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Elins Tod: Eine  Norwegische Tragödie
Elins Tod: Eine  Norwegische Tragödie
Elins Tod: Eine  Norwegische Tragödie
eBook541 Seiten7 Stunden

Elins Tod: Eine Norwegische Tragödie

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Über dieses E-Book

Sonja, eine junge Frau aus Deutschland, reist zum Studium nach Norwegen. Ihre Großmutter Elin gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Sonja stellt Nachforschungen an und erfährt, dass Elin bei der Seeschlacht um Narvik einen deutschen Seemann vor dem Ertrinken gerettet hat. Sie versetzt sich in die Vergangenheit mit dem ganzen Schrecken, der Grausamkeit und Tragik des Krieges.
Auf den Lofoten lernt Sonja eine junge Norwegerin kennen. Freya besucht ihre Großmutter Kristiana, die Elin gekannt hat.
Das Schicksal ihrer Großeltern beschäftigt Sonja sehr: Johannes ist 1944 bei dem Untergang des Schlachtschiffes Tirpitz vor Tromsø umgekommen, aber Elins Tod erscheint mysteriös.
Plötzlich geschehen merkwürdige Dinge und Sonja wird ernsthaft bedroht, als wolle jemand verhindern, dass die Wahrheit über Elins Verschwinden ans Licht kommt.
Sie verlässt die Lofoten und beginnt in Tromsø ihr Studium. Aber dort sieht sie sich neuen Anfeindungen ausgesetzt …
Dann erreicht sie die Nachricht, dass ihr Vater in Trondheim gestorben ist. Die Todesursache ist unklar. Freunde begleiten sie dorthin - darunter Theresa, die in besonderer Weise Anteil an Sonjas Schicksal nimmt. Sie beginnen auf eigene Faust zu recherchieren und kommen einem mächtigen Feind auf die Spur. Trauer, Verzweiflung und Angst wandeln sich in Wut - es ist ein gutes Gefühl, jetzt aus der Rolle der Gejagten in die der Jägerin zu wechseln. Eine Verfolgungsjagd beginnt, die erneut in den Norden führt …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Mai 2021
ISBN9783347315242
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    Buchvorschau

    Elins Tod - Thomas Kirschner

    PERSONEN

    TEIL EINS

    Kapitel 1.1

    London. Auf vielfältige Weise anregend

    In Gedanken versunken fuhr ich mit dem Wagen hinaus an eine einsame Stelle der Küste; in dieser spektakulären Umgebung hoffte ich, einen klaren Kopf zu bekommen. Es gab vieles, über das ich nachdenken musste, seit ich an diesem Morgen den Brief meiner Mutter – mit vollem Namen und Titel Dr. Alexandra Bruhns, Staatsanwältin – gelesen hatte.

    Ich stellte mein Auto auf dem kaum befahrenen Feldweg ab; dieser Landstrich an der Außenseite der Lofoten ist unbesiedelt und kaum jemand verirrte sich hierher.

    Es war herrlich warm, und so zog ich mich aus, legte mich in die Sonne und dachte nach: Ich war also zu einem Viertel Norwegerin!

    Das war ein seltsames Gefühl. Bis heute Morgen hatte ich mich für eine ganz normale Deutsche gehalten, aber nun hatte mich Alex' Brief eines Besseren belehrt.

    So ganz konnte ich es noch gar nicht glauben: Meine langen Haare sind fast schwarz, und mein Teint ist relativ dunkel. Mein portugiesischer Tanzlehrer in Frankfurt hatte meine Vorfahren auf der Iberischen Halbinsel vermutet, aber bisher hatte ich nur gewusst, dass meine Eltern aus Hamburg stammten. Alexandras Vorfahren waren Hamburger Kaufleute gewesen. Mein Vater Manuel, erfolgreicher Rechtsanwalt in Bad Homburg, war bei seinen Großeltern väterlicherseits in Hamburg aufgewachsen, Alex hatte seinen Großvater noch kennengelernt, aber sein Vater war aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurückgekehrt. Über seine mütterliche Linie war mir nichts bekannt.

    Jetzt schrieb Alex, dass Manuels Mutter Norwegerin gewesen war! Alex hatte Manuels Geburtsurkunde gefunden, aus der das eindeutig zu entnehmen war.

    Ich dachte an früher, an die Zeit vor der Scheidung von Alex und Manuel: Vater hatte nie über seine Eltern gesprochen und war immer, wenn das Gespräch auf sie kam, ungewöhnlich zurückhaltend und verschlossen gewesen. Später hatten Mutter und ich dieses Thema gemieden.

    Meine Gedanken wanderten weiter, und jetzt erschienen mir weitere sonderbare Verhaltensweisen Manuels in einem anderen Licht. Nach der Trennung meiner Eltern war ich in unserem Haus in Bad Homburg bei meinem Vater geblieben und hatte hautnah miterlebt, wie negativ er auf Alex' Versetzung nach Norwegen reagiert hatte.

    Vielleicht weil ich meine Mutter vermisste, hatte ich begonnen, mich für Norwegen zu interessieren, und beschlossen, nach dem Abitur dort zu studieren. Manuel hatte sich vehement dagegen ausgesprochen und versucht, mir das auszureden. Ich dachte ungern an diese Szene zurück. Wir waren bis dahin sehr gut miteinander ausgekommen, und so belastete mich diese heftige Auseinandersetzung sehr. Vater konnte keine vernünftigen Gründe für seinen Widerstand nennen; dabei war er so stur und schroff, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte. Er konnte mich aber nicht aufhalten, da ich inzwischen volljährig geworden war. Nur ein paar Tage später habe ich mein Gepäck ins Auto geladen und war losgefahren. Wenigstens war der Abschied einigermaßen versöhnlich gewesen. Vor dem Hintergrund meines neuen Wissens erschien mir diese Haltung umso befremdlicher. Wenn er doch zum Teil norwegischer Abstammung war, warum sträubte er sich so sehr dagegen, dass ich oder Alex in dieses Land reisten?

    Ein leichter Wind strich sanft über meine Haut; der Sommer war ungewöhnlich heiß für norwegische Verhältnisse. Ich hatte gelesen, das Temperaturmittel der Lofoten liege mehr als 20° Celsius über dem Durchschnitt dieser Breitenlage, was der Inselgruppe eine der größten positiven Temperaturanomalien der Erde verschaffe. Geowissenschaften sind mein Spezialgebiet, und besonders interessiere ich mich für Erdkunde und Ökologie. Wie schön, wenn ich das eines Tages zu meinem Berufsinhalt machen könnte.

    Ich schaute die Umgebung auf einmal mit ganz anderen Augen an: Also war dieses Land – ich blickte mich mit einem gewissen Staunen in der beeindruckend schönen Szenerie um – nun auch mein Heimatland. Der Gedanke gefiel mir. Meine Augen wanderten von dem aufgewühlten Nordatlantik mit seiner leuchtend weißen Brandung zur Steilküste, auf deren schmalem Uferstreifen gerade Platz für die kleine Schotterstraße war, und zu meinem Wagen, einem Sportcoupé, das ich Charly getauft hatte. Sein dunkelblauer Metallic-Lack glänzte in der Sonne und bildete mit seinem modernen Design einen großen Kontrast zu dieser urweltlichen Landschaft.

    Welch ein weiter Weg lag hinter uns: von Frankfurt über Trondheim, der neuen Heimat meiner Mutter, bis hierher, mehrere tausend Kilometer weit in den höchsten Norden Europas.

    Das Telefon klingelte.

    Unwillig stöhnend öffnete ich die Augen und streckte mich, brachte es aber nicht fertig aufzustehen und ließ noch einen Moment lang die paradiesische Szenerie auf mich wirken. Tief unter mir rollten die Wellen des tiefblauen Atlantiks an die Felsen und brachen sich geräuschvoll in blendend weißen Kaskaden. Ich war mir auf einmal meiner physischen Existenz, meines nackten Körpers in dieser Landschaft besonders bewusst, spürte intensiv den sonnengewärmten Felsen unter mir und das Gras an meinen Beinen.

    Wieder klingelte es. Ich hätte mein Handy doch abschalten sollen! Ich ging barfuß zum Auto zurück und genoss die Erde unter meinen Fußsohlen. Durchs offene Fenster wühlte ich in meinen Sachen, bis ich das Handy fand. Es war Alex, die übers Wochenende zu ihrem Vater nach Hamburg gefahren war. Erstaunlich, dass sie sich schon wieder meldete, wo sie mir doch gerade erst geschrieben hatte. Es war sonst nicht ihre Art, ständig Kontakt mit mir aufzunehmen. Kamen doch wieder alte mütterliche Instinkte mit dem überkommenen Kontrollzwang zum Vorschein? Ihre Stimme klang trotz der großen Entfernung bemerkenswert deutlich. Ich lehnte mich an, dabei berührte meine Haut die Karosserie des Wagens. Ich schrie kurz auf, so heiß war das Blech in der Sommersonne geworden.

    »Was ist denn los, Töchterlein?« Ich hasse es, wenn mich Alex so nennt, aber ich ließ sie fortfahren: »Egal; hast du meinen Brief bekommen?«

    »Ja, heute Morgen.«

    Alex fuhr aufgeregt fort: »Ich war ziemlich überrascht, als mir mein Vater die alte Truhe mit den Sachen von Manuels Vater zeigte. Nach der Auflösung des Haushalts seiner Großeltern väterlicherseits, das war 1970, hatte Manuel ein paar Sachen bei meinen Eltern untergestellt; ich weiß nicht, ob du dich an die kleine Wohnung in Altona erinnerst. Als wir nach Frankfurt umgezogen sind, haben wir das meiste mitgenommen oder weggegeben; bis auf diese Truhe, die dann aber in Vergessenheit geriet. Vor Kurzem hat sie mein Vater wiederentdeckt und Manuel angerufen, aber der hatte kein Interesse daran. Im Gegenteil: Er bat sogar darum, den ganzen alten Krempel wegzuschmeißen, aber das brachte Vater nicht fertig. Du kennst ihn ja, Sonja.«

    »Und darin hast du dann seine Geburtsurkunde entdeckt?«

    »Ja, ich fand das merkwürdig. Alle hatten seinerzeit gedacht, die Unterlagen und Urkunden über Manuels Eltern und über seine Geburt seien verschwunden, möglicherweise bei den Bombenangriffen gegen Kriegsende verbrannt.«

    Der Wind frischte auf, ich erschauerte und setzte mich ins Auto. »Hast du Manuel von deinem Fund erzählt?«

    »Nein, noch nicht«, antwortete Alex zögernd. »Er hatte so eindringlich darum gebeten, die Kiste zu vernichten. Und du weißt sicher noch, wie ungern er über seine Eltern spricht.«

    Ein kurzes Schweigen setzte ein; es drückte unsere Ratlosigkeit angesichts von Manuels unerklärlichem Verhalten aus. Ich riss mich von meinen Gedanken los und fragte Alex mit gespielter Munterkeit: »Was war denn sonst noch in der Kiste?«

    »Nur ein paar alte Bücher. Ich habe sie mir noch gar nicht alle angesehen. Außerdem einige Orden. Aber, weshalb ich dich anrufe: Ich habe dir die Geburtsurkunde gerade ins Hotel gefaxt!« »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich fahre sofort ins Hotel und schau sie mir an.«

    Auf einmal hatte ich es furchtbar eilig; Neugier und Euphorie trieben mich an. Ich schlüpfte in Jeans und T-Shirt, glitt auf den Fahrersitz und fuhr los. Ich hetzte den Ford Probe über den Schotterweg zwischen Vestresand und der Hauptstraße. Ein paar Mal schlingerte der Wagen gefährlich auf dem losen Untergrund, aber ich konnte ihn gerade noch abfangen.

    »Charly, du alte Kiste! Nun komm schon«, sagte ich streng. Albernerweise redete ich manchmal mit ihm. Der Wagen hatte zwar etliche Jahre auf dem Buckel und zeigte äußerlich ein paar kleine Macken, aber die Technik war in bestem Zustand, und ich liebte das schöne und kompakte Sportcoupé heiß und innig. Ich hatte ihn direkt nach meiner Führerscheinprüfung in Frankfurt gebraucht gekauft.

    Auf der Staatsstraße 19 kam ich besser voran und genoss die schnelle Fahrt – besonders, als ich die Auffahrt zur spektakulären Brücke über den Sundklakk-Straumen hinaufschoss. Ich kam inzwischen sehr gut mit dem Wagen zurecht, und das Handling war großartig. Er lenkte willig ein, lag satt auf der Straße und umrundete schnelle Kurven absolut neutral. Kleinere Korrekturen nahm er gutmütig hin, und so entwickelte sich ein perfektes Zusammenspiel von Mensch und Maschine; einer Maschine, die für mich fast schon eine Persönlichkeit war.

    Beim Fahren nahm ich die Umgebung intensiv wahr: Die Sonne stand hoch über den tiefblauen Fluten der schnell strömenden Wasserstraße, die Berge bildeten eine bizarre Kulisse. Dazu passten die Klänge von Steve Morse & The Dregs aus dem CD-Player meines Autos. Die Zusammenstellung hatte meine Mutter selbst auf CD gebrannt. Eine virtuose Musik – modern, extravagant und rein instrumental –, die Alex total begeisterte. Ich verstehe nicht besonders viel von Musik, aber auch mich sprachen diese ausgefeilten, progressiven Stücke ganz unmittelbar und intensiv an.

    Ich umrundete in schneller Fahrt die kleine Insel Gimsøya und überquerte die zweite große Brücke zur Insel Austvågøy. Kurz vor dem Tunnel, der ins Innere der Insel führt, bemerkte ich am Straßenrand einen Polizisten, der mich unmissverständlich herauswinkte. Klopfenden Herzens bremste ich. Der Polizist wirkte zunächst verblüfft, als er im Wagen eine junge Frau erblickte, dann ermahnte er mich, ich sei zu schnell gefahren. Ich fragte nur: »How much?« und stellte kühl einen Scheck aus. Die Höhe des Bußgeldes war schmerzlich, aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen.

    Der Polizist nahm den Scheck an sich, und der Vorgang schien schon abgeschlossen, da bemerkte ich, wie sein Blick an mir herunterwanderte. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich das Shirt nicht ganz heruntergestreift hatte, und instinktiv zog ich meinen eigentlich nicht vorhandenen Bauch ein. Jetzt lächelte der Polizist – im Grunde ein netter junger Mann. Ich lächelte zurück und schob den Stoff herunter. Wir verabschiedeten uns freundlich, und etwas langsamer setzte ich meine Fahrt nach Svolvær fort.

    Mir ging durch den Kopf, wie ich hierhergekommen war: Als meine Mutter vor einem Jahr nach Norwegen gezogen war, hatte ich nicht geahnt, dass ich ihr bald folgen würde. Sie war von ihrer Behörde im Rahmen eines Austauschprogramms nach Trondheim versetzt worden. Die Hintergründe hatte ich nie so ganz durchschaut. Jedenfalls war ihr letzter Fall so brisant gewesen, dass man sie aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit für einige Zeit aus Frankfurt entfernen wollte. Ich vermutete eine Mafia-Geschichte dahinter.

    Angeregt durch Alex las ich alles, was ich über Norwegen in die Finger bekommen konnte. Das Land im äußersten Norden Europas begann, eine besondere Faszination auf mich auszuüben. Und es passte zu meinen Ideen, was mein Studium betraf.

    Im März war ich zu meiner Mutter nach Trondheim gefahren, um Norwegisch zu lernen.

    Mein Studium würde ich allerdings in Tromsø aufnehmen. Diese Stadt ganz im Norden bot für meinen Studiengang Geowissenschaften mit Ozeanografie und Meeresbiologie sehr interessante Schwerpunkte.

    Den Sommer vor Studienbeginn wollte ich nutzen, um mir Nordnorwegen ein wenig anzusehen. Ich musste erst Anfang September in Tromsø sein, hatte also noch einige Monate Zeit und war allein losgezogen. Alex sah das nicht so gern, aber sie war an meine Alleingänge gewöhnt. Nur das Handy hatte sie mir aufgeschwatzt. Und ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich es inzwischen zu schätzen gelernt habe. Auch hat es Alex nie als Instrument mütterlicher Kontrolle missbraucht.

    Also war ich mit meinem Auto, auf das ich mächtig stolz war, nach Norden aufgebrochen. Der Ford Probe war ein elegant gestyltes Sportcoupé. Ein Ford dieser Klasse hatte kein gutes Image, und so verkaufte sich dieser Typ nicht gut. Der Gebrauchtwagenpreis war schnell in erschwingliche Regionen gefallen. Angeberei war für mich – fast – kein Motiv für den Kauf gewesen. Ich bin ein richtiger Auto-Freak. Schon als Kind konnte ich mit typischen Mädchen-Hobbys nicht viel anfangen und habe den Jungen mit meinen Autokenntnissen was vorgemacht.

    Beim Gedanken an meinen Weg hierher musste ich grinsen. Die Fähre hatte mich von Skutvik nach Svolvær auf den Lofoten gebracht. Das war vor dem Wetterumschwung gewesen, und die Sturmfahrt über den breiten Vestfjord zwischen dem Festland und den Lofoten war gelinde gesagt interessant gewesen. Ich hatte nicht gedacht, dass ein so großes Schiff so heftige Bewegungen vollführen konnte. Wenigstens hatte ich auf diese Weise feststellen können, dass ich nicht anfällig für Seekrankheit bin.

    Meine Gedanken konzentrierten sich wieder auf die unmittelbare Gegenwart, als ich um die Ecke der Hauptstraße am alten Hafen bog und das im Stil alter Lagerhäuser gebaute Hotel in Sicht kam. Ich fuhr über die Brücke auf die kleine Insel Lamholmen und parkte vor dem Haupteingang. An der Rezeption fragte ich sofort nach dem Fax, ging auf mein Zimmer und schaute mir die Urkunde an. Da stand es nun schwarz auf weiß:

    Viele Male las ich mir das Dokument durch und dachte über meinen Vater nach: geboren im Krieg, im besetzten Norwegen, als Sohn eines deutschen Soldaten und einer norwegischen Frau. Johannes Feldhoff, mein Großvater, war damals erst 21 gewesen – mir selbst fehlten nur wenige Jahre zu diesem Alter!

    Die Bezeichnung Obermaat sagte mir nicht viel. Was hatte er in Bodø gemacht?

    In Trondheim bei meiner Mutter hatte ich viel über Norwegen, die Geschichte des Landes und den Krieg gelesen. Dabei hatte ich mich gefragt, wie ich als Deutsche mit dem Wissen um das, was meine Vorfahren hier angerichtet haben, leben kann. Wie viel Schuld hatte mein Großvater auf sich geladen?

    Eine Weile rätselte ich über die Abkürzung EK I, ehe mir klar wurde, dass es sich um das Eiserne Kreuz Erster Klasse, eine Tapferkeits-Auszeichnung der deutschen Wehrmacht, handeln musste. Dazu die Narvik-Spange – war er ein Kriegsheld gewesen?

    Elin Håkonsen, meine Großmutter, stammte offenbar aus einem Ort namens Ånstad in der Gemeinde Moskenes. Der Ortsname Moskenes kam mir bekannt vor! Ich suchte meine Karte von den Lofoten heraus und fuhr mit dem Finger auf der Karte die Inselkette nach Süden ab: Austvågøy (wo ich mich gerade befand), Gimsøy, Vestvågøy (wohin ich meinen Morgenausflug gemacht hatte), Flakstadøy und Moskenesøy. Auf den beiden südlichsten Inseln war ich noch nicht gewesen.

    In der Kommune Moskenes fand ich nur fünf Ortschaften: Reine, Moskenes, Sørvågen, Tind und Å. Reine und den Ort mit dem kuriosen Namen Å kannte ich von Bildern, aber nirgendwo fand ich Ånstad!

    Elin (der Name gefiel mir) war mit 24 etwas älter als Johannes gewesen. Wie war sie dazu gekommen, einen Soldaten der Besatzungsmacht zu heiraten? War sie in den Augen ihrer Landsleute dadurch nicht zu einer Kollaborateurin geworden?

    Viele Fragen schossen mir durch den Kopf, von denen mir die wichtigste war: Was war aus den beiden geworden?

    Kurz entschlossen griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meines Vaters in Bad Homburg bei Frankfurt. Trotz Alex' Bedenken wollte ich ihn nun doch unbedingt sprechen. Die Verbindung nach Deutschland war erstaunlich gut, und ich erreichte auf Anhieb sein Büro. Die Anwaltsgehilfin konnte mir aber nur sagen, dass er sich auf Geschäftsreise befand. Weder sein Reiseziel noch die Dauer seiner Abwesenheit durfte sie mir mitteilen.

    Unruhig lief ich im Hotelzimmer auf und ab. Es war später Nachmittag, als ich zu einem Entschluss kam: Ich warf ein paar Sachen in die Reisetasche, stieg ins Auto, orientierte mich kurz auf der Karte und nahm die Route, die ich am Morgen schon einmal gefahren war. Nach dem Tunnel passte ich auf und fuhr diesmal ganz langsam an der Polizeikontrolle vorbei – dann überquerte ich wieder die Brücken und war auf Vestvågøy. Nach der Abzweigung nach Vestresand betrat ich Neuland. Im relativ dicht besiedelten Landesinneren kam ich an einem Wikingermuseum vorbei, fuhr aber weiter, bis ich durch den Nappsund-Tunnel auf die Flakstadøya gelangte.

    Im Süden begann der spektakulärste Teil der Lofoten. Die Landschaft zwischen Flakstad und Reine fand ich wahrhaft atemberaubend und fast beängstigend schön. Ich hielt am Straßenrand an, stieg aus und sah mich um: Die Landschaft schien bizarr übersteigert und erinnerte mich an die surrealistischen Bilder der Fantasy-Art. Es hatte den Anschein, als stünden die steilen, spitzen Berge direkt im Ozean – die Ufer waren so schmal und felsig, dass kaum Platz für Straßen oder Häuser blieb. Das Örtchen Reine, umgeben von gewaltigen Bergen, erstreckt sich über ein halbes Dutzend kleiner bis winziger Inseln, die alle durch Brücken verbunden waren.

    Ich fuhr bis zum Ende der Straße in den Ort mit dem kurzen Namen Å, aber eine Ansiedlung namens Ånstad fand ich nicht. So weit im Norden wird es im Sommer abends nicht sehr dunkel, daher täuschte ich mich in der Tageszeit: Es war bereits spät am Abend, als ich ankam.

    Gleich hinter den ersten Häusern wurde ich durch einen kurzen Tunnel auf einen Parkplatz geleitet, von hier ging es zu Fuß weiter. Den einsetzenden Regen ignorierend schlenderte ich durch das Fischerdorf. Die typischen roten Holzhäuser verteilten sich zwischen Hafenbecken und Felsen, aber es war kaum ein Mensch auf der Straße. Schließlich fand ich jemanden, der mir ein Quartier im Museum vermitteln konnte. Ich fragte mich gerade, was das für ein Museum sein sollte, das gleichzeitig Fremdenzimmer anbot, da führte mich die Frau über einen Holzsteg zu einem zweistöckigen Holzgebäude mit der Aufschrift Tørrfiskmuseum. Wir kamen an riesigen Gestellen für Trockenfisch vorbei, aber der Geruch war nicht so unangenehm, wie ich erwartet hatte. Der berühmte Lofotfisch ist Kabeljau oder Dorsch, der in den Monaten Januar bis April zum Laichen aus dem Nordmeer in die Gewässer rund um die Lofoten kommt. Dieser Umstand hatte früher den besonderen Status und den Reichtum der Inseln begründet; ein Reichtum freilich, der nur wenigen Großgrundbesitzern zugutegekommen war. Die einfachen Fischer der Inseln hatten nicht viel davon gehabt – noch weniger die Saisonarbeiter. Die extrem schlechten Bedingungen, unter denen sie während der Fangzeit lebten und arbeiteten, sind in die Literatur eingegangen.

    Ich war stehen geblieben, aber die Frau wurde ungeduldig und führte mich über eine Rampe direkt in die obere Etage, wo sich die Gästeräume befanden. Sie sagte, sie müsse sich beeilen, da sie Leute von der Bodø-Fähre erwartete, und gab mir den Schlüssel.

    Es war ein einfach, aber gemütlich eingerichtetes Eckzimmer mit Fenstern in zwei Richtungen. Nachdem ich mein Auto nähergeholt und meine Tasche ausgepackt hatte, ging ich zu Bett. Ich war todmüde, hörte eben noch weitere Gäste eintreffen und schlief rasch ein.

    Am Morgen war ich sehr verschlafen, hatte aber Lust, mich ein wenig umzusehen. Ich trat vor die Türe, fröstelte etwas im Wind und im peitschenden Regen, setzte aber meinen Weg fort. Plötzlich riss der Himmel auf, und innerhalb weniger Sekunden war die Szenerie um mich herum in blendendes Licht getaucht. Alles glänzte und strahlte, die Nässe intensivierte das Schwarz der Felswände, das Grün der Vegetation und das Rot der Holzhütten – es wirkte fast kitschig. Freudig erregt unternahm ich eine Entdeckungstour durch den Ort. Südlichster Punkt war der Campingplatz, von dort waren es nur ein paar Schritte zu der Anhöhe Litlandstabben. Seitlich ragte der Andstabben auf, und ich hatte eine tolle Aussicht auf die im Süden vorgelagerten Inseln Mosken und Værøy. Ich setzte meinen Rundgang fort. Der ausladende Pier und ein auf Stelzen im Wasser stehender Gebäudekomplex bildeten das Ortszentrum. Die »Brygga« aus dem ortstypisch rot-gefärbten Holz beherbergte neben einem Restaurant und einem einfachen Hotel auch eine gemütliche Bar.

    Auf dem Rückweg kam ich zum inneren Hafen, wahrscheinlich Keimzelle des Ortes. An der Westseite befanden sich die Bäckerei und der Lebensmittelladen, eines der wenigen Häuser aus Stein, und auf der Nordseite ein großes, flaches Holzgebäude mit einer Arkaden-Front zum Wasser hin – das Bootshaus, heute ein Teil des Fiskeværs-Museums. Ich ging hinein und verschaffte mir einen Überblick über die Vielzahl von Gebrauchsgegenständen aus alter Zeit, aber die historischen Fischerboote interessierten mich am meisten. Die offenen Holzboote waren gut konserviert, und bei einem davon fiel mir der Heckspiegel auf, der besonders reich verziert war. Die abstrakten Ornamente gefielen mir, zwei Runen waren zu sehen und an einer unauffälligen Stelle die Jahreszahl 1940 und Initialen, die schwer zu entziffern waren: »J.F.« meinte ich zu lesen. Witzig, dachte ich, der Bootsbauer oder Holzschnitzer hat die gleichen Initialen wie mein Großvater.

    Die Runen schlug ich später in meinem Reiseführer nach: Sie galten symbolisch für Liebe und Stärke, wenn ich das richtig verstand.

    Zurück in meinem Quartier betrat ich den Frühstücksraum. Schnell entwickelte sich ein Gespräch mit den Gästen, die in der Nacht ihr Zimmer auf meiner Etage bezogen hatten. Der Mann arbeitete als Architekt. Da er aus Frankfurts Partnerstadt Lyon stammte, hatten wir einen ersten Anknüpfungspunkt. Ein zweiter war die Liebe zu dieser nördlichen Landschaft. Das Ehepaar, ich schätzte beide auf Mitte 50, kam seit mehreren Jahren in jedem Sommer hierher, so begeistert waren sie von den Lofoten. Für diesen Tag planten sie einen Bootsausflug: »Das Ziel ist Refsvika auf der Außenseite von Moskenesøya. Dort gibt es eine Höhle mit steinzeitlichen Wandmalereien«, erklärte der Mann und seine Frau meinte spontan: »Kommen Sie doch mit, Sonja. Das wird Ihnen sicher auch gefallen.«

    Sie freuten sich, als ich einwilligte, und ich merkte, wie gut es für mich war, nach der langen Zeit alleine wieder in Kontakt mit freundlichen Menschen zu sein.

    Das Boot lag am Pier neben dem Hotel; der Bootsführer war pünktlich da und ließ uns einsteigen. Es war ein etwas komplizierter Vorgang, da wir eine senkrecht stehende Leiter tief hinuntersteigen und über ein schmales Deck, das kaum breiter als ein Fuß war, in die Kabine klettern mussten. Ich selbst kam gut klar; nur die beiden Franzosen zögerten und waren für meine Hilfe dankbar.

    Es handelte sich um ein Sportboot mit flachem Boden, wie ich es aus Hamburg kannte. Oft hatte ich als Kind Großvater und die Eltern auf Bootsausflügen über die Seitenarme der Elbe begleitet. Einzige Fahrgäste außer dem Paar aus Frankreich und mir war ein norwegisches Ehepaar. Der Bootsführer war nicht sehr gesprächig, aber das Wetter war großartig, die Sonne schien und es regten sich kaum Wellen, als wir aus dem Hafen fuhren. Wir alle waren guter Laune. Im Osten hatte es aufgeklart, die 80 km entfernte Küste des Festlandes war deutlich zu erkennen. Nur der Wind frischte auf, und ich fragte mich, was uns auf der Außenseite der Insel erwarten würde. Wegen der hohen Berge im Westen konnte man nicht sehen, wie das Wetter draußen auf dem offenen Nordatlantik war.

    Ich fragte Jean-Pierre, den französischen Architekten, nach dem Ort Ånstad, aber auch er kannte ihn nicht. Der ältere Norweger hatte mitgehört und schaltete sich in einem stark akzentgefärbten Englisch ein: »Ånstad ist ein verlassener Ort hier im Süden von Moskenesøya«, er deutete auf die an Steuerbord vorbeiziehende Küste, »Lofotodden, die Südspitze der Lofoten, war nicht immer unbesiedelt. Bis in die fünfziger Jahre gab es hier und an der Außenseite drei Ortschaften: Ånstad, Tuv und ganz im Süden, am Moskstraumen, noch ein Ort, dessen Name mir im Moment nicht einfällt.« Er blickte Hilfe suchend zu seiner Frau, und sie ergänzte: »Der Ort hieß Hell und wurde erst 1950 verlassen. Aber auch da, wo wir jetzt hinfahren, war einst ein kleines Dorf: Refsvik.«

    Ich blickte hinüber auf die lebensfeindlich erscheinende Szenerie aus wild geformten Felsen und hohen Bergen, deren steile Hänge direkt ins Meer abfielen. Nirgendwo waren Zeichen früherer Besiedelung zu erkennen. Der Norweger lächelte über meine Enttäuschung: »Von hier draußen sieht man nichts mehr. Warum interessierst du dich denn dafür?«

    Einen Moment zögerte ich mit der Antwort, aber dann meinte ich: »Ich glaube, ein Teil meiner Vorfahren stammt von hier. Meine Großmutter väterlicherseits wurde in Ånstad geboren.«

    Alle sahen mich mit plötzlicher Neugier an, aber ich konnte nicht viel mehr berichten, außer dass ich selbst erst vor Kurzem davon erfahren hatte. Abschließend sagte der Norweger: »Genaueres weiß ich auch nicht über die verlassenen Orte. Meine Frau und ich sind erst in den 70er Jahren auf die Lofoten gekommen. Wir wohnen jetzt in Leknes auf Vestvågøy.«

    Das Boot näherte sich nun der Spitze von Lofotodden und damit dem berüchtigten Mahlstrom Moskstraumen. Das Boot begann sich heftiger zu bewegen, und wir hielten uns nahe an der wilden und schroffen Steilküste. Der Bootsführer steuerte auf einen felsigen Fortsatz der Insel zu – dann sah ich, dass sich ein schmaler Durchlass wie ein aus Stein gehauener Kanal öffnete, durch den das Boot gerade so hindurchpasste.

    Die abenteuerlichen Geschichten über den »alles verschlingenden Mahlstrom« waren sicher übertrieben, aber der schnelle Gezeitenstrom war deutlich zu sehen, er schien an einigen Stellen ein richtiges Gefälle zu erzeugen, und es bildeten sich weit ausgreifende Strudel.

    Das Wetter war auf einmal nicht mehr so ungetrübt schön. Rasend schnell hatten Wolken den Westhimmel bedeckt, und der Wind schwoll stetig an. Als wir aus dem schmalen Reidsundet ins offene Wasser kamen, war die Dünung sehr eindrucksvoll. Die Franzosen suchten in der Kajüte Schutz, und ich folgte ihnen bald darauf. Jetzt bekamen wir zu spüren, dass wir uns in einem schnellen Gleitboot ohne richtigen Kiel befanden, das nicht für Fahrten auf dem stürmischen Nordatlantik gebaut war.

    Wir drehten nach Steuerbord und gingen auf Nordkurs in Richtung Refsvika. Die Sicht wurde schlechter und die schräg von vorn ankommenden Wellenkämme nahmen erschreckende Ausmaße an. Der Bootsführer sagte nichts, aber ich sah ihm an, wie er mit dem instabilen Boot kämpfte. Im Cockpit hing ein Krängungsmesser mit einer bis 30 Grad reichenden Skala, dessen Zeiger wild von Anschlag zu Anschlag pendelte.

    Seekrank wurde ich nicht, aber ein wenig Angst beschlich mich schon. Wir alle hielten uns krampfhaft irgendwo fest und versuchten, auf den Beinen zu bleiben. Es war klar, dass an ein Anlanden in der Bucht bei diesem Seegang nicht zu denken war. Ich fragte mich, warum wir immer noch nordwärts fuhren, bis ich begriff, dass wir im Moment ein Wendemanöver einfach nicht wagen konnten. Bei querab ankommender See wäre das Boot gekentert. Ich schaute dem Bootsführer genau zu und überlegte, wie sich das Ruder des Bootes in dieser Situation anfühlen mochte, wie ich manövrieren würde. Ich blickte mich um und bemerkte, dass die anderen Passagiere in die Kajüte gekommen waren; nur der Norweger stand noch in der offenen Schotttür, die zum hinteren offenen Deck führte. Plötzlich gab es bei einer Korkenzieherbewegung des Bootes einen lauten Knall, und die Stahltür fiel zu!

    Fassungslos sah ich, dass der Mann seine Hand noch im Türrahmen hatte – seine Finger waren eingeklemmt! Ich sprang zur Tür und wuchtete sie auf, wobei mir das schwere Ding bei den Schwankungen des Boots beinahe wieder aus der Hand geglitten wäre. Jetzt sah ich, dass sich die Laschen der Halterung gelöst hatten.

    Der Mann lehnte sich an die Bordwand und starrte totenblass auf seine Hand. Ich hatte erwartet, dass einige Finger fehlten, aber sie waren alle noch dran. Nur ein tiefer Schnitt zog sich auf beiden Seiten über die Finger und begann heftig zu bluten. Seine Frau hatte gar nicht genau gesehen, was passiert war; nun aber stützte sie ihn, als er ohnmächtig zu werden drohte. Angesichts der Wunde wurde mir schlecht. Das Blut strömte so heftig, dass ich fast in Panik geriet; vergeblich suchte ich nach etwas, mit dem ich die Blutung stillen könnte.

    Der Bootsmann sah zu uns herüber, aber im Moment konnte er nicht vom Ruder weg, ohne unser aller Leben zu gefährden. Kurz entschlossen zog ich mein Hemd aus, das ohnehin schon blutbefleckt war, zerriss es und band den Arm oberhalb der Wunde ab.

    Nun trug ich nur noch einen BH, und gleich darauf fröstelte mich. Der Bootsführer rief: »Kennt sich einer mit so einem Boot aus?«

    Niemand rührte sich, und ich hegte die Befürchtung: Jetzt muss ich wohl ran! Ich glaubte mit einem solchen Boot umgehen zu können – zumindest hatte ich es früher einmal gekonnt, wenn auch in eher ruhigen Küstengewässern. Unsicher trat ich ans Ruder, legte das zerfetzte Hemd zur Seite und griff in die Speichen.

    Der Bootsführer holte den Verbandskasten und kümmerte sich um den Verletzten, während ich versuchte, das Boot in den Griff zu bekommen. Eine Welle hob das Boot an und es drohte, aus dem Ruder zu laufen – zu meinem eisigen Schrecken krängte es stark und schien quer schlagen zu wollen. Hektisch korrigierte ich, aber das Boot reagierte kaum. Erst als nach endlosen Sekunden das Heck wieder im Wasser war, hatte ich Druck auf dem Ruder, und langsam schwenkte der Bug den Wellen entgegen. Es gab bei jedem Anprall der See einen dröhnenden Schlag, doch die Gefahr des Kenterns war gebannt.

    Dann löste mich der Bootsführer wieder ab. Im Lee einer kleinen vorgelagerten Felseninsel ging der Seegang leicht zurück, und nun wagte er das Wendemanöver. Das Boot legte sich extrem weit auf die Seite, und ich hielt den Atem an, glaubte schon, wir würden wirklich kentern. Da richtete es sich wieder auf, der Bug zeigte nach Süden, und wir fuhren vor den Wellenfronten her.

    Der Bootsführer musste gut zielen, um bei den heftigen Wellenbewegungen die enge Einfahrt zum Reidsundet zu erwischen, aber so blieb uns der noch gefährlichere Moskstraumen erspart.

    Im ruhigeren Wasser auf der Innenseite der Lofoten fiel die Anspannung von mir ab; mir wurde übel, und ich kauerte mich auf das Deck. Die Franzosen und die norwegische Frau kümmerten sich weiter um den Verletzten und betteten ihn bequem, während der Bootsführer über Funk eine Ambulanz zum Fährhafen Moskenes bestellte.

    Beim Anlegen in Moskenes und während des Abtransports des Verletzten beachtete mich glücklicherweise niemand. Am Holzpier in Å kletterte ich als Erste von Bord. Ich hastete durch den peitschenden Regen, die fleckigen Überreste meines Hemds notdürftig um Kopf und Oberkörper gewickelt, und gelangte zum Tørrfiskmuseum.

    Auf meinem Zimmer zog ich mich aus und trocknete mich kurz ab. Ich hatte nur noch den Wunsch, mich hinzulegen.

    Ich schlief ein wenig, aber die Ereignisse des Tages ließen sich nicht so leicht abschütteln. Daher versuchte ich am Abend herauszufinden, was aus dem verletzten Norweger geworden war. Leider fand ich weder an der Anlegestelle noch im Restaurant Brygga jemanden, der mir etwas darüber sagen konnte. Schließlich stieg ich die Treppe hoch zur Bar. Im Gegensatz zum Restaurant war der gemütliche Raum im Dachgeschoss gut besucht, und fast alle Tische waren besetzt. Es war ein jüngeres Publikum als im Restaurant, und mir schien, hier mischten sich Norweger und Touristen. Das gefiel mir.

    Der junge Mann hinter dem Tresen hatte von dem Unfall bei der Bootstour gehört und deutete auf einen der Tische: »Dort sitzen ein paar Leute vom Museum; vielleicht wissen die mehr.«

    Ich ließ mir ein sündhaft teures Bier zapfen und steuerte den Tisch an, an dem noch ein Stuhl frei war.

    Die Runde schaute auf, und ein junger Mann lud mich ein, Platz zu nehmen, wobei er mich neugierig musterte. Die anderen unterhielten sich zunächst weiter, aber er erzählte mir bereitwillig von seinem Ferienjob hier im Museum und dass er aus Bodø stammte. »Wo kommst du denn her?«, erkundigte er sich dann.

    Ich versuchte, mein dürftiges Norwegisch anzubringen, das ich in dem zweimonatigen Sprachkurs in Trondheim gelernt hatte, aber der Norweger ging gleich zu Englisch über, das alle offenbar gut beherrschten.

    »Ich bin als Touristin hier und habe heute die Bootstour zur Außenseite mitgemacht, bei der sich ein Norweger die Hand verletzt hat. Hast du davon gehört?«

    Er bezog zwei Norwegerinnen, die ebenfalls für das Museum arbeiteten, in das Gespräch ein, und eine davon rief einen Rettungssanitäter, der am Nebentisch saß, herbei.

    »Sverre, ihr habt doch heute Nachmittag an der Pier einen Verletzten abgeholt. Weißt du etwas von ihm?«

    »Das war die Schicht vor mir. Die Kollegen haben ihn nach Leknes gebracht. Eigentlich dürfen wir Außenstehenden keine Informationen geben …«

    Als ich erwähnte, Zeugin des Vorfalls gewesen zu sein, lächelte er und meinte: »Es kann ja nicht schaden, wenn ich dir sage, dass sein Gesundheitszustand bei der Einlieferung in die Klinik stabil war.«

    »Da bin ich aber beruhigt. Seine Verletzung sah grausig aus; ich hatte an Bord noch versucht, die Blutung zu stillen.«

    Sverre kehrte wieder an seinen Tisch zurück. Ich wurde von den Museumsleuten in weitere Gespräche verwickelt, hatte aber den Eindruck, dass Sverre am Nebentisch von mir sprach. Mehrmals streiften mich Blicke von dort. Dabei fiel mir eine junge Frau auf. Sie hatte ein schmales, dreiecksförmiges Gesicht, umschmeichelt von rötlichen Haaren, die als ungebärdige Mähne bis auf ihre Schultern fielen. Vielleicht war sie gar nicht besonders schön, aber sie wirkte souverän und lässig. Mein Herz klopfte, als ihre graugrünen Augen auf mir lagen.

    Ich hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war, und nun war Sperrstunde. Ausgerechnet als ich mir gerade vorgenommen hatte, sie anzusprechen. Der Keeper sperrte die Bar zu und alles begab sich auf den Nachhauseweg.

    Beim Frühstück am folgenden Tag stellte mich der französische Architekt einem anderen Ehepaar vor: »Das ist Sonja Feldhoff aus Deutschland – die Heldin vom gestrigen Bootsausflug.«

    Mir war es peinlich, so tituliert zu werden, aber die Bekannten des Architekten wollten nun alles über die Tour wissen. Es stellte sich heraus, dass es sich um deutsche Touristen handelte, die wie die Franzosen seit Jahren die Lofoten besuchten.

    Als der Franzose mein Interesse an den verlassenen Orten erwähnte, horchte der Deutsche auf: »Ich habe mich mit der Geschichte der Lofoten beschäftigt. Die Außenseite und die Südspitze von Moskenesøya waren früher bewohnt, und es gab einige Ortschaften, die man heute wie damals nur mit dem Boot oder zu Fuß über die Berge erreichen kann.« Er zählte die Namen auf, darunter Ånstad. »Das waren früher alles blühende Fischersiedlungen. Heute sind von diesen Orten außer Grundmauern, verwilderten Gärten und einigen Wegbefestigungen kaum noch Spuren zu finden.«

    Die meisten Anwohner hatten anscheinend bei der Umsiedelung ihre Holzhäuser zerlegt und auf der Innenseite wieder aufgebaut.

    »Vielen, vor allem älteren Umsiedlern fiel die Umstellung schwer. Das Leben in den abgelegenen Dörfern hatte seine Härten, besonders im Winter, aber die Bewohner waren auch frei und unabhängig.«

    »War das denn auf der Innenseite anders?«, fragte ich.

    »Allerdings. Dort gehörte aller Grund und Boden den mächtigen Dorfbesitzern. Die Bewohner auf der Außenseite, aber auch die Leute in Ånstad und Tuv südlich von Å hatten jahrelang vergeblich um Molen, Wellenbrecher und bessere Häfen gekämpft. An Stromversorgung und den Anschluss an das Straßennetz, den berühmten Kong Olafs Veien, war nicht zu denken. Ich frage mich, ob damals alles mit rechten Dingen zuging, oder ob dabei nicht Machtpolitik oder wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielten.«

    Ich fragte speziell nach Ånstad, aber er wusste nur, dass die Bewohner 1949 nach Sørvågen umgesiedelt worden waren – ein Ort, der dem mächtigen Andersson-Clan gehört hat.

    Das Buffet war schon abgebaut worden, und die Bedienung begann aufzuräumen. Die deutschen und französischen Touristen standen auf, und auch ich erhob mich, ehe man mir den Stuhl unter dem Hintern wegziehen konnte. Wir wünschten uns alle einen schönen Tag, und jeder ging seiner Wege.

    Es war inzwischen fast Mittag. Wind und Regen hatten aufgehört, und ich ging zur Tourist-Info. Ich versuchte ein Boot für eine Tour nach Ånstad zu chartern, doch die ältere Mitarbeiterin dort reagierte auf mein Ansinnen seltsam: Zunächst meinte sie, das Wetter sei viel zu schlecht für eine solche Fahrt. Als ich darauf hinwies, dass sich der Sturm gelegt hatte, riet sie mir auf einmal generell davon ab, die verlassenen Orte zu besuchen.

    »Ich muss dich warnen; die Anlegestellen sind unsicher, die Wege dort sind überwuchert und nicht mehr gefahrlos begehbar.«

    An ihrem Revers fiel mir das Namensschildchen Ingrid Andersson auf. Wenn das mal kein Zufall war!

    Am Pier fragte ich den

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