dir erfüllen, Menschenmädchen."

    Unablässig ruhten seine Augen auf mir, wenngleich sie ein wenig weicher erschienen. Nicht mehr so scharf und hart wie Onyx. Eher wie die dunklen Tiefen eines nächtlichen Ozeans: Geheimnisvoll und unergründlich.

    Dennoch ließ mich sein Tonfall stutzig werden: Verachtung hatte in der Anrede mitgeschwungen, eine seltsam distanzierte Wut, deren Ursprung ich nicht begreifen konnte. Aber … ist er nicht selbst ein Mensch? – Ne … in … er … ist –

    Die Kopfschmerzen brachten mich um, rissen mich in die Tiefe und ließen ein dumpfes Pochen zurück, das von innen gegen meine Eingeweide hämmerte. Etwas, das freigelassen werden wollte –

    Es schien mir, als hätte der Anführer meine Gedanken gelesen, denn seine Worte schwebten harsch und kalt zu mir herüber: „Wir sind nicht menschlich, seine Stimme senkte sich, wurde zu einem bedrohlichen Zischen, „wir sehen vielleicht so aus wie ihr – aber mehr auch nicht. Beunruhigt beobachtete ich, wie seine Hand aufgebracht mit dem Messer an Acoyas Hals spielte, welche daraufhin panisch die Augen zusammenkniff, wie zu einem stillen Gebet. Mir zerriss es bei ihrem verängstigten Anblick fast das Herz. „Und solltest du mich jemals als menschlich bezeichnen, kleine Nah’ru", seine Stimme war ruhiger geworden und die Sanftheit darin ließ seine Miene nur noch bedrohlicher wirken, „so schlitze ich dir deine unschuldige Kehle auf."

    Obwohl ich diesen Jungen erst einige Minuten lang kannte, der so temperamentvoll, so unberechenbar war wie ein loderndes Feuer – und dennoch war ich mir augenblicklich des erschreckenden Wahrheitsgehalts in seinen Worten bewusst, dieser offenen Drohung.

    Mein Herz setzte einen Schlag aus, alles um mich herum drehte sich, alles, alles – die Frage zermürbte mich mitsamt ihres ganzen Gewichtes, ihrem Drängen, bescherte mir schwarze Flecken vor den Augen. Was ist er für ein Wesen – wenn er behauptet, kein Mensch zu sein?

    Ich atmete ein, tief und zittrig. Einmal angenommen, er sagt die Wahrheit – ist das vielleicht der Grund, warum er sich sekundenschnell auf uns stürzen konnte? Der Grund warum – sein bloßer Anblick eine Gänsehaut auf meinen Rücken jagte. Und was wollen sie von uns – wenn sie es nicht auf Lösegeld abgesehen haben?

    Ich schob die lästigen Gedanken beiseite und kämpfte verzweifelt um Fassung, bevor ich abermals das Wort an den Jungen richtete. Irgendwie musste ich um Acoyas Freilassung verhandeln – um anschließend selbst zu fliehen, obwohl mich bereits jetzt mein Instinkt anschrie, zu laufen, weit, weit weg, egal wohin. Nur fort von diesen dunklen, bedrohlichen Augen, die mich durchdrangen. Aber ich kann Acoya nicht alleine lassen. Sie braucht mich.

    Mittlerweile ging der Atem meiner

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