Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zwei Leben ... und: eine Familien- und Zeitgeschichte
Zwei Leben ... und: eine Familien- und Zeitgeschichte
Zwei Leben ... und: eine Familien- und Zeitgeschichte
eBook912 Seiten9 Stunden

Zwei Leben ... und: eine Familien- und Zeitgeschichte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Eine Familien- und Zeitgeschichte"
Der Autor Heinz Acker hat in zwei Welten gelebt: in seiner siebenbürgischen Heimat unter den Zwängen eines kommunistischen Regimes, und ab 1977 im freien Westen als Musiker. Mit erzählerischer Leichtigkeit geht Acker beiden Leben nach. Man folgt dabei den Spuren seiner siebenbürgischen Vorfahren und lässt sich von ihm auf erlebnisreiche Konzertfahrten quer durch die Welt mitnehmen, ein faszinierender Lesestoff für Freunde geschichtlicher Zusammenhänge und klassischer Musik.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Nov. 2017
ISBN9783743934009
Zwei Leben ... und: eine Familien- und Zeitgeschichte

Ähnlich wie Zwei Leben ... und

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Zwei Leben ... und

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zwei Leben ... und - Heinz Acker

    Buchtitel

    „Mein guter Stern"

    „Mein guter Stern, so sollte dieses Buch ursprünglich heißen. Das war naheliegend, denn zeitlebens habe ich das Gefühl gehabt „von Guten Mächten umfangen zu sein, um mit den Worten des Theologen Bonhoeffer zu sprechen. Auch das – ein theologisches Wort zu Beginn – wäre nicht verkehrt, denn meine früheste Prägung verdanke ich einer siebenbürgischen Pfarrersippe.

    Nein, frömmelnd war sie nicht, die Sippe der Reichs und Georgs und all der Vorfahren, die mein menschliches Dasein bestimmt haben. Es waren gottesfürchtige Pfarrherren und Lehrer, die ihr Geschick, ob nun das Gute wie auch das Ungemach des Schicksals aus Gottes Hand bereitwillig entgegen nahmen, im vollen Bewusstsein und Vertrauen, dass der Herr und Schöpfer es in seinem ewigen und unergründlichen Rat wohl am besten wisse, wozu das eine oder andere letztlich am besten dienen mag. Wer das Glück hat – wie mein Bruder Dieter und ich – in einem Umfeld aufzuwachsen, das von so unerschütterlichem Gottvertrauen geprägt ist, dem erwächst frühzeitig das Gefühl von großer Geborgenheit und Zuversicht. Das ist merkwürdig, waren es doch ganz unruhige Zeiten, in die wir da hinein geboren wurden, Kriegszeiten die eigentlich jegliche Geborgenheit vermissen ließen. Für Großmutter aber war Gott als großer Vertrauensmann und Helfer immer da, und nichts konnte sie von ihrem Glauben abbringen, dass Gott auch in schwierigsten Situationen, die sie wohl in zwei Kriegen des Öfteren erleben musste, immer einen Ausweg finden werde. So war es selbstverständlich, dass wir Knirpse und Halbwaisen vor und nach dem kärglichen Essen immer für die Gottesgaben dankten und auch am Abend mit einem innigen Kindergebet zu Bett gebracht wurden. Dass ich dabei immer an der gleichen Gebetsstelle einen tüchtigen „Schluckauf bekam, erheiterte zwar meinen Bruder; es war aber kein Zeichen einer frühen Gottesrevolte meinerseits. Das hätte keiner zu denken gewagt. Von mir erwartete man ja ohnehin mit größter Selbstverständlichkeit, dass auch ich dereinst – wie alle meine mütterlichen Vorfahren, die weitverzweigt in Siebenbürgischen Landen als Pfarrer oder Lehrer wirkten – in ihre Fußstapfen treten werde. Dass es anders kommen sollte, lag vielleicht schon im Ratschluss der Götter beschlossen, oder im Flechtwerk der Gene, oder auch in den besonderen Schicksalsläuften, die mir beschieden waren. Das Gefühl aber der großen Geborgenheit, aus Kindestagen fest eingeprägt, hat mich nie verlassen. Ob das nun eine Gottheit ist, die mein Schicksal sicher durch die Wirrnisse des Lebens lenkt, oder irgendeine überirdisch wirkende Macht? Ich habe nie versucht, dies zu ergründen, aber mich immer der Gewissheit hingegeben, dass ein „guter Stern über mir schwebt, der alles was ich anpacke letztlich auch zu einem guten Ende führt. Das ist wohl das schönste Erbe, das mir meine Vorfahren mitgegeben haben und obendrein auch eine praktische Lebenseinstellung. Sie erspart mir, wenn auch unbewusst, vieles an Unsicherheiten, an zögerndem Zaudern im Leben.

    Es heißt ja: Mit jedem Kind wird auch ein neuer Stern am Himmel geboren. Der meinige war gewiss ein ganz besonders heller und freundlicher. So will ich dir, mein guter Stern mit diesem Buche danken, dass du so getreulich, so unbeirrbar und unübersehbar über meinem Leben gewacht hast. Aber eigentlich müsste es heißen, über „meinen" Leben gewacht hast, denn es waren bei näherer Betrachtung doch mindestens zwei Leben, die mir geschenkt wurden. Und beide Leben, wie auch Vieles mehr sollen in diesem Buch zu Worte kommen. So ergab sich der neue Titel:

    Zwei Leben … und

    Es sind zwei recht unterschiedliche Leben, die da aufscheinen und die doch wieder ein Ganzes bilden und die sich – wie man es vermuten kann, und wie das Buch es zeigen wird – im Nacheinander abgespielt haben. Aber auch gleichzeitig. Denn auch in meiner Brust wohnen – wie weiland bei Goethe und wohl auch wie bei den meisten Menschen – (mindestens) zwei entgegengesetzte Seelen. Schon der Olympiker hatte ja den Zwiespalt in seiner Dichterbrust erkannt: Vom Vater habe ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur, die Lust zu fabulieren… Diese Selbstanalyse Goethes könnte ich fast wortgetreu auch für mich in Anspruch nehmen. Nur, dass sich diese beiden Seiten bei mir nicht in einem spannungsreichen Nebeneinander, sondern in einer sonderbaren Durchmischung befinden. Könnte man eine Seele sezieren, man fände in der meinen zwar zwei völlig unterschiedliche seelische Ingredienzien, aber so unzertrennlich durchmischt, dass sich das eine gleichzeitig im anderen fände. Das hat mir das Leben erheblich erleichtert, denn im Ernstfall hatte ich immer den Humor helfend zur Seite, und der Humorist hatte doch immer auch einen ernsten Hintergrund zu bieten. Dass sich aber ernsthaftes Tun und Streben mit spielerischer Leichtigkeit und lustvoller Freude so unverkrampft in einer Person verbinden ließen, das haben meine Schüler, Studenten oder Orchestermusiker doch sehr zu schätzen gewusst. Anderen Mitmenschen hingegen habe ich es mit dieser oft unerklärlichen Ambivalenz meines Wesens nicht gerade leicht gemacht, den echten Heinz zu erfassen. Verzweifelt bekannte mein Musikerfreund Kurt Scheiner einmal: „Lieber Heinz, bei dir weiß ich nie, ob das nun bitterer Ernst war, oder wieder einer deiner Späße?"

    Wie ich nun dieses unterschiedliche Erbteil des Vaters und der Mutter verwaltet habe, davon – und nicht nur davon – wird zu berichten sein. In dem hartnäckigen Verfolgen einmal gesteckter Ziele erkenne ich den bäuerlichen Fleiß und die zähe Hartnäckigkeit meiner Acker-Vorfahren wieder, mit dem sie ihre Felder über Jahrhunderte bestellten und es zu ansehnlichem Wohlstand brachten. Die Leichtigkeit aber des Seins, das lustvoll Kreative und der stets positive Blick auf die Welt, aber auch die etwas blauäugige Vertrauensseligkeit und die Unfähigkeit zu eitel-schnöder Geschäftemacherei sind Erbteile mütterlicherseits aus dem Gabenkorb der Reichs und Georgs. Ich danke euch dafür.

    Da gibt es aber noch eine weitere Zweiteilung des Lebens, die unseren Lebensweg in zeitlicher Folge in zwei deutliche Hälften teilte. Mit „uns sind wir, Eure Großeltern, nun als Paar gemeint, denn gemeinsam sind wir zum Spielball des kalten Krieges geworden, der damals tobte und die Welt in zwei konträre Hemisphären teilte. Beide Welten haben wir kennen gelernt, die Not und das Elend der östlichen Welt, die dennoch unsere angestammte Heimat war, und der glanzvolle Gegensatz der westlichen Welt, die zur neuen Heimat wurde. So teilt sich unser Leben genau genommen in zwei Leben, die so unterschiedlich sind, wie die Welten hüben und drüben dieses „Eisernen Zaunes, der den trennenden Grenzstein dieser Lebenshälften markiert.

    Diese beiden Leben, die uns das Schicksal beschieden hat, haben letztlich den Titel und auch die Struktur dieses Buches ergeben. Komplex sind sie, die beiden Welten und widersprüchlich in sich, denn in beiden Teilen dieser Welt lässt Gott die Sonne scheinen und überzieht sie auch mit finsteren Wolken. Ich bin dankbar, in beiden gelebt zu haben, denn beide haben mir Prägendes auf eigene Weise mitgegeben, haben mir Verständnis und Weitblick auch für die Gegenseite eröffnet.

    Sollte es mir gelingen, so komplexe Zusammenhänge darzustellen? Ich will es versuchen und weit ausholen mit neugierigem Blick auf das Vergangene und Gegenwärtige und gelegentlichem Schielen auf Künftiges.

    Das kleine Wörtchen „…und" im Titel des Buches weist darauf hin, dass die beiden Leben nur ein Ausschnitt einer weitausgreifenden Zeit- und Familiengeschichte darstellen, in der ihr euch letztlich wieder finden werdet.

    I. Das erste Leben

    Geburt / der Name / astrologische Vorzeichen

    Nicht nur der Titel eines Buches, auch der Beginn eines Romanes, sein erster Satz etwa ist oftmals der schwierigste Schritt des Schreibers. Auch der Lebensbeginn erweist sich als schwieriges, schmerzhaftes, ja oft riskantes Ereignis.

    Es war die Nacht des 2. Dezember 1942, eine jener bitterkalten siebenbürgischen Winternächte, mitten im Krieg. Hinter verdunkelten Fensterscheiben hörte man über dem nächtlichen Himmel von Hermannstadt das Brummen deutscher Bomber, die ostwärts zogen. Im abgedunkelten Zimmer aber der Lehrersleute Georg aus der Herberthgasse auf der Konradwiese hörte man das leise Wimmern einer jungen Frau, die ihr zweites Kind erwartete. Mutter Lene, die Lehrersgattin, stand ihrer Tochter, dem Lenchen, mit der Erfahrung einer vierfachen Mutter zur Seite, und bald konnte Frau That, die fachkundige Hebamme, auch schon einen prächtigen Jungen der glücklichen Mutter präsentieren. Sie war gar erfahren in derartigen Dingen, hatte sie doch bereits einige Monate vorher und einige Straßenzüge weiter, im Hause Rether, ein Mädchen mit dem hübschen Namen Marianne ans Licht der Welt gebracht. Unter welch sonderbaren Vorzeichen diese Geburt vonstatten ging, wird noch zu erzählen sein. Der himmlische Beschluss aber bei dieser nächtlichen Geburt war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu entschlüsseln. Vielleicht hatten die himmlischen Mächte die beiden Nabelschnüre, die die umsichtige Hebamme zunächst durchtrennt hatte im Himmel in weiser Vorahnung des Kommenden wieder aneinander geknüpft. Es blieb zunächst jedenfalls ein Geheimnis der dunkel waltenden Mächte, denn jene Marianne sollte später eure Großmutter werden. Der neue Erdenbürger aber sollte Heinz heißen. Eigentlich hatte man ja ein Mädchen erwartet, und es sollte Inge heißen. So hatte es der Vater bestimmt, in einem Schreiben aus dem Schützengraben vor Stalingrad. Notfalls auch Heinz, auf alle Fälle aber ein Name, der sich nicht ins Rumänische übertragen ließ, so wie das bereits bei dem zwei Jahre älteren Dieter der Fall gewesen war, von dem es auch keine rumänische Namensvariante gab. Damit sollte ihm das Los des Vaters erspart bleiben. Als Siebenbürger Sachse zum rumänischen Militärdienst verpflichtet, wurde sein deutscher Name Michael Acker ungefragt und selbstverständlich zum rumänischen Mihai umgeschrieben. Das war nun aber nicht das Schlimmste an diesen Kriegsereignissen, in die der junge Lehrer aus Neustadt hineingerissen worden war. Kaum hatte er seine neue Stelle als Schulrektor in Neustadt angetreten, da wurde er schon zum Wehrersatzdienst und dann an die Ostfront abkommandiert, während die junge Rektorsfrau den in Neustadt heißgeliebten Lehrer in der Dorfschule zu vertreten versuchte. Nur selten konnte sich das junge Paar während kurzer Fronturlaube in der Neustädter Rektorswohnung ihres jungen Glückes erfreuen. Immerhin sind ihrer großen Liebe zwei Jungen entsprungen. Dass der zweite eben nicht das erwünschte Ingelein, sondern ein kerniger Heinz geworden war, das hat er noch erfahren. Gesehen aber hat er seinen Zweitgeborenen nie, denn einige Monate später ereilte ihn bereits das tragische Schicksal so vieler Soldaten, die ihr Leben in einem unseligen Krieg verloren.

    Dennoch dürfte er Einiges auch an diesen ihm Unbekannten weitergeben haben. Es ist schon merkwürdig, wie wundersam die Weitergabe von eigenem Lebensstoff, ja sogar von eigenen Lebenserfahrungen an die Nachkommen funktioniert. Welchen bunten Genmix der Acker- Georg- und Reich- oder gar anderer Vorfahren die Götter da für den Kleinen als Geburtsbeigabe zusammengebraut und in die Wiege gelegt hatten, war noch nicht zu erkennen. Erstaunlich aber, dass sogar die durchstandenen fürchterlichen Kriegsängste des Vaters später in dem Jungen wieder auflebten, wenn er sich in immer wiederkehrenden Albträumen mitten im Kriegsgetümmel der Schützengräben wähnte.

    Ansonsten aber muss das Gengewürz der Ahnen eine recht geglückte Mixtur aus diversen körperlichen und geistigen Zutaten gewesen sein, wie sein späteres Leben zu erkennen gibt. Und eine gute Portion Humor war den Göttern in die Rezeptur mit hineingerutscht, offenbar von den Göttern als Vorsichtsmaßname, als Überlebensstrategie in schwierigen Zeiten – wie sie eben waren – gedacht.

    Ob der Vater sich bei der Namensgebung auch weitere Gedanken gemacht hatte? Wer weiß? Ließ er sich vom Trend der Zeit leiten, die die Kurzform Heinz dem viel älteren und bekannteren Heinrich vorzog, dieses wohlklingenden altdeutschen Namens, mit dem sich schon viele Fürsten, Könige und Kaiser geschmückt hatten. Der zweigliedrige Name umschließt ja die Kombination von „heima", was für Heim oder Heimat steht mit dem althochdeutschen „rihi", was soviel wie reich, mächtig, oder Herrscher bedeutet. „Heinz, der Begüterte heißt es mithin, und darauf schien auch seine starke Behaarung hinzuweisen, die – dem Volksglauben nach – üppigen Reichtum verspricht. Aber welche Güter waren dem Kleinen zugedacht? Wohl kaum materielle, das wäre in einer Familie von Pfarrherrn und Lehrern, die meist arme Schlucker, träumende Poeten und kärgliche Kirchenmäuse waren ein Novum gewesen. Und die noch begüterten Großbauern der Ackers sollten auch bald enteignet und völlig mittellos werden. Von deren Seite waren auch keine materiellen Güter zu erwarten. Wenn sich diese Weissagung des „Begüterten erfüllen sollte, konnten es offenbar nur geistige Güter sein.

    Aber auch die Konstellation der Sterne versprach dem Schütze-Geborenen besondere Gaben. In ihrem goldversiegelten Schicksalsbuch stand unverrückbar festgeschrieben: „Der Schütze ist ein Individualist, dem Wandel und Wechsel im Blut liegt und der bereit ist Risiken einzugehen, um ein einmal gestecktes Ziel mit äußerster Hartnäckigkeit und der Leidenschaft des Schützen zu erreichen. Bei all seinen Plänen und Unternehmungen hat er das Glück gepachtet und gerät selten in eine kritische Situation, aus der er sich nicht mehr befreien kann, ohne Schaden zu nehmen. Sein unerschütterlicher Optimismus und seine durchweg positive Lebenseinstellung sind die Garantie seines Erfolges und sorgen dafür, dass auch scheinbar ausweglose Situationen gemeistert werden. Der musisch Begabte ist neugierig auf Vieles und Neues und versucht, ständig seinen Horizont zu erweitern. Als impulsiver Schütze verbindet er große Ernsthaftigkeit und den steten Drang zur Perfektion mit naivverspielter Leichtigkeit und unüberlegtem Handeln, aber das macht er durch sein lockeres Auftreten wett…"

    Oh, da stand noch viel mehr Löbliches und auch Bedenkliches in dem vorgezeichneten Fatumsspruch der Sterne, unter denen sicher auch mein gutes Sternlein tüchtig mitgemischt hatte und zu dem vielleicht gerade mein Vater sehnsüchtig aus Russlands weiten Steppen hinaufblickte. Dass der Name durch spätere Komiker wie Heinz Rühmann oder Heinz Erhard eine humoristische Beinote bekommen würde, daran dürfte der Vater in seiner Not wohl kaum gedacht haben. Mir aber war der „Heini", der mir anhaftete eigentlich immer willkommen, war er doch Ausdruck eines schalkhaften Gemüts, das mich befähigte, humorvoll durch das Leben zu navigieren, auch wenn es über finstere Untiefen ging. Und mit wie viel interessanten Persönlichkeiten war ich durch meinen Namen auch verbunden, mit all den Heinis, Heinkos, und Heiners, mit Heintjes und Heinzels, mit Heinrich, Hinrich, Hendrick, Enrique, Enrico und Enzo und wie all diese sonderbaren Figuren aus Gottes internationaler Schöpferwerkstatt heißen mögen. Bloß einen rumänischen Heinz, den gab es nicht, es sei denn, man machte aus dem Heinz den Hans, daraus den Johann, was dann den rumänischen Ioan oder Ion ergibt. Darauf sind die großrumänischen Behörden Gott sei Dank nie gekommen. Meine Mutter aber wurde von ihnen in allen amtlichen Urkunden von Helene Friederike (in Anspielung an die Mutter Helene und den Vater Wilhelm Friedrich) zum Ärgernis der Namensträgerin zur rumänischen Elena Friderica gestempelt, während die russischen Amtsstuben sie dann als Ilina Vilhelm (sie mischen ja immer den Vaternamen bei) aus der russischen Deportation entließen, was dann später zu erheblichen Komplikationen bei der Rentenfindung führen sollte. Aber so weit sind wir noch nicht. Ich greife vor und fürchte, noch öfter den Faden zu verlieren. Noch ist Heinzi ein kleines Dickerchen, das, bestaunt von Brüderchen Dieter, vergnüglich die Muttermilch genießt.

    Im Spannungsfeld zwischen Hermannstadt und Neustadt

    Warum in Hermannstadt geboren und nicht in Neustadt, wo doch die Eltern gleich nach ihrer Heirat im Oktober 39, kurz nach Kriegsbeginn, nach Neustadt in die neueingerichtete Rektorswohnung gezogen waren? Neustadt, ein beschauliches sächsisches Dorf ganz hinten im Harbachtal angesiedelt, das sich immerhin Stadt nannte, „Neustadt" eben, ganz im Gegensatz zu großen Städten, die sich ganz bescheiden Dorf nennen, wie etwa Düsseldorf. Auch war der Harbach bei Neustadt nicht mit dem Rhein bei Düsseldorf zu vergleichen, in den heißen Sommermonaten eher ein bescheidenes Rinnsal, das mit dem Spott der Bewohner größerer Flussläufe leben musste. Es lässt sich nicht mehr ermitteln welcher Spötter die nachfolgende Legende erdichtete, bei dem schriftstellernden Pastor Birkner ist sie aber nachzulesen. Ich will sie nacherzählen:

    Als der Heiland noch auf Erden wandelte, führte ihn sein Weg auch durch das spätere Harbachtal. Es war Abend, und der Heiland fragte bei einer wohlhabenden Sächsin um ein Nachtlager an. Die aber verweigerte dem verdächtig langhaarigen Fremdling die Gastfreundschaft. So klopfte der Heiland an die etwas ärmliche Türe der rumänischen Nachbarin. Die öffnete ihm bereitwillig das Haus und bewirtete ihn herzlich mit allen Gaben ihres dürftigen Haushaltes. Zum Dank versprach der Heiland ihr beim Fortgehen, „es möge alles, was sie heute beginne, nie enden". Mit dem Spruch konnte die gute Bauersfrau nichts anfangen und setzte sich – wie immer – an ihren Spinnrocken. Der aber drehte sich und spann in einem fort, so dass schließlich riesige Mengen an feinstem Linnen zum Bleichen auf den Büschen und Rutenzäunen des Hauses hingen. Das sah die sächsische Nachbarin, die staunend von dem Besuch des Fremdlings und seinen Gaben erfuhr. Nun war klar, dass sie die Rückkehr des Wanderers nutzen musste, um es der rumänischen Nachbarin gleich zu tun. Und tatsächlich, der Herr kam auf seinem Rückweg wieder an dem Haus der Bäuerin vorbei, die schon erwartungsvoll auf ihn lauerte, ihn in ihr Haus einlud und mit allen Köstlichkeiten eines sächsischen Hausstandes bewirtete. Auch ihr wurde zum Dank der gleiche Spruch ewiger Wiederholung des Begonnenen zugesagt. Überglücklich wollte sich die Bäuerin nun auch ans Werk machen, zunächst aber schnell noch ihre Notdurft hinter der Scheune verrichten..…Und seither schlängelt sich der Har(n)bach träge durch die Siebenbürgische Landschaft. So boshaft können Legenden sein, die sich sächsische Dörfer, in ihrem ewigen sarkastisch-liebevoll ausgetragenen Wettstreit, einander andichten.

    In dieses beschauliche Dorf im Harbachtal hatte es den jungen Lehrer Acker nun verschlagen. Verschlagen ist der falsche Ausdruck, es war ja ein Aufstieg, vom Dorfschullehrer in Hetzeldorf zum „Rektor sämtlicher Schulanstalten" von Neustadt, wie es der neue Amtsinhaber humorvoll schmunzelnd mitunter formulierte. Und das war nicht übertrieben, es war ja die einzige deutsche Schule des Ortes, die – wie damals allgemein üblich – eine Einrichtung der evangelischen Kirche war. Nicht wenig stolz war der Schulmann, das Rädchen eines Schulsystems zu sein, dass sich bis ins 14. Jahrhundert verfolgen ließ und von dem man rühmend sagte, es sei eines der ersten auf dem Kontinent gewesen, das allgemeine Schulpflicht auch im allerkleinsten Dorfe vorsah.

    In Hetzeldorf, das im weinreichen Gebiet der Großen Kokel lag, hatte man den jungen Lehrer schweren Herzens ziehen lassen, hatte er sich doch in kurzer Zeit mit seiner pädagogischen Begabung und seinen vielfältigen Talenten bei der Jugend äußerst beliebt gemacht. Der kunstvoll gestickte Wandbehang mit dem eingestickten Beginn des hymnischen Liedes „Siebenbürgen, süße Heimat", umrahmt von den Wappen der sieben Burgen, die dem Land den Namen gegeben hatten, war als Dank an den geliebten Lehrer gedacht. Er sollte zum lebenslangen Wegbegleiter seiner Frau Lenchen werden, die damit das Andenken an ihren viel zu früh verstorbenen Mann wachhielt. Wir werden diesem Wandbehang im Leben meiner Mutter immer wieder begegnen.

    Um von Hermannstadt nach Neustadt zu gelangen, hatten die Neuvermählten, eine kleine Schmalspurbahn bestiegen, die berüchtigte „Wusch", die Hermannstadt über Agnetheln mit Schäßburg verband und deren Größe und Geschwindigkeit dem beschaulichen Harbachtal entsprach, durch das sie nun beglückt fuhren. Wäre Misch nicht so verliebt in seine Leni gewesen, hätte er beruhigt aus dem fahrenden Zug aussteigen können – so der Volksspott – und am Wegrand einen Feldblumenstrauß für seine Braut pflücken können, den er so mochte. Von dem prunkvollen Empfang der Rektorsleute und der kurzen glücklichen Zeit in Neustadt wird noch berichtet werden. Was hatte dies kleine Dörfchen dem jungen Paar zu bieten?

    Aus drei Himmelsrichtungen führten drei lange Straßenzüge zur Dorfmitte hin, wo – wie überall in sächsischen Dörfern – die Kirchenburg und die Schule als Zentrum des Dorflebens zu finden war. Es war keine der prächtigen Kirchenburgen, die den touristischen Blickfang Siebenbürgens ausmachen und die heute vielfach zum Weltkulturerbe gehören. Nein, von der romanischen Kirche aus dem 14. Jahrhundert stand nur noch der einst wehrhafte Turm. Die frühe romanische Kirche war längst einem Neubau gewichen, und auch die wehrhaften Mauern waren geschleift worden, um Neuem Platz zu machen, etwa einem neuen Gemeindesaal, der just zu diesem Zeitpunkt fertig geworden war. Ein Glücksfall für den jungen Lehrer, denn die Eröffnungsfeier bot ihm die Gelegenheit, all seine vielfältigen Fähigkeiten zu entfalten und sich so bestens in die Gemeinde einzuführen.

    Vater: Misch Acker

    Auf der Suche nach dem Vater

    Misch Acker und Bruder Hans

    Wer war dieser Vater Michael Acker, der den Namen eines Erzengels trug und den ich nie kennen gelernt habe, aber von dem alle, die ihn gekannt hatten, in schwärmerischer Hochachtung sprachen? War das nur die pietätvolle Verehrung eines allzu früh Verstorbenen, oder steckte mehr dahinter? Die Güte und Menschenfreundlichkeit in höchst eigener Person soll er gewesen sein, offenherzig, hilfsbereit und allem Guten und Schönen zugewandt, mit einer Fülle besonderer Gaben ausgestattet, mit denen er seine Mitmenschen zu beschenken wusste. Ein übergroßes Denkmal des Vaters hatte sich in meiner kindlichen Vorstellung aufgebaut, an dem nicht zu kratzen war, eine unfassbare Geisterscheinung von fast überirdischer Vollkommenheit – so schien es – die in ihrer unsichtbaren Abwesenheit dennoch immer gegenwärtig war, bedacht, mein oftmals jugendlich überschäumendes Temperamt zu zügeln: „Das hätte dein Vater nicht getan!", so mahnte es in mir.

    Wer war er wirklich, dieser so vollkommene Vater? Sein ganzes Wesen schien einer genealogischen Folgerichtigkeit zu widersprechen, entstammte er doch einem alten Bauerngeschlecht, das in Kelling, einer schmucken Gemeinde des Unterwaldes in Siebenbürgen beheimatet war. Dieses Kelling zeichnete sich durch eine Besonderheit aus. Auch hier wuchtete zwar eine Kirchenburg im Zentrum der Gemeinde. Ihr Ursprung war aber nicht, wie andernorts, eine bäuerliche Befestigungsanlage, sondern eine „Gräfenburg, die immer als Beispiel herhalten musste, wenn die These von Siebenbürgen als Land „da keiner Herr und keiner Knecht hinterfragt wurde. Ein Land, das angeblich in seiner 800-jährigen Geschichte kein Adelsgeschlecht gekannt hatte. Freie Bauern waren es – so die These – die es hierher gezogen hatte und die nur dem ungarischen König untertan waren. Diese Gräfenburg aber belegte, dass im Gefolge der Siedler doch auch adlige Führergestalten gewesen sein müssen. Längst war das Adelsgeschlecht erloschen und die Gräfenburg zur Kirchenburg umgebaut. Davon berichtet Gustav Seiverts kulturhistorische Novelle „Der Grefenhof von Kelling", die mit einem Ortsbild der Gemeinde beginnt: „In einem freundlichen, von West nach Ost sich öffnenden Tale, dessen Sohle von einem kleinen Flüsschen durchlaufen wird, liegt das schöne Dorf Kelling. Kaum weit genug, um den geräumigen Gehöften eine ebene Lage zu gestatten, dehnt sich das Tal am Flüsschen aus, und ringsherum erheben sich stattliche Hügel, deren Spitzen mit dichten Waldungen bedeckt sind. …Bis zur Waldesgrenze sind die Hügelreihen mit Reben bepflanzt, die Niederungen mit Wiesen und Saatfeldern bedeckt…!

    Hier nun, in diesem gesegneten Weinland siedelte seit Generationen das Geschlecht der Acker und hatte sich mit zähem Fleiß und harten Bauernfäusten zu einer der führenden Familien dieser Gemeinde emporgearbeitet. Vor allem im Weinbau und in der Viehzucht hatten sie sich große Verdienste erworben und galten als anerkannte Pioniere neuer, erfolgreicher Wirtschaftsformen im Unterwald. Neben der bekannten Weinbaufamilie Ambrosi aus Mediasch galten die Ackers aus Kelling als die „ungekrönten Könige" modernen Weinbaus in Siebenbürgen. Die weiten Felder und Wiesen, die ertragreichen Weingärten, die mächtigen Scheunen und ein großer Viehbestand zeugten von dem erworbenen Wohlstand.

    Da nun, auf dem weitläufigen Wirtschaftshof, am Ufer des besagten Baches spielten bereits zwei Kinder, Schwester Liso (Elisabeth, 1911) und Bruder Hans (1913) als der kleine Misch (das ortsübliche Kürzel für Michael) am 30. März 1916 geboren wurde. Er war ganz anders geartet als die Geschwister und war als Sonnenschein das Nesthäkchen der Mutter. Während der drei Jahre ältere Hans mutig im Gebälk der großen Scheune turnte und sich auf den Äckern oder Stallungen wissbegierig herumtrieb, hörte Misch lieber den Erzählungen der Mutter zu. Ihm war nicht nach Raufen mit den Dorfkindern oder sonstigen Tollereien zu Mute. Lieber las er in den Büchern des Vaters oder spielte auf der Geige, die es auf diesem Bauernhof auch gab und die davon zeugte, dass diese knorrigen Bauernfäuste durchaus auch zu einem guten Buch oder zu der Geige greifen konnten. So glich er eher der still und liebevoll wirkenden Mutter Elisabeth, die sich Johann Acker, der Vater aus der nahegelegenen Stuhlsgemeinde Reußmarkt, dem Ursprungsort der Ackers geholt hatte. Sonntags spannte man oftmals an und fuhr zu den Schenker-Großeltern nach Reußmarkt. Dieser feinfühligen Großmutter, die als Landlerin aus Österreich stammte, verdankte Misch wohl sein sonnig-freundliches Gemüt, das so gar nicht zum eher kantig-harten Erscheinungsbild der Ackers, wie es auch der Bruder verkörperte, passen wollte. Hans, der Umtriebige und Misch, der Zartbesaitete, ein recht ungleiches Brüderpaar, das in seinen unterschiedlichen Veranlagungen eigentlich den Gepflogenheiten im Hause Acker entsprach. Dem Erstgeborenen stand das Recht des Hoferben zu, der zweite aber wurde zum Studium geschickt, um in einem geistigen Beruf eine Existenz zu finden. So war es für die beiden Brüder vorgesehen und so war es schon bei den Vorfahren gewesen. Bereits der Vater Johann Acker, mein Großvater also, hatte seinerzeit den florierenden Acker-Hof übernommen und war bestrebt den großen Zugewinn des Erbes nach Kräften zu mehren. Sein Bruder Michael aber hatte den Lehrerberuf ergriffen und war als Professor und Rektor des Mühlbacher Gymnasiums eine anerkannte Persönlichkeit des Städtchens im Unterwald. Die Rollen waren also verteilt, auch wenn das Schicksal später diese Rollenverteilung in keinster Weise erfüllen wollte. Hans besuchte als künftiger Hoferbe die Ackerbauschule in Mediasch,

    Coetus des Hermannstädter Lehrerseminars, 1931/32 Misch Acker als Jung-Fux (sitzend vorne links)

    Misch aber kam an das Mühlbacher Gymnasium und fand im Hause des Schulrektors, bei Mischonkel und Lenchentante eine liebevolle Bleibe. Viel Anregendes wird der Wissbegierige hier erfahren haben. Onkel Michael war ein vielseitig interessierter Mensch. Seine kunstvollen Linolschnitte zeigen ihn als aufmerksamen Beobachter von Mühlbachs historischer Stadtkulisse. Ihm will der Neffe nacheifern und ebenfalls Lehrer werden.

    So kommt er nach Hermannstadt auf das Lehrerseminar und trägt nun stolz die leuchtend blaue Schirmmütze der Seminaristen (1931-1936). Fleiß und Begabung bringen ihn voran. Das Heimweh und manche Sehnsucht vertraut er im Stillen seiner Zieharmonika an. Der Schulalltag besteht aus Pauken, Handballspielen und Musizieren. Das Geigenspiel im Seminarorchester macht Spaß. Er wagt sich sogar an den mächtigen Bass in der hervorragenden Blaskapelle der Seminaristen und singt begeistert in Dresslers Bach-Chor mit. Ein Tagebuch aus der Seminarzeit mit dem vorangesetzten Leitspruch „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und stark (1. Korinther 16/13) weist eine erstaunliche Frühreife auf. „Ich fühle, dass meine Lebensmitte tatsächlich härter, entschlossener und stetiger ist, wenn ich ihm ein Wort der Bibel voranstelle…" Seiner angeborenen körperlichen Zartheit will er bewusst durch Zucht, Härte und Disziplin begegnen. Das ist weniger eine Reaktion auf die völkisch getönten Parolen, die neuerdings aus dem immer brauner werdenden Berlin herüber schwappen. Es ist vielmehr seine feste Überzeugung, dass ein Lehrer nur durch die eigene feste Standhaftigkeit zu einem glaubhaften Vorbild für die ihm anvertraute Jugend werden kann. Seine Ernsthaftigkeit und Disziplin beeindrucken die Mitschüler. Noch sehen wir ihn auf einem Gruppenbild der Seminaristen im schmucken, tressenbesetzten Samt-„Flaus als jungen „Brand-Fux, also Jungmitglied des Coetus mit dem Fux-Namen „Harun al Raschid de genere. Bald aber wird er zum Präfekten dieses traditionsreichen „Coetus seminari gewählt werden, ein verantwortungsvolles Amt, das in Selbstverwaltung das studentische Leben mit Zucht und Ordnung, aber auch mit all seinen tradierten Auswüchsen zu regeln hat. Vieles, so das verantwortungsvolle Handeln, ist von prägendem Gewinn für die künftigen Lehrer. Manches aber widerstrebt ihm, das unzeitgemäße „Spießrutenlaufen beispielsweise, mit dem die jungen Brand-Füxe in der „Fuxtaufe zu Jungburschen geprügelt werden. Es kostet ihn viel Mühe, solch unzeitgemäße Bräuche abzuschaffen.

    Erste Berufssporen verdient er sich als Hilfslehrer in der Schule auf der Konradwiese in Hermannstadt. Hier wohnt auch Lenchen, die Tochter des Volksschullehrers Wilhelm Georg, ein herzerfrischendes Mädchen, das er in der Tanzstunde kennen lernt. Man kommt sich näher. Der junge Lehrer wird sogar zu Lenchens Großeltern, den Pfarrersleuten Reich nach Almen eingeladen. Hier versprechen sich die beiden insgeheim ewige Treue, ein Schwur den beide eingehalten haben auch wenn ein grausames Schicksal ganz anderes für sie vorgesehen hatte. Lenchen geht für einige Jahre an die KBA (Kindergärtnerinnen-Bildungs-Anstalt) nach Kronstadt, um Kindergärtnerin zu werden. Man schreibt sich wunderbare Briefe, von denen Mutter viele bis heute aufbewahrt hat und in denen Misch sein ganzes Seelenleben ausbreitet, seine Freuden und Leiden als junger Lehrer, seine Empfänglichkeit für das Erlebnis schöner Konzerte, die er mit erstaunlicher Sachkompetenz und Einfühlungsvermögen zu analysieren weiß und seine große Sehnsucht nach seiner Traumfrau, mit der Verlobung und Hochzeit bereits langfristig eingeplant sind.

    Vorerst muss er aber mit der Mutter der Braut vorlieb nehmen. Auf den gemeinsamen Wegen von der Konradwiese zu den Bachchorproben lernt sie die außerordentliche Reife und moralische Festigkeit dieses jungen Mannes kennen und schätzen. Wer hat ihn mehr geliebt, die Mutter, die auch Lenchen hieß, oder die Tochter im fernen Kronstadt? Und Misch findet in dieser verständnisvollen Lehrersfrau die Liebe seiner Mutter wieder, die kürzlich verstorben ist und eine schmerzliche Lücke hinterlassen hat.

    Der Tod der Mutter bringt das Leben der Ackers durcheinander. Ein Bauernhof benötigt die ordnende Hand einer Frau. Vater Johann heiratet sehr bald wieder. Die Kinder sind empört, dass dieses noch vor Ablauf der üblichen Trauerzeit geschieht. Dass es aber ausgerechnet Elly (Gabriella Maria Lexkes), die um 24 Jahre jüngere zarte Kellinger Kindergärtnerin und gleichaltrige Freundin von Tochter Liso sein muss, dafür haben sie keinerlei Verständnis. Es kommt zum Bruch zwischen dem Vater und den Kindern. Unüberbrückbar sind auch die unterschiedlichen Auffassungen von Vater und Sohn Hans betreffs wirtschaftlicher und ideologischer Orientierungen. Das gibt weiteren Zündstoff. Zwei Acker’sche Dickschädel prallen hier aufeinander, so dass Hans, der vorgesehene Hoferbe den Hof verlässt. Hans hat sich neuerdings der völkischen* Erneuerungsbewegung der Nationalsozialisten angeschlossen. Von ihr verspricht er sich ein Erstarken des Deutschtums in Siebenbürgen, das nach und nach durch Ungarn und Rumänen zunehmend in Bedrängnis geriet. Seit Kaiser Joseph II. in seinem aufklärerischen Reformwahn (1781) die alten verbrieften Rechte der deutschen Siedler aufgehoben hatte, durften nun auf dem ehemaligen „Königsboden nicht nur Sachsen, sondern auch Rumänen und Ungarn siedeln. Die Privilegien der Siebenbürger Sachsen, die einst von König Geisa im „Goldenen Freibrief (1224) festgeschrieben worden waren, sie galten nicht mehr, und die Sachsen sahen sich als Kronland Österreich-Ungarns den Maghiarisierungstendenzen der Ungarn, dann, nach dem Anschluss Siebenbürgens an Rumänien (1918) dem heftigen Romanisierungsdruck der Rumänen ausgesetzt.

    Von der völkischen Erneuerungsbewegung versprach sich Hans nun ein Wiederaufblühen ehemaliger Stärke und Bedeutung des Deutschtums. Er engagiert sich ehrenamtlich im Sektionsbauernamt der Deutschen Volksgruppe in Siebenbürgen, wird Leiter des Gaus Banater Bergland und Gebietsleiter des Kreises Diemrich (Deva), bevor er dann zum Kriegseinsatz an die Ostfront in der Waffen-SS abkommandiert wird, und hier wohl zur Einsicht gelangt, dass er da auf das falsche Pferd gesetzt hat. Das väterliche Großerbe kann er nicht mehr antreten. Er gerät in amerikanische Gefangenschaft und baut dann im Westen eine neue Existenz als Weingutverwalter und angesehener Weinfachmann verschiedener Weinkellereien im Ruhrgebiet auf. Der angestammte Besitz aber des Vaters wird von den neuen Machthabern des Nachkriegsrumänien zur Gänze enteignet. Seine Verbundenheit mit der alten Heimat und mit den Leistungen seiner Ahnen kann Hans nur noch als Chronist vergangenen Geschehens festhalten. Aus seiner Feder stammt eine Vielzahl von dokumentarischen Arbeiten über den Ackerbau, die Viehzucht und den Weinbau Siebenbürgens. Seine hervorragendste Leistung aber bleibt wohl seine „Acker-Chronik", ein dickbändiges Werk von einer erstaunlichen Dokumentationsfülle, denn es behandelt die Geschichte des Ackergeschlechts eingebettet in die Ortsgeschichten des Unterwaldes und seiner Gemeinden, wo die Ackers seit Jahrhunderten siedelten und dies wiederum als Teil der großen 800-jährigen Siedlungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen. Es ist fast unbegreiflich, wie Hans-Onkel die Fülle des Datenmaterials zusammentragen konnte, zu einer Zeit, da dem im Westen Lebenden die sächsischen Kirchenbücher von Mühlbach, Kelling oder Reußmarkt wie auch die Archive in Hermannstadt oder Bukarest nicht zugänglich waren. Familienangehörige – so auch ich – und Freunde mussten da mithelfen, trickreich an die gewünschten Daten zu gelangen. Die Archive in Wien und Budapest – gaben zusätzliche Auskünfte zu einer fundierten historischen Dokumentation. Sein Buch bleibt ein einmaliges Dokument zur Geschichte unserer Sippe und der Siebenbürger Sachsen im Allgemeinen, in dem ich noch einige interessante Seiten aufschlagen werde.

    Vorab aber noch ein kurzer Rückblick auf das Vorkriegsgeschehen und die beiden Brüder. Hans hatte sich von der nationalsozialistischen Propaganda der völkischen Erneuerungsbewegung blenden lassen, sein Bruder Misch hingegen, mein Vater, konnte den Forderungen der Nazis nach einer neuen germanischen (Herren)Rasse nur wenig abgewinnen. Ja, Zucht und Ordnung, das waren auch dem angehenden Schulmann wichtige Anliegen. Der rüde, überhebliche Ton aber dieser neuen Herrenmenschen, ihre ablehnende Haltung der Religion gegenüber, das musste er missbilligen. So kommt es zu einem Zerwürfnis auch zwischen den Brüdern.

    Noch ist Lenchen in Kronstadt und Misch verzehrt sich in seiner Sehnsucht nach der Braut und nach der Geborgenheit einer eigenen Familie. Die drei Jahre des Wartens scheinen unendlich zu sein. Auf ein Schuljahr als Hilfslehrer in Hermannstadt, folgt das Pflichtjahr militärischer Ausbildung in Karlsburg. Dem schnöden Militärdrill kann er zwar entgehen. Er wird der Militärkapelle zugeteilt und darf nun sogar außerhalb der Kaserne, bei Lenchens Onkel, den Pfarrersleuten Galter wohnen. Dieser Kuno-Onkel ist ihm ein verständnisvoller Gesprächspartner in Zeiten wo verwirrendes braunes Gedankengut aus Berlin herüber schwappt und auf ein nahendes Kriegsgeschehen hinweist. Und noch mehr wird ihm die Braut fehlen, als er dann seine erste eigene Lehrerstelle antritt: als vierter Lehrer in Hetzeldorf; einem beschaulichen Ort in einem Seitental der Großen Kokel zwischen Mediasch und Schässburg gelegen. Hier kann er erstmals seine Begabung als Lehrer in der Schule und der Jugendarbeit entfalten und darf seinen angeborenen erzieherischen Spürsinn – so ein Briefbekenntnis an die Braut – erkennen. Eine weitere Briefstelle fällt mir auf: Ich habe mit ihnen gespielt, gesungen, ihnen Geschichten erzählt und mit der Zieharmonika zum Tanz aufgespielt. Sie folgten mir auf Schritt und Tritt als sei ich der Rattenfänger von Hameln. Da muss ich schmunzeln. Diese verführerische Eigenschaft ist auch mir in meiner Lehrerlaufbahn immer wieder nachgesagt worden. Erstaunlich, was die kleinen genetischen Erbträger so weiterzugeben vermögen.

    Auch wenn Vater hier hochgeschätzt wird, dieser Einstieg ist keine Stelle, die eine Familie ernähren könnte. So bewirbt er sich auf die Rektorsstelle an der deutschen Schule in Neustadt und erhält die Ernennung. Jetzt kann er an die Gründung einer Familie denken, denn auch Lenchen hat ihre Ausbildung abgeschlossen. In glücklicher Erwartung, voll poetischem Überschwang schreibt er an die Braut: O Du, meine Braut! Du blühendes Gärtlein! Nun soll ich Dein Gärtner werden und dich pflegen,,,. Lenchen Georg – bald Lenchen Acker. Gefällt Dir der Name? Er soll uns ein Sinnbild sein. Du bist wie ein Acker, der auf seine Saat wartet, dass er unter lieber Pflege edle Frucht bringe …

    Hochzeit unter düsteren Vorzeichen

    Und an die künftigen Schwiegereltern schreibt er in einem herzlichen Brief (Karlsburg, im Heuert 1938): Heute hat mir Gott an Euch wieder Eltern geschenkt. Gestattet mir, dass ich Euch mit Vater und Mutter anrede… Ich weiß, daß ihr mir einmal einen kostbaren Schatz Eures Hauses anvertrauen werdet. Und weil er für mich ebenso kostbar ist, bitte ich Euch nur darum, sonst nichts…. Was wir in unserem neuen Bunde brauchen, wollen wir mit Lenchen selber schaffen. Ich bin arm. Mein einziges und zugleich wertvollstes Vermögen ist mein aufrechter Sinn, ein guter Wille und Liebe zur Arbeit und zu meinem Beruf.

    Und im Oktober 39 dürfen die beiden endlich das in Almen einander gegebene heimliche Versprechen wahr machen. Die Hochzeit findet in Hermannstadt im engsten Familienkreis statt. Heute, am 21. Oktober 2014 schreibe ich diese Zeilen nieder. Es ist der 75. Hochzeitstag meiner Eltern und ich frage meine 96-jährige Mutter die nach einem Krankenhausaufenthalt wieder im Heidelberger Altenheim auf ihrer Tagescouch liegt:

    „Motter, wat sot dir der 21. Oktober?" (Mutter, was sagt dir der 21. Oktober?)

    Ein Lächeln geht über ihr Gesicht. Sie blickt auf den Wandbehang mit dem Siebenbürgenspruch, der sie ein Leben lang an ihren lieben Misch erinnert hat und sagt beglückt:

    „Cha, dåt äs ās Hochzetsdåch!" (Ja, das ist unser Hochzeitstag).

    Es zeigt sich, dass sie, deren Gedächtnis gewaltig gelitten hat, noch genaueste Erinnerungen an diesen Tag hat, der wohl der wichtigste in ihrem Leben war: Die Trauung in der großen evangelischen Stadtpfarrkirche von Hermannstadt, die Predigt von Kuno-Onkel mit Bezugnahme auf die politischen Wirrnisse der Zeit, der Gesang des Bachchors.

    Hochzeit von Lenchen Georg und Misch Acker, 21.10.1939 mit den Eltern und Brüdern Richard, Konrad u. Willi (v.l.n.r.)

    Das Hochzeitsbild kann ich ihr nicht mehr zeigen, denn auch das Sehvermögen ist dahin. Das Bild zeigt ein junges Paar in sächsischer Tracht, so wie es sich für ein sächsisches Lehrerpaar damals ziemte, inmitten der Familie vor dem elterlichen Haus in Hermannstadt. Den glücklichen Gesichtern ist nicht anzusehen, dass vor wenigen Wochen der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist und Misch bald mit einer Einberufung zu rechnen hat.

    Es sind bedrohliche Wolken, die über dieser Hochzeit schweben und bereits das Ungemach der heraufziehenden Kriegskatastrophe ankündigen. Aber noch scheint die goldene Herbstsonne ungetrübt, als das Brautpaar in Neustadt einzieht. Der Bericht meines Vaters, ein erster Rundbrief an die Familie lässt ahnen, welch hohes Ansehen ein Lehrer zu jener Zeit noch hatte: Auf dem Bahnhof erwartete uns der Kurator mit einem bekränzten Zweigespann. Ganz Neustadt war auf den Beinen. Vor dem Schulgebäude standen Schulkinder, Jugend, das Presbyterium, ja das ganze Dorf Spalier. Der Pfarrer begrüßte die junge Frau Rektor und dann wurden sie von Schulkindern und Mägden mit Blumensträußen beschenkt.

    Vater berichtet weiter von der Verzückung mit der seine junge Frau die neue Wohnungseinrichtung genießt. Das lindgrün gestrichene Schlafzimmer, die honiggelben Küchenmöbel mit der „Kredenz", dem Küchenschrank, der bald auch für mich bedeutsam wird. Vor allem aber sind es die blau-roten sächsischen Möbel des Wohnzimmers, ein Tisch mit Stühlen und ein Schubladenkasten, die Vater in Form und Bemalung eigenhändig entworfen hat und die die neue Hausherrin begeistern. Aber auch die kleinen Hochzeitsgeschenke erhalten symbolische Bedeutung: Der Teppichklopfer wurde noch nicht verwendet denn brave Eheleute brauchen sich nicht zu züchtigen, und die Küchenwaage steht noch unberührt, denn noch ist alles im Gleichgewicht.

    Der Brief aber schließt unvermutet mit dem Satz: Wenn ich aus dem Krieg heimkomme, wollen wir unser kleines Paradies weiter gestalten, dann schreiben wir wieder".

    Das klingt nun sehr zuversichtlich; tatsächlich aber hat sich Misch schon länger Sorgen um die Zukunft gemacht. Besorgt verfolgt er die Rundfunknachrichten. Freilich bedrückt uns jetzt eine andere Angst, gesteht er, diese dunkle Zukunft macht mir’s bange und ein dunkler Schatten fällt auf alle Freude und es wird mir bewußt, daß ich vielleicht schon über wenige Stunden fort muß in Lärm, Wirrnis und Ungewissheit auf unbestimmte Zeit.

    Dennoch packt der junge Lehrer sein neues Amt mit Begeisterung an. Der neue Gemeindesaal soll eingeweiht werden. Er probt eifrig mit der Blaskapelle, mit den jungen Adjuvanten und mit dem gemischten Chor wie auch mit den Jugendgruppen. Ein Theaterstück – De Kircheväter vun Hielt – wird einstudiert, in dem Lenchen und Misch die Hauptrollen spielen. Die Saaleinweihung – Weihnachten 39 – wird zu einem Erlebnis, an das sich die Neustädter noch Jahrzehnte später begeistert erinnern. So etwa der überraschende Anruf von Lehrer Kauder, der als Kind an dieser Feier beteiligt war und mir kürzlich davon überschwänglich berichtete.

    Vorsorglich nimmt der Rektor seine junge Frau in den Unterricht mit. Sie soll ihm assistieren und seine Unterrichtsweise kennen lernen, um ihn notfalls ersetzen zu können, falls die Einberufung erfolgen sollte. Und Mutter, die das pädagogische Geschick ihres Mannes bewundert, wird diese Vertretung bald antreten müssen, denn das junge Glück dauert nur 10 Tage, dann muss Vater fort, zunächst zu Kampfübungen und dann an die Front. Es werden immer nur wenige Tage Fronturlaub sein, die Vater wieder in Neustadt weilen darf. In seinen Briefen regelt Misch umsichtig das Geschehen zu Hause, den Holzbedarf und das Schweineschlachten etwa für den bevorstehenden Winter, gibt Mutter Anweisungen für das Gestalten der Weihnachtsfeier in der Schule und ist besorgt um das Wohlergehen seiner jungen Frau. Vorerst ist es demütigende Kanzleiarbeit, die der Vater in rumänischen Garnisonsstädten (Karlsburg, Lipău, Satu Mare) mit Abscheu und Widerwillen verrichtet. Aber es gibt auch beglückende Nachrichten: Misch erfährt, dass Lenchen ihr erstes Kind erwartet, entstanden aus unserem reinen Wunsch und unserer großen Liebe. Du wirst Mutter, dieses Glück sollst Du ganz tief erleben. Lass mich aber auch Teil haben daran, dass auch der Vater dem Kindchen von seiner Liebe geben kann… Es ist das köstlichste Geschenk des Lebens überhaupt, gesteht er dankbar seiner Frau.

    Das Söhnchen kommt unter der Obhut der Großeltern in Hermannstadt zur Welt und Vater Misch kann sogar dabei sein, als der Urgroßvater Carl Reich das Bürschlein auf den Namen Dieter tauft. Nach einem ersten Militäreinsatz, noch im Hinterland des Kriegsgeschehens, hat er unbefristeten Urlaub erhalten. Es wird das einzige Jahr sein, das Vater und Mutter miteinander verbringen. Sie kehren nach Neustadt zurück, um den Verpflichtungen der Rektorsleute wieder nachzukommen.

    Mit begeisterter Arbeit, mit viel Freude an dem heranwachsenden Bürschlein und mit bangen Erwartungen an die Zukunft geht dieses Jahr viel zu schnell vorbei, dann wird Vater wieder einberufen. Diesmal an die Front. Aber bevor wir Vater in die Kriegswirren nach Russland begleiten, wo dieses hoffnungsvolle Leben viel zu früh erlöschen wird, wollen wir noch etwas in der Acker-Chronik blättern.

    Wer waren diese Ackers, woher kamen sie, was zeichnete sie aus und was haben sie uns weiter gegeben?

    Meine Eltern

    Lenchen Georg und Misch Acker

    Verlobung, Hermannstadt Weihnachten 1938

    Die Geschichte eines kurzen Glücks

    Im Blätterwald des Acker – Stammbaums

    Das Bauerngeschlecht der Acker‘s / Reußmarkt / ein Königsrichter

    Woher kommt jemand, der sich „Acker oder „Acker-er nennt? Das kann nur – so die Überlegung von Hansonkel, dem Verfasser der Acker-Chronik – eine Gegend sein, in der Ackerbau, ein „Ackerer, also ein Pflüger eher etwas Seltenes ist, eine Berggegend etwa. Die mündliche Familienüberlieferung weiß zu berichten, dass die Acker-Vorfahren aus Tirol einwanderten. Nun, darüber gibt es keine schriftlichen Nachweise. Erwiesen aber ist, dass der Name Acker erstmalig in den Kirchenbüchern von Reußmarkt, einer Gemeinde im weinreichen Unterwald Siebenbürgens auftaucht. Hier wird ein Hermanus Acker erwähnt, der als „vir pius et honestes (frommer und ehrenwerter Mann) 1706 in Reußmarkt verstirbt. Sein angegebenes Lebensalter von 80 Jahren lässt auf das Geburtsjahr 1626 schließen. Dies lässt sich nicht belegen, denn die Reußmarkter Kirchenbücher werden erst seit 1667 geführt.

    Dieser Hermann Acker ist also der Stammvater eines ehrenwerten Bauerngeschlechts, das sich durch viele Generationen verfolgen lässt. Ihr, liebe Enkel seid in dieser Folge die 14. Generation (sie werden mit römischen Zahlen gekennzeichnet), und wenn man gemeinhin für 100 Jahre jeweils vier Generationen annimmt, so sind das nahezu 400 Jahre ereignisreicher Familiengeschichte, die wir überblicken dürfen.

    Einiges spricht dafür, dass die Ackers schon länger am Orte siedelten, denn im ersten überlieferten Familienverzeichnis von Reußmarkt (1697) werden gleich drei eigenständige Ackerhöfe in der Ortsmitte genannt. Dort siedelt nur einer, der schon längeres Wohnrecht hat. Und sie müssen bereits sehr angesehen gewesen sein. Anders lässt es sich nicht erklären, dass der Sohn dieses Stammvaters Hermann zum Königsrichter des Stuhls Reußmarkt aufsteigt, und es zu größtem Ansehen und Ruhm bringt. Von ihm, diesem Andreas Acker, kennen wir zwar nicht das genaue Geburtsjahr. Es dürfte um 1650 liegen. Aus seinem bewegten Leben aber ist uns bereits Vieles bekannt, denn er spielt in den wirren Kriegsereignissen jener Jahre eine wichtige Rolle. Unterschiedlichste Chroniken jener Zeit erwähnen ihn als einen Mann von großer Willensstärke und Tatkraft.

    Was ist ein Königsrichter, werdet ihr fragen? Dazu müsst ihr Einiges aus der Geschichte der Siebenbürger Sachsen wissen. Es ist lange her, als der ungarische König Geisa II. in den Jahren 1141-1162 erstmalig Siedler aus deutschen Landen in das „Land jenseits der Wälder, also nach „Transsilvanien berief. Sie kamen größtenteils aus süddeutschen Gebieten, aus Moselfranken bis hinüber nach Luxemburg. Die Siedler, die als fleißige Bauern, gute Handwerker und Städtebauer galten, sollten hier feste Städte und wehrhafte Burgen bauen, um die Ostgrenze des ungarischen Königreiches entlang des Karpatenbogens zu sichern. „Ad retinendam coronam – zum Schutze der Krone, so lautete der Auftrag. Mit ihrem Fleiß sollten sie das Land erschließen und fruchtbar machen. Im Gegenzug versprach der König ihnen das alleinige Siedlungsrecht auf diesem „Königsboden, wie auch ein Leben in absoluter Freiheit.

    Kein Grundherr, kein Adliger und keine Fürstenwillkür sollten über sie herrschen, allein dem (ungarischen) König sollten sie untertan sein. Solches Versprechen, das im Andreanischen „Goldenen Freibrief" von 1224 festgehalten war, muss ein gewaltiges Lockmittel zu einer Zeit gewesen sein, da in Mitteleuropa noch die Knechtschaft der Leibeigenschaft große Teile der Bevölkerung drückte. Kein Wunder, dass die Siedler diesem Ruf in Scharen folgten. Sie haben die Erwartungen des Königs im Laufe ihrer fast 900-jährigen Siedlungsgeschichte mit dem Bau prächtiger Städte und Burgen nach westlichem Vorbild und mit der Fruchtbarmachung dieses Landes mehr als erfüllt. Welch große Leistung das war, wird erst klar, wenn man sich vor Augen hält, dass auch die großen deutschen Städte, ein München etwa, Bamberg oder Nürnberg ebenfalls erst zu diesem Zeitpunkt mit prächtigen Dombauten entstehen. Als Hermann der Anführer der ersten Siedlungsgruppe 1147 seine gekreuzten Schwerter in den siebenbürgischen Boden stieß, um Hermannstadt (anfangs noch Hermannsdorf) zu gründen, da gab es das heutige Heidelberg noch nicht. Es ist die Zeit der Stauferkönige, die zu den ersten Kreuzzügen aufrufen. Das mag ebenfalls ein Auswanderungsgrund gewesen sein, solchen Kriegsverpflichtungen zu entgehen. Jedenfalls bringen die Siedler mit ihrem Hab und Gut auch die Sprache mit, die ein Kaiser Barbarossa gesprochen haben muss, eine Sprache, welche die Siebenbürger Sachsen als ihren unverwechselbaren Dialekt bis auf den heutigen Tag fast unverändert bewahrt haben. Verständlich, dass dieses mittelhochdeutsche Sprachrelikt für Sprachforscher von hohem wissenschaftlichem Interesse ist. Nur noch die Luxemburger haben ihre mittelhochdeutsche Sprache auf ähnliche Weise bewahrt, so dass wir uns heute nach 900 Jahren mit ihnen fast mühelos verständigen können,

    Zu den ausgehandelten Sonderbedingungen, die der ungarische König den Siedlern zugesagt hatte, gehörte auch das Recht der eigenen Gerichtsbarkeit. Über diese freien Siedler durfte nur der König selbst, oder der von ihm eingesetzte Richter, eben der „Königsrichter", zu Gericht sitzen. Es war also ein sehr hohes Amt, das der Königsrichter bekleidete. Er war der Vertreter der königlichen Macht in dem Stuhl (Verwaltungsdistrikt), für den er eingesetzt war.

    Das nun ausgerechnet dieser Andreas Acker zum „Judicis Regis, zum Königsrichter des Stuhls Reußmarkt gewählt wird, gibt einige Rätsel auf, denn er wird in den Akten als „illiteratus, also als ein des Schreibens und Lesens Unkundiger erwähnt. Das ist merkwürdig, da doch in Reußmarkt bereits seit 1488 nachweislich eine öffentliche Schule besteht. Hat er seine Jugendjahre möglicherweise doch mit den Wirrnissen einer Aus- bzw. Einwanderung verbracht und somit keine Schule besuchen können? In Andreas Acker begegnet uns jedenfalls ein Mann von ganz ungewöhnlichem Format, über den der Stolzenburger Pfarrer und Geschichtsforscher Johann Plattner in seinem Aufsatz „Der Reußmärkter Königsrichter Andreas Acker" (Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt vom 26.10.1926) Erstaunliches zu berichten weiß.

    Seine Schreibschwäche scheint der Autorität dieses Judicus Regis keinen Abbruch getan zu haben. Dafür spricht, dass er das Amt 29 Jahre bis zu seinem Tod in schwierigen kriegerischen Zeiten mit Erfolg geführt hat. Wie aber war das einem Schreibunkundigen möglich, hatte er doch die Interessen der Krone, also von Leopold I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn, wie auch Fürst von Siebenbürgen, auch amtlich wahrzunehmen? Nun, ein Pragmatiker, wie es unser Urahn war, findet da eine praktische Lösung und es war sicher ein geschickter Schachzug, als er sich den schreibkundigen Notarius des Dorfes Michael Bottesch zum Schwiegersohn erkor, der nun als Stuhlssekretär die Amtsgeschäfte zu führen hatte.

    Es sind Zeiten, in denen sich große Veränderungen in Siebenbürgen vollziehen. Das Fürstentum Siebenbürgen war seit der verlorenen Schlacht von Mohács (1526) unter türkische Oberhoheit geraten. Andreas muss als Kind erleben, wie Türkenheere seinen Heimatort Reußmarkt wiederholt plündern. Als Königsrichter gerät er in das Räderwerk gegnerischer Kräfte im Machtspiel zwischen Österreich, dem Osmanenreich und Siebenbürgen, das mit seinen drei Ständevertretern, den Ungarn, Szeklern und Sachsen unterschiedliche Interessen verfolgt. Leopold I. will die Vormachtstellung der Habsburger den Türken wieder streitig machen. Die Ungarn strebten mit Macht die Abspaltung Siebenbürgens vom Habsburgerreich an und hatten in Franz II. Rákóczy bereits einen eigenen Fürsten gewählt. Er verkörpert bis heute das Symbol des ungarischen Freiheitshelden, dem auch H. Berlioz mit seinem „Rákóczy-Marsch (aus „Fausts Verdammnis) ein Denkmal gesetzt hat. Die Sachsen aber begrüßten zunächst die Österreichischen Heere als Befreier von den Türken, sehen sich aber durch die plündernde Soldateska der Österreicher enttäuscht und wenden sich von Leopold zunehmend ab.

    Die Spannungen führen schließlich 1704 zu den berüchtigten Kurutzenkriegen, in die auch unser Königsrichter hineingerät. Hans-Onkel hat die Episode der Gefangennahme des Königsrichters durch marodierende Kurutzenscharen in seiner historischen Novelle „Der Königsrichter literarisch verarbeitet. Da wird geschildert, dass der Königsrichter in seiner Dienstkutsche von den Rebellen überfallen und gefesselt in das Lager des Rebellenführers nach Salzburg bei Hermannstadt verschleppt wird. Der Mut und die Standhaftigkeit wie auch die Schläue, mit der er sich aus den Fängen der Rebellen wieder zu befreien wusste, hat dann nicht nur die Reußmarkter, sondern auch die Gegenseite der Österreicher in unglaubliches Staunen versetzt. Wohl wissend, dass es von ihm als „illiteratus keine schriftlichen Zeugnisse gab, hatte er dem Kurutzenhäuptling angeboten, sich willig in dessen Hände zu begeben, wenn der ihm schriftliche Beweisstücke unredlichen Verhaltens gegen den Kaiser oder gegen dessen Widersacher, die ungarischen Rebellen, vorlegen könnte. Das konnte der Häuptling nicht, und der Königsrichter musste auf freien Fuß gesetzt werden. Das hat eine Fülle von Vermutungen aufkommen lassen, etwa, er habe sich „rantionieret, d.h. mit einem Kopfgeld freigekauft, wobei die Bevölkerung sich nun Schonung vor den Rebellen versprach. Im wechselnden Kriegsglück der Parteien wird Reußmarkt bald von den Kaiserlichen bald von den Rebellen ausgeplündert, und der Königsrichter hat alle Hände voll zu tun, um das Schlimmste von seinen Landsleuten fern zu halten. Als aber die Österreicher endlich die Oberhand gewinnen, wird er erneut arretiert, nun von den Kaiserlichen unter dem Verdacht, mit den Rebellen „conspiriert zu haben. Im Hause des Hermannstädter Schneiders Stefan Ziegler in der Wiesengasse wird er von zehn Dragonern strengstens bewacht. Aber auch vor dem Militärgericht, das mit der Todesstrafe drohte, muss er sich so vortrefflich und würdevoll verteidigt haben, dass er nicht nur in Ehren wieder freikam, sondern auch noch die lebenslange Freundschaft des kommandierenden Generals Graf Steinville gewann – so weiß die Acker-Chronik zu berichten. Die einsichtige Gnade des kommandierenden Generals Steinville ist möglicherweise auch dem Einfluss von Prinz Eugen, dem „edlen Ritter" zuzuschreiben, der dem General den freundschaftlichen Rat gegeben hatte, die Landeseinwohner weder mit Worten noch mit Werken im mindesten zu kränken.

    1711 gelingt es endlich dem Nachfolger von Leopold I., Kaiser Joseph I. die grauenvollen Kurutzenkriege zu beenden. Der Königsrichter kann sich nun anderen Dingen zuwenden: Die Bevölkerung ist in Folge der anhaltenden Türken- und Kurutzenkriege wie auch durch Pestepidemien dezimiert, es herrscht Hungersnot. Andreas setzt sich nun für die Einführung des Maisanbaus ein, einer Körnerfrucht, die über Amerika und der Türkei auch nach Siebenbürgen gelangt war und hier „Türkisch-Korn" genannt wurde. Auch den Anbau von Hanf und Lein und erstmalig auch von Baumwolle regt der rührige Stuhlsvorsteher an. Einmal aber noch betritt er die große Bühne der Politik.

    Im ständigen Tauziehen um die Machtverhältnisse im österreichischen Kaiserreich kam es endlich 1713 zur Verkündigung der „Pragmatischen Sanktion" von Kaiser Karl VI. Darin wurde die Hausmacht der Habsburger gefestigt und das Erbfolgerecht der Thronfolge auch auf die weibliche Linie ausgeweitet (was wie eine weise Voraussicht auf die bald folgende Regentschaft von Kaiserin Maria Theresia

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1