Supply Chain Management: Gegenstand - Bedeutung - Wertschöpfung - Interessen - Konfiguration - Koordination - Robustheit - Resilienz - Digitalisierung - Strategie
Von Willi Darr
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Über dieses E-Book
Der Forschungsstand zum Inhalt und zu den Konzepten des Supply Chain Managements ist leider nicht sehr förderlich. Es gibt kaum eine Disziplin, die derart vielfältig definiert und unterschiedlich ausgestaltet wird wie diese. Das Spektrum reicht vom SCM als neue Bezeichnung für eine lieferanten- bzw. materialbezogene unternehmerische Funktion (z.B. Logistik oder Einkauf) bis hin zum Ersatz für integrierte Unternehmensführung. Demzufolge ist der breite Konsens zu den gemeinsamen Grundbausteinen und Konzepten eines Supply Chain Managements und deren Erfolgsstrategien kaum zu finden.
Dieses Buch unternimmt den Versuch, einen Konzeptrahmen für ein Supply Chain Management zu schaffen und zu erläutern, der die funktionalen Fachdisziplinen des Unternehmens, d.h. Produktion, Einkauf, Logistik, nicht infrage stellt, sondern das Supply Chain Management als eigenständige und nutzenstiftende Disziplin herausstellt und erläutert.
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Buchvorschau
Supply Chain Management - Willi Darr
1. Zum Gegenstand des Supply Chain Managements
a. Einführende Aussagen
Zu Beginn dieses Buches steht ein zunächst überraschendes Zitat von H.-Chr. Pfohl, das auf der Fachmesse Exporeal von ihm getätigt und im LOG Kompass 10/2013 abgedruckt wurde:
„Alle reden vom Supply Chain Management, aber keine Sau weiß, was das eigentlich ist." ¹
Dieser Begriff, der nach einhelliger Meinung von Keith/Webber (1982) eingeführt wurde, ist längst in unseren täglichen Sprachgebrauch übergegangen. Und trotzdem scheint der Inhalt immer noch diffus zu sein.²
In der Konsequenz finden nun die wissenschaftlich Interessierten und die Praktiker zu Beginn jeder Veröffentlichung zum Supply Chain Management eine breite Diskussion zum Begriff Supply Chain Management und die Aussage einer fehlenden Verständigung zu einem mehrheitlich getragenen Begriffsverständnis. So auch in diesem Buch. Hierbei geht es nicht um die begriffliche Lufthoheit, sondern im Wesentlichen um die inhaltlichen Konzepte, die Aufgaben bzw. Herausforderungen und die spezifischen Erkenntnisse, die dem Supply Chain Management entspringen und letztlich den Führungsanspruch inhaltlich begründen. Im Kern steht daher die Frage, ob durch das Supply Chain Management spezifische Erkenntnisse gewonnen werden können, die das Management der Supply Chain besser bewerkstelligen als dies andere Konzepte können.³ Diese besseren Antworten des Managements auf die Herausforderungen des Marktes und der Zukunft würden dann auch den Führungsanspruch des Supply Chain Managements begründen.
So gesehen ist die fehlende begriffliche Basis nur die Spitze des Eisbergs. Die Argumentation lautet daher wie folgt: Ohne ein einheitliches Begriffsverständnis keine klaren Inhalte; ohne klare Inhalte keine empirischen Überprüfungen; ohne empirische Überprüfungen keine Vergleiche (z.B. Benchmarks); ohne Vergleiche kein Nachweis zum Führungsanspruch. Ohne den wissenschaftlichen Nachweis kann selbstverständlich der praktische Handlungsdruck in den Unternehmen auch das Thema beflügeln; so wie dies beim Supply Chain Management erfolgt ist. Doch dazu später mehr.
Aus diesem Grunde steht auch zu Beginn dieses Buches eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Begriff Supply Chain Management und Inhalten. Dann kann im Anschluss eine Supply Chain Konzeption entworfen werden, die dann empirische Überprüfungen zulässt und letztlich auch den Führungsanspruch untermauern kann.⁴
b. Ein Überblick über die vielfältigen Diskussionen
Das Thema Supply Chain Management hat eine hohe Bedeutung. Die Aussagen und Spuren in Wissenschaft und Praxis sind deutlich und zahlreich. Eine kurze Übersicht soll diese Einschätzung zum Ausdruck bringen.
• Berufsvereinigungen firmieren als Council of Supply Chain Management Professionals (CSCMP) oder thematisieren das Supply Chain Management, so z.B. die BVL e.V.⁵ oder BME e.V.⁶ Weitere Verbände haben sich mit einem direkten Bezug zum Supply Chain Management konstituiert: Supply Chain Management Association (SCMA), International Supply Chain Education Alliance (ISCEA) oder das Institute for Supply Chain Management (ISCM).
• Die BME gründete im Jahre 2010 eine spezielle Fachgruppe „Supply Chain Management, um die Aufgaben eines Supply Chain Managers konkreter zu umreißen.⁷ Der BME-Report „Supply Chain Manager
erschien im Jahre 2014.
• Die Anzahl der Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften⁸ steigt seit den 90er Jahren kontinuierlich an.⁹
• Schon früh analysierten Forscher in empirischen Untersuchungen das Supply Chain Management: (i) Göpfert/Wellbrock dokumentieren den hohen Stellenwert des Supply Chain Managements in der überwiegenden Anzahl der untersuchten Branchen, insbes. der Automobilindustrie, Logistikdienstleistungen und Metallerzeugung/Metallverarbeitung.¹⁰ (ii) Die Studie von Naslund/Williamson betont für die überwiegende Anzahl der befragten Führungskräfte eine herausragende bzw. sehr hohe Bedeutung.¹¹ (iii) Die Studie von Fettke verweist auf weitere allgemeine und spezielle Studien zum Supply Chain Management, insbesondere zu den Zielen, den Strategien, den Erfolgsfaktoren, den Strukturen, der Wahl der Supply Chain Partner, der Bedeutung der Informationsflüsse u.dgl. Interessanterweise wird die Rolle der Koordination nur gering eingestuft.¹²
• Buchveröffentlichungen oder Zeitschriften widmen sich dem Supply Chain Thema. Auf eine Auflistung wird hier verzichtet und auf die wissenschaftlichen Datenbanken von EBSCO mit 39.110 Beiträgen oder Emerald Journal mit 45.000 Beiträgen am 13. März 2021 verwiesen. In den Suchmaschinen Google oder Bing werden mit über 100 Millionen Nennungen deutlich mehr Quellen ausgewiesen.
c. Ein Überblick über die vielfältigen Definitionen
Das Phänomen Supply Chain Management ist spätestens mit Beginn der Forcierung der Arbeitsteiligkeit (und der Globalisierung) weit verbreitet und diskutiert.
Der Begriff »Supply« nimmt hierbei die Perspektive des Einkaufs ein und betrachtet die ganze Lieferkette aus Sicht der Beschaffung. Es wäre auch die Blickrichtung vom Rohstoff zum Kunden möglich (»Demand«); doch es hat sich der Begriff »Supply« durchgesetzt. Die Supply Chain endet letztlich beim Endverbraucher, der dann aus seiner Sicht in den Lieferkanal schauen kann und damit alle Tätigkeiten als Lieferprozesse (»Supply«) wahrnimmt. Die vorherrschende Sichtweise in den Lieferkanal nimmt aus einer Managementsicht hierbei der Endhersteller (OEM) vor.
Der Begriff »Chain« deutet darauf hin, dass eine Reihe an Tätigkeiten zu einer Abfolge miteinander verbunden ist. Die Kette suggeriert damit eine Abfolge von Tätigkeiten „der Art nach", so wie sie in den Begriffen Tier-1 bzw. Tier-2 etc. zum Ausdruck kommt. Da ein Endprodukt aus mehreren Komponenten (Stückliste) und diese wiederum aus mehreren Bauteilen bestehen, wäre der Begriff des Netzwerks inhaltlich näher am Produktentstehungsprozess. Es hat sich der Begriff »Chain« durchgesetzt.
Im Folgenden werden die Begriffe Supply Chain, Supply Network, Lieferkette und Liefernetzwerk synonym verwendet. Die Entsorgungskette und die Recyclingkette werden in diesem Buch nicht betrachtet. Der Begriff der Value Chain wird hier nicht verwendet, da dieser zu nah an der Konzeption von Porter angelehnt ist und diese andere Erkenntnisziele hat.
Der maximale Umfang der Lieferkette beginnt bei den Herstellern der Rohstoffe und endet beim Endkunden. Als Arten der Wertschöpfung werden in dieser Kette grundsätzlich (i) die Transformation (Fertigung), (ii) der Transfer (Logistik) und (iii) die Transaktion (Einkauf bzw. Vertrieb) vorgenommen und betrachtet. Erst die Kombination von Transformation, Transaktion und Transfer beschreibt vollständig alle notwendigen Wertschöpfungsprozesse der Lieferkette. Sie bildet damit auch die funktionale Basis des Supply Chain Managements.
Auf die unterschiedlichen Definitionen ist eingangs schon hingewiesen worden. Die BVL hat sich für eine sehr enge Auslegung einer Definition entschieden. Für sie sind Logistik Management und Supply Chain Management identisch:
„Logistik ist die ganzheitliche Planung, Steuerung, Koordination, Durchführung und Kontrolle aller unternehmensinternen und unternehmensübergreifenden Informations- und Güterflüsse. Supply Chain Management (SCM), die intelligente Planung und Steuerung von Wertschöpfungsketten, wird synonym verwendet. (Logistik-Definition der BVL)".¹³
Eine umfassendere Sichtweise zum Gegenstand des Supply Chain Managements wird vom Council of Supply Chain Management Professionals eingenommen:
„Supply chain management encompasses the planning and management of all activities involved in sourcing and procurement, conversion, and all logistics management activities. Importantly, it also includes coordination and collaboration with channel partners, which can be suppliers, intermediaries, third party service providers, and customers. In essence, supply chain management integrates supply and demand management within and across companies." ¹⁴
Die Präzisierung der Inhalte und damit auch die Abgrenzung zum Logistikmanagement folgt dann anschließend:
„Supply chain management is an integrating function with primary responsibility for linking major business functions and business processes within and across companies into a cohesive and high-performing business model. It includes all of the logistics management activities noted above, as well as manufacturing operations, and it drives coordination of processes and activities with and across marketing, sales, product design, finance, and information technology." ¹⁵
Zur Abgrenzung zum Logistikmanagement legen sie fest:
„Logistics management is that part of supply chain management that plans, implements, and controls the efficient, effective forward and reverses flow and storage of goods, services and related information between the point of origin and the point of consumption in order to meet customers' requirements. " ¹⁶
Diese umfassendere Definition (und damit die spezifische Sichtweise der Inhalte) des Supply Chain Managements ist das Ergebnis einer längeren Diskussion gewesen. Dies wirft die Frage auf, welche inhaltlichen Bestandteile die beiden Vereinigungen dem Supply Chain Management zugeordnet haben. Lambert/Cooper/Pagh haben hierfür den Verlauf der Diskussion in den USA nachgezeichnet.¹⁷ Sie stellen heraus, dass die amerikanische Logistikvereinigung Council of Logistics Management (CSCMP) im Jahre 1986 zunächst keine Unterschiede zwischen den beiden Konzeptionen sieht.
„That is, SCM was viewed as logistics outside the firm to include customers and suppliers." ¹⁸
Oder in einem früheren Beitrag schreiben sie:
How is SCM different from this definition of logistics? Many of those writing, talking, and offering seminars about SCM are using the words as a synonym for logistics.
¹⁹
Die Koordination in der Lieferkette nur auf die güterwirtschaftlichen Materialflüsse (und die dazugehörenden Informationsflüsse) zu beschränken, hat den Anforderungen der Führungskräfte aufgrund der schmalen inhaltlichen Grundlage nicht mehr standgehalten. In der Folge hat Douglas M. Lambert das Global Supply Chain Forum (GSCF) ins Leben gerufen und eine erweiterte Definition des Supply Chain Managements entwickelt, die auch heute noch die inhaltliche Grundlage des CSCMP bildet:
„Supply chain management is the integration of key business processes from end user through original suppliers that provides products, services, and information that add value for customers and other stakeholders." ²⁰
Sie berichten anschließend von der Neudefinition der Logistik durch das Council of Logistics Management im Jahre 1998:
„Logistics is that part of the supply chain process […] in order to meet customers’ requirements." ²¹
Damit wird inhaltlich herausgearbeitet und deutlich, dass diese umfassendere Sichtweise der Geschäftsprozesse neben den rein güterwirtschaftlichen Prozessen die Grundlage des Supply Chain Managements bildet. Die Logistik ist demzufolge (nur) ein Teil des Supply Chain Managements. Diese umfassendere Sichtweise zu den Geschäftsprozessen wird im Folgenden näher dargelegt.
Der Startpunkt der Darstellungen von Geschäftsprozessen ist in der überwiegenden Anzahl der Bücher zur Logistik und zur Supply Chain identisch: ein i.d.R. konvergierender Warenstrom bis zu einem zusammenlaufenden Punkt der Wertschöpfungskette und von dort aus ein i.d.R. divergierender Warenstrom bis zu den Konsumenten. Diese Sichtweise spiegelt die Erstellung eines Produktes wider, d.h. aus einer Vielzahl an Rohstoffen werden Einzelteile, Zwischenprodukte, Bauteile und schließlich das Endprodukt erstellt, welches dann über mehrstufige Distributionsstufen an eine Vielzahl an Kunden verteilt (im logistischen Sinne: ausgeliefert) wird.²² Eine konzeptionelle Explizierung erfolgt auf diese Weise nicht, auch wenn das Argument methodisch nicht zu kritisieren ist.
Dies hat die Schule von Douglas M. Lambert nun aufgegriffen, inhaltlich erweitert und in zahlreichen Veröffentlichungen dargestellt.²³ Der logistische Materialfluss (»production flow«) wird durch acht Supply Chain Geschäftsprozesse erweitert. Diese acht Geschäftsprozesse differenzieren die Grundprozesse des Kunden- bzw. Lieferantenmanagements aus:²⁴
○ Customer-Relationship-Management (CRM)
○ Customer Service Management (CSM)
○ Demand Management (DM)
○ Order Fulfillment (OF)
○ Supplier Relationship Management (SRM)
○ Manufacturing Flow Management (MFM)
○ Product Development and Commercialization (PDaC)
○ Returns Management (RM)
In der folgenden Tabelle 1.1 sind die Kernaussagen aus den Veröffentlichungen der Lambert Schule zusammenfassend dargestellt worden. Es wird darüber hinaus in der Tabelle 1.1 eine strategische und eine operative Betrachtungsebene unterschieden. Damit werden die Geschäftsmodelle der Unternehmen ganzheitlich(er) erfasst (oder können erfasst werden).
In diesem Kontinuum der Inhalte des Supply Chain Managements von der Logistik bis hin zu einer umfassenderen Sicht der Geschäftsprozesse, haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten die kontroversen Diskussionen entzündet. Sie schlagen sich dann auch in einer Vielzahl an Definitionen und Kategorisierungen nieder. Übersichten hierzu haben Croom et al.²⁵, Cooper/Lambert/Pagh²⁶ und Stock/Boyer²⁷ erstellt. Letztere haben insgesamt 173 Definitionen zum Supply Chain Management gegenübergestellt.
Cooper/Lambert/Pagh (1997, S. 8) haben hierzu auf der Grundlage der Literatur die Managementkomponenten von insgesamt 13 Autoren gegenübergestellt. Die sehr heterogen besetzte Matrix offenbart die starken Differenzen zum fehlenden inhaltlichen Konsens des Supply Chain Managements.
Tabelle 1.1: Kernaussagen der acht Geschäftsprozesse des GSCF²⁸
Stock/Boyer (2009, S. 691) hingegen verweisen zunächst auf die enorme Vielfalt an Definitionen und betonen die fehlende Unterstützung für Forscher und Praktiker gleichermaßen: Sie beklagen das Fehlen (i) einer gemeinsamen Konzeption (Theorie) zum Supply Chain Management, (ii) einer Analyse bestehender Konzepte und deren Weiterentwicklung, (iii) einer fehlenden Unterstützung für die Aufbau- und Ablauforganisation, (iv) einer erschwerten Bildung von Controlling Instrumenten und (v) einer faktischen Vergleichbarkeit von Analysen (Benchmarks).
Bechtel/Jayaram (1997) haben die Vielzahl der Definitionen dann vier Schulen des Supply Chain Managements zugeordnet.²⁹
○ Chain Awareness School: Die Bedeutung und Aufmerksamkeit erhält diese Schule durch die Auslagerung und Globalisierung der Wertschöpfung auf eine weltweite Zuliefererkette.
○ Linkage School: Diese Schule thematisiert die Verbindungen zwischen den einzelnen Unternehmen der Lieferkette.
○ Information School: Hier werden die Informationsflüsse zwischen den Unternehmen in den Vordergrund gestellt.
○ Integration School: Damit werden sämtliche Partner einer Lieferkette ganzheitlich betrachtet und agieren zumindest dem Anspruch nach in koordinierter bzw. integrierter Art und Weise.
Diese vier Stufen zeichnen auch die einzelnen Stufen der weltwirtschaftlichen Entwicklung dar und verdeutlichen die Weiterentwicklungen des Managementfokus der letzten drei Jahrzehnte. Einen vergleichbaren Ansatz und damit eine zweite Form zur Kategorisierung der Arten des Supply Chain Managements wählt Stevens, indem er vier Stufen der Integration als Kriterium heranzieht.³⁰
Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass ein Spektrum an möglichen Gegenständen des Supply Chain Managements in der Literatur diskutiert wurden. Damit ist zunächst sogar der Gegenstand noch in der Diskussion. Die Frage, welcher Managementansatz zur (diskutierten) Supply Chain zu konzipieren ist, ist damit allerdings erst recht nicht thematisiert und einvernehmlich diskutiert.
Ein sehr kritisches Urteil zur Situation im Supply Chain Management ist bei Corsten/Gössinger (2008) abgedruckt. Sie bringen die konzeptionellen Lücken wie folgt auf den Punkt:
„Die Erfolgsfaktorenforschung stellt sich […] als eine bunte Mischung von oberflächlichen Geschichtenerzählern, Folklore, Rezeptverkauf, Verkauf, Jagen und Sammeln sowie einigen wenigen