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Theresas Trio
Theresas Trio
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eBook678 Seiten9 Stunden

Theresas Trio

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Über dieses E-Book

Cynthia, eine Musikerin aus San Francisco, reist nach Frankfurt, um ihr Musikstudium in der »Alten Welt« fortzusetzen. Dort lernt sie Theresa, eine Studentin aus Neuseeland, kennen und ist sofort fasziniert von der charismatischen Eurasierin. Sie ist mit Christian, einem angehenden Toningenieur aus Frankfurt, liiert - zeigt sich aber auch offen für die Freundschaft mit Cynthia.
Theresa scheint nach einem Abschluss »summa cum laude« eine große Zukunft offenzustehen. Aber die Hoffnungen erweisen sich als trügerisch - es fällt ihr schwer, im Musikgeschäft Fuß zu fassen. Schließlich landet Theresa in einem neu eröffneten Nachtclub. Sie genießt künstlerische Freiheit und der scheinbare Widerspruch zwischen hoch kunstvoller Barockmusik und sinnlichem Tanz gefällt ihr.
Bei Auseinandersetzungen mit einer verbrecherischen Organisation wird die Clubbesitzerin ermordet und der Club zerstört. Zornig starten die Musikerin und zwei Freunde einen nicht ganz legalen Rachefeldzug, wobei sich Theresa als aggressiv und kaltblütig erweist, wie man es bei einer jungen Musikerin nicht erwartet hätte.
Am Ende müssen die drei vor den Verbrechern und vor der Polizei fliehen - nach Seattle, Vancouver und Alaska. Doch die Vergangenheit holt sie immer wieder ein. So entschließen sie sich zur Rückkehr nach Deutschland und zur Zusammenarbeit mit den Behörden.
Sie bauen sich eine neue Existenz in der Musik-Szene auf und alles scheint sich zum Guten zu wenden. Doch als sie mit ihrer Band auf Amerika-Tournee gehen, tauchen Personen aus der Vergangenheit der Neuseeländerin auf …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Mai 2021
ISBN9783347315211
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    Buchvorschau

    Theresas Trio - Thomas Kirschner

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    Kapitel 1.1

    In einer fremden Stadt

    (Frankfurt am Main, Juni 1994)

    Durch Cynthias Traum woben sich unklare Bilder von blaugoldenen Sphären und gleißenden Gebirgen, in denen sie schwebte. Sie spürte eine leichte Bewegung, eine Drehung, und auf einmal wurde das Licht so grell, dass sie aus dem Traum gerissen wurde und erwachte.

    Aber die Realität nahm nur langsam Gestalt an, und sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie vom Fliegen nicht nur geträumt hatte. Sie befand sich tatsächlich in einem Flugzeug und schaute aus dem Kabinenfenster auf den leuchtend blauen Himmel und die bizarre Wolkenszenerie.

    Sie reckte ihren Körper auf dem unbequemen Sitz, war aber noch nicht ganz wach, spürte nur, dass da etwas war, dass jemand sie ansprach.

    »Gnädige Frau; stellen Sie bitte die Sitzlehne senkrecht. Die Maschine befindet sich in deutschem Luftraum, und das Kabinenpersonal ist angewiesen, die Landung vorzubereiten!« Ohne den genauen Sinn der deutsch gesprochenen Worte zu verstehen, begriff Cynthia, dass sie sich dem Flugziel näherten und der lange Flug, vor dem sie sich etwas gefürchtet hatte, bald vorbei sein würde.

    Die geduldige Stewardess deutete auf den kleinen Lederkoffer, den Cynthia während des gesamten Fluges in ihrer Nähe gehabt hatte. Er enthielt ihre silberne Querflöte, und Cynthia scheute sich, das wertvolle Instrument aus der Hand zu geben. Aber es musste sein, und schließlich wurde das Köfferchen sorgfältig im Gepäckfach über ihrem Kopf verstaut.

    »Anschnallen werde ich mich freiwillig«, murmelte Cynthia und angelte nach dem Gurt. Ihr Top rutschte hoch, und sie erschauerte, als sie das kühle Material an ihrer Haut spürte. Als Model an elegante Kleider gewohnt, hatte sie für den Flug lässige Bluejeans gewählt und nur ihre Seidenbluse zeigte eine gewisse Extravaganz.

    Cynthias Stimmung wechselte von unbestimmbarer Ängstlichkeit zu leichter Euphorie – sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben Amerika verlassen.

    Die Schulen, die sie besucht hatte, die McKinley Elementary School, die Roosevelt Junior High und die International High-School, hatten alle in unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses in Haight-Ashbury gelegen. Sogar das College of Arts & Sciences der University of San Francisco war nicht weit entfernt gewesen. Aber jetzt lag vor ihr absolutes Neuland.

    Als sich die Boeing 757 der Delta Air Lines im Sinkflug dem Frankfurt Airport näherte, spähte Cynthia angestrengt nach unten, sah aber zwischen den Wolkenfetzen nur einen Flickenteppich aus Feldern, Wäldchen und Straßen. Während einer lang gezogenen Steuerbord-Kurve sah sie das Band eines sich in engen Schleifen windenden Flusses, ehe sich dunkelgrüner Wald ins Bild drängte und immer größere Bereiche ihres Blickfeldes einnahm.

    Das Flugzeug tauchte in eine düstere Wolkenschicht ein. Im gespenstischen Halbdunkel huschten Nebelschwaden an den Fenstern vorbei – dann war der Spuk vorbei. Cynthias Blicke wanderten über den waldbedeckten Boden und nahmen am eng gewordenen Horizont eine zusammengedrängte Phalanx aus spektakulären Hochhäusern hinter dem Fluss wahr.

    Unter sich konnte sie nun schon einzelne Bäume unterscheiden, die mit scheinbar zunehmender Geschwindigkeit unter der Maschine vorbeizogen. Ein leichtes Angstgefühl bezwang sie mit ihrer Vernunft. Es war paradox: Die Maschine beschleunigte nicht; es war nur die Annäherung an den Boden, die ihre rasende Geschwindigkeit augenfällig machte. Cynthia meinte schon, die Baumwipfel mit den Händen greifen zu können, dann war kurz eine vielspurige Autobahn zu sehen, die blitzenden Lichter der Landebahn-Befeuerung und – endlich – das breite Asphaltband der Landebahn.

    Beim Kontakt mit dem Boden jaulten die Reifen gequält auf, und aus dem sanften Gleiten des Fluges wurde ein geräuschvolles, raues Rumpeln und Stampfen der Maschine auf dem festen Erdboden.

    Jetzt war sie endgültig wach.

    Es war der 26. Mai 1994, ein Donnerstag, 9:35 Uhr Ortszeit. Cynthia war in Frankfurt angekommen.

    Der Beamte an der Passkontrolle überprüfte mit typisch deutscher Gründlichkeit ihre Papiere; lächelte sie dann aber mit überraschender Freundlichkeit an: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Deutschland, Frau Peterson.«

    Sie folgte den Schildern »Baggage Claim« und gelangte in die Halle der Gepäckausgabe, wo viel Trubel herrschte und Reisende im dichten Gedränge nervös hin- und herliefen. Aber als Amerikanerin war ihr diese Szenerie vertraut, und so wartete sie gelassen auf ihre Koffer. Hier, wo sie fremd war wie alle Reisenden, fühlte sie sich geborgen. Zu Hause war das ganz anders gewesen. Im Kreise ihrer Familie, ihrer Freunde und Bekannten hatte sie immer den Eindruck gehabt, nicht ganz dazuzugehören, nicht in das allgemeingültige Schema zu passen. So war ihr die Heimat fremd geworden.

    Ihr Blick fiel auf die Anzeigetafel, auf der ihr Flug Delta 48 aus Cincinnati zu sehen war, der aber nur den zweiten Teil ihrer Reise darstellte; sie war am Vortag um 10:30 Uhr Ortszeit mit dem Flug Delta 1040 in San Francisco gestartet. Nicht einmal ihrer Schwester Teri hatte sie gestattet, sie zum Flughafen zu begleiten.

    Nach dem spontanen Entschluss, ihre Heimat zu verlassen, hatte sie all ihren Mut aufbringen müssen, um ihre Angst zu überwinden. Aber jetzt, im Moment der Ankunft, fühlte sie sich grenzenlos frei. Sie empfand nur noch Neugier und Vorfreude, und die Gefühle von Unruhe und Ziellosigkeit, die sie zu Hause belastet und umgetrieben hatten, waren verflogen.

    Sie legte ihr stabiles Flöten-Etui auf den Trolley und kramte in ihrem Handgepäck nach dem Material über Frankfurt, das sie in San Francisco zusammengesucht hatte. Den Stadtplan steckte sie in ihre Jackentasche, legte aber den APA-Guide Deutschland zurück in ihren Rucksack. Eine damenhafte Handtasche hätte nicht zu ihr gepasst, aber dieser ebenso praktische wie elegante Designer-Rucksack diente einer ähnlichen Funktion und bot Raum für alle ihre Reise-Unterlagen und Utensilien für unterwegs. Teri hatte ihn ihr als Bordcase zum Abschied geschenkt.

    Viel später, das teure weiche Leder des exklusiven Gepäckstückes war da schon ziemlich abgenutzt, sinnierte Cynthia manchmal darüber nach: Niemand, weder ihre Schwester noch sie selbst, hätte jemals vorhersehen können, was ihr bevorstand, was sie alles mit diesem kompakten Rucksack durchmachen würde …

    Ihre beiden Samsonites erschienen auf dem Gepäckband, und Cynthia wuchtete sie herunter. Nervös öffnete sie einen der Hartschalenkoffer, in dem ein Geigenkasten den größten Raum einnahm, und stellte erleichtert fest, dass ihre ehrwürdige Violine unbeschädigt war. Sie stapelte die Koffer auf ihren Trolley. Das Gepäck erschien ihr wenig genug; es stellte schließlich fast ihren ganzen Besitz dar, den sie in ihr neues Zuhause mitgebracht hatte.

    Energisch schob sie ihren störrischen Gepäckwagen voran, durch den Zoll, den sie problemlos passierte, zum Ausgang. Hinter den automatischen Schiebetüren kam sie in die Ankunftshalle, wo viele Reisende von Freunden oder Verwandten abgeholt wurden, und nun gab es ihr doch einen Stich, als ihr bewusst wurde: Hier wartet niemand auf mich; hier bin ich allein.

    Gleichwohl lag die Aufmerksamkeit fremder Männer und Frauen auf ihr, und Cynthia wusste nicht, ob sie das stören sollte. Sie fühlte sich auf dem Präsentierteller – dabei schmeichelten die bewundernden Blicke durchaus ihrer weiblichen Eitelkeit. Stolz war sie auf das pinkfarbene Top, welches sie selbst gestaltet und mit Hilfe einer befreundeten Schneiderin in San Francisco angefertigt hatte.

    Sie straffte ihre Schultern und ging zum Informationsschalter, um sich ein Quartier vermitteln zu lassen. Dabei kam sie gut mit ihrem Englisch zurecht; sie hatte sich vorgenommen, ihre Deutschkenntnisse von der Schule einzusetzen, verschob das jedoch auf später. Man war sehr nett zu ihr, und sie kam im Steigenberger Airport Hotel unter.

    Sie war froh, die Tür des Hotelzimmers hinter sich schließen zu können, und genoss die Ruhe in dem komfortabel ausgestatteten Raum. Das Hotel lag am Waldrand; als sie auf den Balkon trat, blickte sie auf endlose Reihen dunkelgrüner Bäume und sog gierig die frische Luft ein. Plötzlich fröstelte es sie in ihrer dünnen Bluse, und sie ging wieder hinein. Auf einmal war sie so müde, dass sie sich, wie sie war, aufs Bett legte und von einem Augenblick zum anderen eingeschlafen war.

    Als sie aufwachte, hatte sie zunächst Schwierigkeiten sich zurechtzufinden. Erst mit der Zeit wurde ihr klar, dass sie sich tatsächlich in Deutschland befand. Mit einem Mal kehrten die Gefühle von Aufregung und Vorfreude zurück, und sie befand sich nun in der richtigen Stimmung für eine Entdeckungstour.

    Sie zog Jeans, eine helle Bluse, hohe Stiefel und eine Lederjacke an und fühlte sich so gut gerüstet für alles, was auf sie zukommen mochte. Im Flughafengebäude, am Stand einer Autovermietung, ließ sie sich ein Auto geben. Es war ein Achtzylinder-BMW, mit dem sie auf Anhieb gut zurechtkam. Der Wagen gefiel ihr, er war im Gegensatz zu den großen amerikanischen Autos, die sie kannte, kompakt und handlich.

    Cynthia orientierte sich auf der Straßenkarte, die sie im Handschuhfach vorgefunden hatte, und machte sich auf den Weg in Richtung Stadtzentrum. Auf der berühmt-berüchtigten Autobahn – ohne die aus den USA gewohnte Geschwindigkeitsbegrenzung – fuhr sie zunächst sehr vorsichtig, aber die Straßen waren leer; sie genoss den Schub des starken Motors, und auf einmal zeigte der Tacho 200 km/h!

    Zu Hause dürfen wir nur 55 Meilen fahren, nun geht’s mit 125 mph dahin, und ich bin noch nie in meinem Leben schneller als 70 gefahren, dachte sie schockiert und bremste kurz, gab dann aber entschlossen wieder Gas.

    Sie bog bei der Ausfahrt Frankfurt West ab und gelangte in das Stadtzentrum, wo sie eine improvisierte Rundfahrt ohne festes Ziel unternahm. Sie verfuhr sich ständig, musste öfters anhalten und wenden und irritierte damit unzählige deutsche Autofahrer, bekam aber einiges von der Stadt zu sehen. Frankfurt gefiel ihr: Diese Mischung aus Alt und Neu, dieses Nebeneinander von modernen Hochhäusern und idyllischen Plätzen. Die Innenstadt war großzügig und vielfältig gestaltet, aber noch überschaubar.

    Doch schon bald verflog ihre Euphorie, und erneut machte sich Müdigkeit breit. Plötzlich hatte sie nur noch den Wunsch, sich in ihr Hotelzimmer zurückzuziehen. Sie fuhr zum Flughafenhotel zurück und legte sich hin. Es war später Nachmittag.

    Mitten in der Nacht wurde sie wach; sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. Bis zum Morgen wälzte sie sich im Bett herum, tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf, und ihre Gefühlswelt geriet völlig durcheinander.

    Vom Frühstücksbüffet des Hotels nahm sie nur sparsam. Ungeachtet ihrer Müdigkeit fuhr sie wieder in die Stadt, musste aber am Steuer ihres Wagens volle Konzentration aufbieten, da Lethargie sie zu überwältigen drohte. Das Wetter war nun der Jahreszeit entsprechend sommerlich, was aber ihre traurige Stimmung nicht zu ändern vermochte.

    Energisch beschloss sie, die nächstliegenden Probleme anzugehen, begab sich ins Zentrum Frankfurts zu dem historischen Römerberg und ließ sich in der Touristen-Information ein Privatquartier im Westend vermitteln. Schon am Telefon bekam sie von der Vermieterin eine Zusage für das Zimmer, das aber erst in fünf Tagen, zum Monatsersten, frei werden sollte. Ein Antrittsbesuch war nicht erforderlich; offenbar klang die Auskunft »24-jährige Studentin aus Amerika« vertrauenerweckend genug.

    Notgedrungen gönnte sich Cynthia ein paar weitere Tage im Luxus des Flughafenhotels und behielt auch den Mietwagen. Den Gedanken an ihren Kontostand verbot sie sich.

    Sie schlief auch in den nächsten Nächten schlecht. Einmal stand sie mitten in der Nacht auf, zog sich an, nahm ihr Flöten-Köfferchen und ging hinaus in die Dunkelheit. Der Nachtportier wunderte sich über die einsame, melancholisch wirkende, junge Frau mit ihrem kleinen, schwarzen Lederbehälter, kümmerte sich aber nicht weiter um sie.

    In der Ferne waren startende und landende Flugzeuge zu hören, und der Widerschein des Flughafens erhellte den Himmel, aber im Wald war es stockfinster und ruhig, nichts regte sich. Sie empfand keine Angst, was sie selber erstaunte, und fühlte sich zwischen den hoch aufragenden Fichten merkwürdig geborgen. Sie erinnerte sich an Jagdausflüge mit ihrem Vater, an die Wälder der King Range Wilderness in Nordkalifornien und an die Pirsch auf Rotwild. Was waren das für herrlich unbeschwerte Zeiten gewesen, dachte sie, und warum war meine Abenteuerlust die ganzen Jahre erloschen? Musste sie erst nach Deutschland reisen, um wieder frei und mutig zu werden?

    Cynthia kauerte sich an den Wegesrand und packte ihr Musikinstrument aus. Die Handgriffe zum Zusammensetzen der Querflöte beherrschte sie im Schlaf und mit geschlossenen Augen; dann setzte sie das kühle, silberne Instrument an die Lippen. Mit einem Mal war ihr Geist wie verwandelt, alle Unsicherheit verflogen, es existierten nur noch sie und die Töne, die sie spielte. Die sanften, sinnlichen Klänge der Flöte verhallten ungehört im Wald, aber für Cynthia tat sich eine Welt der Noten, der Musik auf, in der klare Verhältnisse herrschten, in der sie sich zurechtfand, in der sie wahres Glück und Befriedigung finden konnte.

    Am Tag darauf packte sie, bezahlte ihr Zimmer und gab den Mietwagen am unterirdischen Terminal zurück.

    Es kam viel Neues auf sie zu, was sie lernen und worauf sie sich einstellen musste. Sie musste das Tarifsystem verstehen, damit sie an der S-Bahn ihre Fahrkarte in die Stadt lösen konnte; sie musste sich in dem Labyrinth unterhalb der Hauptwache zurechtfinden, an einer Informationstafel die Adresse ihrer Wohnung finden und ihren Stadtplan mit dem Verkehrslinienplan abgleichen. Ihr kleines Zimmer im Westend befand sich in einem Altbau mit einem riesigen Flur und knarrendem Parkett.

    Die Vermieterin sprach zwar nur gebrochen Englisch, bemühte sich aber sichtlich um Freundlichkeit. Als sie aber die speziell geformten Köfferchen ganz richtig als Behälter für Musikinstrumente identifizierte, fühlte sie sich zu einem mahnenden Hinweis auf die Ruhezeiten und die Einhaltung der Zimmerlautstärke bemüßigt. Es war tatsächlich kaum ein Laut zu hören. Offensichtlich gab es weitere an Studenten vermietete Zimmer, aber es schien niemand anwesend zu sein. Nur eine kleine silbergraue Katze lief gerade durch den Flur und quetschte sich durch den Türspalt in eines der Nachbarzimmer.

    Angesichts Cynthias Lächeln sagte die Vermieterin: »An sich erlaube ich keine Haustiere hier, aber bei diesem süßen Kätzchen habe ich eine Ausnahme gemacht.«

    Cynthia ging in ihr Zimmer, packte aus und versuchte, es sich mit ihren wenigen Habseligkeiten wohnlich zu machen. Sie blieb jedoch nicht lange im Zimmer. Ihr fiel ein, wie sie in der Nacht im Wald Flöte gespielt und welchen Trost sie daraus gezogen hatte. So ging sie in die Stadt und erstand einen tragbaren CD-Player mit Verstärker und kompakten Aktiv-Boxen.

    Auf einmal passte das warme Sommerwetter zu ihrer Stimmung, und sie lief durch die City, schwer bepackt zwar mit ihren Einkäufen, aber gelöst und glücklich. Sie ließ sich treiben, folgte den Menschenströmen, kam ans Mainufer, überquerte den Fluss auf einer hypermodernen Fußgängerbrücke und ließ sich im Gras nieder. Im Schatten eines niedrigen Baumes lehnte sie sich an den Stamm und sah sich um. Neben ihr aalten sich die verschiedensten Menschen in der wärmenden Spätnachmittagssonne am Flussufer: Geschäftsleute, die in ihren Anzügen mit gelockerten Krawatten ihren Feierabend genossen, lässig gekleidete Menschen, die in ihre Lektüre vertieft dalagen, mit ihren Partnern sprachen oder in Gruppen diskutierten, und junge Sonnenanbeter, die teils halbnackt an der Böschung lagerten. Mit plötzlichem Mut legte sie ihre Bluse ab und ließ die Sonne an ihre Haut, wagte aber nicht, sich ganz zu entblößen, obwohl es warm genug gewesen wäre.

    Sie musste ein wenig geschlafen haben, denn die Sonne stand schon schräg im Westen, als sie ihre Einkäufe auspackte, die Batterien in das neue Gerät einlegte und eine Begleit-CD laufen ließ. Die silberne Querflöte fühlte sich gut an, und ihr Herz wurde weit, als sie die ersten Töne behutsam hervorbrachte. Völlig versunken in Melodie, Harmonik und Struktur von Johann Sebastian Bachs zweiter Orchestersuite vergaß sie die Umgebung total.

    Sie bemerkte nicht, dass Menschen bei ihr stehen blieben und sogar einige Radfahrer auf dem Mainuferweg anhielten, um der jungen blonden Frau mit der Querflöte zuzuschauen und ihrer Musik zu lauschen.

    Am Nachmittag erschien vor ihrem Quartier ein großer Kastenwagen mit der typisch dunkelbraun-goldenen UPS-Lackierung: Ihre weiteren Instrumente waren aus Amerika eingetroffen!

    Cynthia amüsierte sich über den überrascht-schockierten Gesichtsausdruck der Vermieterin, als sie die Viola da Gamba und die Oboe an ihr vorbei in das Zimmer trug. Jetzt hatte sie ihren Plan wieder im Fokus, hier in Frankfurt das Musikstudium fortzusetzen und ihre Fertigkeiten auf diesen Instrumenten zu vervollkommnen.

    Gleich am nächsten Tag begab sie sich zur Hochschule für Musik und darstellende Kunst in der Eschersheimer Landstraße. Sie fragte sich zur Hochschulverwaltung durch, wo sie einer Mitarbeiterin ziemlich auf die Nerven ging, bis sie sich für den Rest des Sommersemesters als Gasthörerin einschrieb. Cynthia nahm sich vor, das Beste aus den verbleibenden sieben Wochen zu machen. Obwohl sie mehr als die Hälfte des Semesters verpasst hatte, konnte sie aufgrund ihrer Vorkenntnisse den Vorlesungen, Kursen und Seminaren gut folgen.

    Sie fühlte sich unter den Studenten sehr wohl: Entgegen dem Eindruck, der ihr in Amerika vermittelt worden war, fand sie ihre deutschen Kommilitonen aufgeschlossen, locker und offen. Auch als Ausländerin fühlte sie sich schon bald von den meisten voll akzeptiert. Ihr Bemühen, Deutsch zu sprechen, wurde anerkannt, und man merkte bald, wie wenig sie dem Klischee einer typischen Blondine und naiven Amerikanerin entsprach.

    Neben den Vorlesungen besuchte sie die Klassen für Querflöte und Violine, obwohl es unüblich war, im laufenden Kurs einzusteigen. Im Verlauf der ersten Stunden konnte sie die Lehrer, die einer hübschen Gaststudentin aus Amerika nicht viel zugetraut hatten, von ihrem großen Talent überzeugen. Das moderne Gebäude der Hochschule bot in der fünften und obersten Etage ausreichend Übungsräume mit guter Schallisolierung, und sie war täglich dort, um mit ihren Instrumenten zu arbeiten.

    Allmählich begann sie sich in dieser Stadt heimisch zu fühlen. Die Skyline war selbst für amerikanische Verhältnisse eindrucksvoll, und doch war die Stadt so kompakt, dass selbst in fußläufiger Entfernung vom Zentrum erschwingliche Zimmer wie ihres zu bekommen waren. Überrascht stellte sie fest, dass sie für ihr alltägliches Leben in Frankfurt kein Auto benötigte.

    Einmal kam Cynthia nach einem anstrengenden Tag in der Hochschule nach Hause. Sie schloss die Tür ihres Zimmers auf und genoss es, endlich allein zu sein und sich ausruhen zu können. Während sie es sich bequem machte, fiel ihr auf, dass sie so allein gar nicht war: Charly schlief auf der Couch. Der junge, silbergraue Kater, der Cynthias Nachbarin gehörte, zuckte mit einem Ohr, als sie ihn rief. Charly sprang auf und piepste.

    »Charly! Eine Katze macht miau und piepst nicht«, belehrte sie ihn.

    »Mäh«, antwortete er schnurrend und tapste zur Küche. Cynthia gab es auf, dem Kater die Katzensprache beibringen zu wollen, und ging ins Bad.

    Als es klopfte, eilte sie zur Tür: »Komm rein, Susan!«

    Susanne, von Cynthia Susan genannt, war ihre erste richtige Freundin hier in Frankfurt, und Cynthia mochte sie sehr. Daher hatte sie auf Kater Charly aufgepasst, während Susan übers Wochenende weg gewesen war.

    Die Nachbarin studierte gleichfalls Musik, und Cynthia hatte schon ein hervorragendes Klavier-Vorspiel von Susan bei ihrem Professor gehört. Sie sprachen über die Hochschule, die Atmosphäre dort und über ihre Mitstudenten.

    Susan erzählte von einer anderen Ausländerin, die als großes Talent galt und die Meisterklassen für Orgel und Cembalo belegt hatte: »Sie ist eine auffallende Erscheinung: hochgewachsen und athletisch, eine Eurasierin mit langen schwarzen Haaren. Und vor allem finde ich sie als Musikerin absolut großartig.«

    Susan war so begeistert, dass Cynthia an der Hochschule nach der exotischen Studentin Ausschau hielt. Ein erfahrener Kommilitone aus ihrem Querflöten-Kurs wusste auf Nachfrage sofort, wen sie meinte, sagte aber nur: »Ich weiß nicht; manche halten sie für ein Genie, andere finden sie einfach nur arrogant, und auch die Professoren sind sehr geteilter Meinung.«

    Cynthia hörte sich um. In einem Mikrokosmos wie der Hochschule war es unvermeidlich, dass über alles und jeden geschwätzt wurde. Und über die eurasische Organistin kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte. Sie sei eine begnadete Künstlerin, aber ein schwieriger Charakter mit fragwürdigem Lebenswandel. Man munkelte sogar, sie habe ihre ach so paradiesische Heimat nicht freiwillig verlassen, und es gäbe dunkle Punkte in ihrer Vergangenheit.

    Aber damit war Cynthias Neugier erst recht geweckt.

    Trotzdem bekam sie die Organistin und Cembalistin zunächst nicht zu Gesicht. Nur einmal bemerkte sie zufällig eine Studentin im Cembalo-Übungsraum, auf die Susans Beschreibung passte, war aber in diesem Moment selber zu sehr in Eile und hatte keine Gelegenheit, sie anzusprechen.

    Doch dann sah Cynthia die Studentin in einer überfüllten Innenstadt-Kneipe mit dem originellen Namen »Zu den 12 Aposteln«. Nach einer Vorlesung in Musikgeschichte hatte sie, getrieben von einer unbestimmbaren inneren Unruhe, nicht wie sonst den Heimweg angetreten. Stattdessen war sie der früheren Empfehlung einiger Kommilitonen gefolgt und in das Keller-Lokal gegangen, das offenbar ein beliebter Studenten-Treff war.

    Es war sehr laut und sehr voll; sie sah sich nach einem freien Platz um, da fiel ihr Blick auf zwei Gäste, die zusammen an einem großen Tisch saßen – mitten im Trubel, aber doch sonderbar isoliert, wie in eine eigene Welt abgetaucht. Cynthia erkannte die Eurasierin sofort; ihren Begleiter hatte sie dagegen noch nie gesehen. Die junge Frau saß lässig und anmutig da, ohne bewusst zu posieren, aber mit einer schwer definierbaren, fesselnden Ausstrahlung. Sie führte gerade das Glas an den Mund, als sie ihren Blick hob und Cynthias Interesse bemerkte: Mit ihren leicht schräg stehenden Augen in einem merkwürdig leuchtenden Blau musterte sie die Amerikanerin intensiv. Cynthia begann sich schon unbehaglich zu fühlen, als sich die geheimnisvolle Schönheit wieder abwandte. Mit einer heftigen Bewegung warf sie eine widerspenstige Strähne ihrer langen, etwas wirren Mähne aus dem Gesicht. Die tiefschwarze Haarfarbe, der dunkle Teint, dazu die leichte Mandelform der Augen – alles deutete auf die Abstammung hin, von der Susan erzählt hatte.

    Unentschlossen, zögernd stand Cynthia an der Theke. Tatsächlich waren alle Tische des Lokals besetzt, und nur an dem Tisch der beiden war noch ein Platz frei; sie holte tief Luft und trat näher. In dem erregten Gespräch trat eine Pause ein und die Studentin bot ihr den freien Stuhl an. In ihrer Verwirrung reagierte Cynthia zunächst nicht, und das Mädchen lächelte. Dies veränderte das unnahbar ernste Gesicht auf verblüffende Weise und machte einem Ausdruck von Wärme und Freundlichkeit Platz.

    Cynthia setzte sich und hatte noch kein Wort gesprochen, da erschien bereits ein Kellner. Sie räusperte sich und bestellte in hölzernem Deutsch einen Softdrink. Das Pärchen setzte sein Gespräch fort, während Cynthia ihr Getränk bekam und sich zu entspannen versuchte. Die Musik in der Kneipe war so laut, dass sie nicht verstehen konnte, worüber die beiden sprachen, aber so konzentriert, wie sie dabei wirkten, war es wohl auch keine belanglose Plauderei. Sie kamen offenbar zu einem Abschluss. Das Mädchen lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, eine graziöse Geste, mit der sie ihre Brüste anhob. Der junge Mann hob sein Glas, und plötzlich fiel sein Blick wieder auf Cynthia – er lächelte.

    Sie gab sich einen Ruck: »Ich wollte eure angeregte Unterhaltung nicht stören, aber …«

    Das Mädchen winkte ab: »Wir haben nur gerade über Musik gesprochen, genauer gesagt über norddeutsche Orgelmusik aus dem 17. Jahrhundert, aber unsere Diskussion war ohnehin gerade zu Ende.«

    Cynthia vergaß den Text, den sie sich zurechtgelegt hatte, und fragte stattdessen: »Ich komme gerade von der Musikhochschule. Seid ihr auch Musikstudenten?«

    Der Junge verneinte für sich, aber das Mädchen bestätigte: »Meine Hauptfächer sind Orgel und Cembalo. Ich studiere schon drei Semester in Frankfurt, aber dich habe ich noch nie gesehen.« »Das ist kein Wunder, ich bin erst ein paar Tage hier.«

    »Es wäre auch unverzeihlich, wenn wir dich übersehen hätten.« Trotz des leicht spöttischen Untertons freute sich Cynthia über das versteckte Kompliment.

    Das Mädchen sprach ein perfektes Deutsch, aber ihr leichter Akzent klang nach einem angelsächsischen Land. Amerika schloss Cynthia aus. Eurasierin konnte viel bedeuten.

    »Kommst du aus England?«

    »Nein, meine Heimat liegt etwas weiter entfernt.«

    Das schöne Gesicht nahm einen melancholischen Ausdruck an: »Ich komme vom anderen Ende der Welt, aus Neuseeland.« Es entstand ein kurzes Schweigen, ehe Cynthia ihren Begleiter ansprach: »Auch, wenn du kein Musikstudent bist, scheinst du doch sehr an Musik interessiert zu sein.«

    »Ich habe ein Studium der Elektrotechnik abgeschlossen, aber Musik war mir immer sehr wichtig. So liegt mein berufliches Hauptinteresse bei der Musikelektronik. Leider spiele ich kein Instrument.«

    »Bei Musikelektronik denke ich aber nicht automatisch an Orgelkomponisten aus der Barockzeit.«

    Er lächelte: »Die Orgelmusik dieser Epoche ist auch nach heutigen Maßstäben rhythmisch, tonal und dynamisch hochkomplex und richtig progressiv.«

    Die drei unterhielten sich angeregt über die Musikbranche, über alte und neue Musik und die Rolle der Technik, der Elektronik. Cynthia fiel auf, dass der junge Mann zu fast jedem Thema eine abgewogene, fundierte Meinung beitragen konnte. Sie sprachen meist Deutsch miteinander, aber da Cynthia viele deutsche Fachbegriffe fremd waren, wichen sie oft auf Englisch aus, das auch der deutsche Student sehr gut beherrschte. So ergab sich eine lustige Mischung aus beiden Sprachen.

    Erfreut registrierte Cynthia die Aufgeschlossenheit und Intelligenz der beiden, sie fühlte sich rundum wohl in ihrer Gesellschaft. Es herrschte zwischen ihnen so viel Vertrautheit und Zuneigung, dass die Amerikanerin annahm, sie seien ein Liebespaar. Trotzdem fühlte sie sich nicht ausgeschlossen und hatte das Gefühl, als Freundin akzeptiert zu werden.

    Ihr war gar nicht bewusst, wie schnell die Zeit vergangen war; sie blickte auf, als die Musik abgeschaltet wurde, und sah, dass sie die letzten Gäste waren. Der Wirt erschien und sagte: »Es tut mir leid, euch zu stören, aber ich will jetzt Schluss machen.«

    Die Eurasierin schmollte etwas, aber dann zahlten sie und brachen auf. Zusammen gingen sie durch die Anlagen, der Wind rauschte über ihnen in den Wipfeln der Bäume. Während sie durch die kühle Nacht nebeneinander herliefen, sprachen sie kaum ein Wort, aber in der Stille war keine Verlegenheit zu spüren – eher eine vertrauensvolle Ruhe in einem gegenseitigen Verständnis. Ihre Wege trennten sich.

    Erst als Cynthia ihre Haustür aufschloss, fiel ihr ein, dass sie nicht einmal die Namen der beiden erfahren hatte. Als sie auseinandergegangen waren, hatten sie einfach »Bis morgen« gemurmelt. Daraus schloss sie, dass sie sich entweder in der Hochschule oder spätestens abends in dem Lokal wiedertreffen würden.

    Sie lag die halbe Nacht wach und dachte an diesen Abend zurück. Sie war erregt und aufgewühlt, und die intensiven Gefühle, die das Mädchen in ihr ausgelöst hatte, überraschten und irritierten sie.

    Ihr Begleiter war doch sicher ihr Freund. Konnte sie sich überhaupt Hoffnungen machen?

    In der Musikstunde am Tag darauf verspielte sich Cynthia bei ihrem Flötenpart immer wieder. Normalerweise beherrschte sie die Orchestersuite von Bach vollkommen, aber jetzt hatte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Ihr Lehrer war erstaunt, aber angesichts ihrer schuldbewussten Miene sah er von Kritik ab und meinte nur: »Das scheint heute nicht Ihr Tag zu sein. Spielen wir doch jetzt lieber etwas von Telemann; der Bach klappt nächstes Mal bestimmt wieder.«

    Die unterhaltsamen Sätze aus der Wassermusik mit ihrer tänzerischen und lustigen Tonmalerei fielen ihr leicht. Nur bei der Bourrée »Die erwachende Thetis« und der Loure »Der verliebte Neptun« dachte sie an die beiden Studenten. Würde sie die zwei überhaupt wiedersehen oder würde bei ihrer nächsten Begegnung Ernüchterung eintreten?

    Am Nachmittag war sie schon früh in dem Lokal, das bei Weitem noch nicht so gut besucht war wie am Vortag, und wartete eine ganze Weile mit steigender Nervosität. Als die Studentin mit ihrem Begleiter auftauchte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, obwohl sie sich vorgenommen hatte, diesmal kühlen Kopf zu bewahren und den beiden mit einer gewissen zynischen Distanz gegenüberzutreten. Sie schienen Cynthia nicht zu bemerken und als sie in der Nähe ihres Platzes vorbeikamen, sagte die Eurasierin laut vernehmlich zu ihrem Freund: »Diesmal sind aber viele Tische frei, da braucht man sich nicht mit Fremden zusammenzusetzen.«

    Sie blieben aber dann doch stehen. Der junge Mann wandte sich Cynthia zu, grinste angesichts ihres Gesichtsausdrucks, und sagte: »Lass dich nicht hochnehmen!«

    Er zog zwei Stühle heran und fragte betont förmlich: »Ist hier noch frei?«

    Sie nickte, und die beiden setzten sich zu ihr. Ungewohnt redselig meinte der Junge: »Mir ist eingefallen, dass wir gar nicht wissen, wie du heißt. Und wir haben, glaube ich, auch unsere Namen bisher nicht erwähnt.«

    Die Eurasierin übernahm das Wort: »Mein Freund heißt Christian Keller, und mein Name ist Theresa Themis.« Die beiden sahen sie fragend an.

    »Ich bin Cynthia Peterson.«

    Die eigene Stimme klang ihr fremd, so befangen war Cynthia gegenüber Theresa, der sie unbedingt gefallen wollte. Sie trug eine auffällige türkisfarbene Bluse und setzte sich in Positur, aber das erhoffte Kompliment kam von Christian, nicht von Theresa. Ihr schienen solche Äußerlichkeiten nicht so wichtig. Erst als Cynthia sagte, das Design stamme von ihr, schaute Theresa auf und blickte sie wohlwollend an.

    Theresa winkte den Kellner herbei. Hastig blätterte Cynthia in der Weinkarte und entdeckte einen teuren neuseeländischen Chardonnay. Heiser vor Nervosität fragte sie: »Darf ich eine Runde ausgeben? Seid ihr mit einem Weißwein einverstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, orderte sie eine Flasche.

    Noch während Theresa und Christian sie groß anschauten, eilte der Kellner davon, um eine Flasche und einen Weinkühler zu holen.

    »Ich liebe Chardonnay«, meinte die Neuseeländerin. Sie bemerkte, dass dieser Wein von einem Weingut ihrer Heimat stammte, und schaute Cynthia erfreut an: »Sogar aus Neuseeland! Eine sehr gute Wahl, Cynthia.«

    Zu Hause in Amerika – in ihrem früheren Zuhause, korrigierte sie sich in Gedanken – hatte Cynthia ihre wahren Empfindungen verleugnet. Jetzt, hier in Deutschland, in einem fremden Land, wurde sie mutiger: Ohne Scheu betrachtete sie das dunkelhaarige Mädchen, das ihr so sehr gefiel, und suchte geradezu nach einem Makel. Aber das blasse Wundmal, das sie an Theresas Schläfe entdeckte, machte sie in Cynthias Augen noch anziehender. Andere hätten Theresa vielleicht nicht einmal besonders attraktiv gefunden – nicht nur wegen der entstellenden Narbe: Ihr Gesicht war schmal und apart, eher hohlwangig mit einem zu breiten, sensiblen Mund, mit markantem Kinn, gerader Nase und scharf gezeichneten, dichten Augenbrauen. Ihre Augen hatten eine strahlend blaue Farbe, und Cynthia spürte eine bemerkenswerte Intensität in ihrem Blick. Jegliche Modetrends ignorierend, trug sie verwaschene, enganliegende Bluejeans, in denen sie nicht sonderlich feminin wirkte, dazu war sie zu schlank und schmalhüftig und hatte zu breite Schultern und ausgeprägte Muskeln.

    Cynthias Blick wanderte zu Theresas Begleiter; er war schlank und groß, aber nicht im eigentlichen Sinne gutaussehend. Ein widerspenstiger, dunkler Lockenschopf kräuselte sich über einem interessanten Gesicht; er saß locker da, seine Bewegungen waren geschmeidig und lässig. Es fehlte ihm aber jegliches Macho-Gehabe, wie sie erleichtert registrierte. Sie hätte ihm gegenüber Eifersucht empfinden müssen, fand ihn aber, beinahe widerwillig, sympathisch.

    Sie konzentrierte sich auf das Gespräch. Die drei wandten sich ernsteren Themen zu und unterhielten sich mit einer Harmonie und Offenheit, die es ihr leicht machten, auch sehr persönliche Dinge preiszugeben. Nach ihrer Herkunft gefragt, berichtete sie von ihrem wohlhabenden Elternhaus in San Francisco: »Ich hatte eine ziemlich sorgenfreie Jugend. Ich muss nur gestehen, dass ich das normale Leben in meinem direkten Umfeld ziemlich langweilig fand. Schon als Kind wurde mir immer wieder gesagt, dass ich gut aussehe; aber meine Interessen beschränkten sich nicht auf Schönheit, Mode, Kosmetik und Jungen, wie bei vielen meiner Mitschülerinnen. Im Vordergrund stand für mich die Musik, wenn auch eine ganz andere als die allgegenwärtigen Chart-Songs. Meine Welt war schon damals die Alte Musik. Von klein auf spielte ich mehrere Instrumente und das durchaus ambitioniert – voller Fleiß und Ehrgeiz, was aber niemand in meiner Umgebung ernst nahm, nicht einmal meine Eltern. Wenigstens finanzierten sie meinen privaten Instrumentalunterricht.«

    Theresa lächelte: »Ich hatte da mehr Glück: Meine Mutter ist genauso musikbegeistert wie ich. Sie hat mir viel geholfen, auch wenn es in Auckland nicht sehr viele Möglichkeiten für mich gab.« »Du sprichst nur von deiner Mutter. Was ist mit deinem Vater?« Leise antwortete sie: »Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben.« Obwohl Cynthia sie fragend anblickte, sprach Theresa nicht weiter. Um das entstandene Schweigen zu überspielen, fragte Christian nach Cynthias weiterem Werdegang, und sie erzählte von ihrem Musikstudium in Amerika.

    »Ich glaube, ich bin mit meiner Querflöte und der Oboe inzwischen ziemlich gut.«

    Sie zögerte kurz: Überschätzte sie sich nicht? Nein, diese Instrumente beherrschte sie wirklich perfekt. Sie fuhr fort: »Aber meine Fertigkeiten auf der Violine und der Viola da Gamba sind sicher noch verbesserungsfähig.« Sie lächelte bei diesen Worten; etwas Understatement war dabei, aber Amateurniveau reichte ihr nicht mehr. Sie wollte sich weiterentwickeln und war genau deshalb nach Deutschland gekommen.

    Sie sprachen eine Weile über ihre Musikinstrumente und über die Art von Musik, die Cynthia bevorzugte. Theresa und Christian zeigten so viel Interesse und Zuneigung, dass sie ohne Scheu ihre ganze Lebensgeschichte vor ihnen ausbreitete. So berichtete Cynthia von ihrem Studium, von ihren Anstrengungen, um den höchsten professionellen Ansprüchen zu genügen, und von dem Abschluss »Major in Performing Arts« an der University of San Francisco.

    »An sich waren meine Ergebnisse ziemlich gut«, erzählte Cynthia und spürte immer noch die Bitterkeit ihrer damaligen Enttäuschung. »Trotzdem hatte ich nicht die geringsten Chancen, mich als professionelle Musikerin zu etablieren.« Sie schluckte und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein, ehe sie mit gespielter Munterkeit fortfuhr: »Vielleicht hatte ich zu viel erwartet, aber ich konnte einfach kein seriöses Engagement finden. Natürlich habe ich in kleineren Gruppen gespielt, aber da war nichts, was eine echte berufliche Zukunft versprochen hätte. Deshalb nahm ich zwischenzeitlich ganz andere Jobs an.«

    Sie zögerte, das zu erwähnen: »Ich arbeitete als Fotomodell, unter anderem für das Magazin Penthouse. Auf diese Fotoserie war ich sehr stolz, aber sie brachte mir prompt Ärger mit meinen etwas prüden Eltern ein.«

    In Gedanken durchlebte sie noch einmal die deprimierende Stimmung und die Ziellosigkeit dieser letzten Zeit zu Hause. »Bald darauf – quasi als Fluchtreaktion – entschloss ich mich, mein Musikstudium in Deutschland fortzusetzen.«

    Es entstand eine kurze Pause in dem Gespräch.

    »Jetzt haben wir aber genug von mir geredet«, sagte Cynthia. »Wie war es denn bei dir in Neuseeland, Theresa?«

    Theresa zögerte: »Hm, eigentlich ganz normal: Mutter schickte mich nach Wellington in ein Internat mit gutem Ruf, wo ich meinen Schulabschluss machen sollte. Dort kam ich aber nicht so gut zurecht. Ich galt als eine Art Wunderkind und wurde von meinen Lehrern gefördert, was meine Mitschüler eher gegen mich aufbrachte. Ich hatte ohnehin einen schweren Stand. Die meisten Schüler waren in ihrer blasierten Art typische Vertreter der weißen Oberschicht. Ich als Eurasierin, als Farbige und Mischling, war für sie minderwertig. Rassismus gab es auch im Neuseeland der Achtzigerjahre.«

    Sie dachte lange nach, ehe sie weitersprach: »Ich bin dann aus anderen Gründen vom Internat geflogen. Später habe ich in Auckland auf einer normalen Schule meine Prüfungen nachgeholt und recht erfolgreich Musik studiert.«

    Christian ergänzte: »Theresa hat ausgelassen, dass sie mit ihrem großen Talent an der Musikhochschule für großes Aufsehen gesorgt und den Abschluss ›Master of Music‹ mit Auszeichnung gemacht hat.«

    Theresa lächelte: »Na ja. Die Leute dort meinten wohl, ich sei recht talentiert, und sie empfahlen mir eine Fortsetzung meines Studiums im Ausland. Ich entschied mich aus mehreren Gründen für Deutschland: Die Musikhochschulen haben einen ausgezeichneten Ruf und viele bedeutende Komponisten der Barockmusik lebten hier. Außerdem hatte ich während meines Studiums ganz gut Deutsch gelernt und begonnen, mich für das Land zu interessieren.«

    Das Lokal war inzwischen gut gefüllt. Während der Kellner die letzten Reste des neuseeländischen Chardonnay auf ihre drei Gläser verteilte, lästerten die beiden über Outfit und Attitüde einiger versnobter Yuppies, die am Tresen standen und sich offenbar furchtbar toll fanden.

    »Jetzt lenke nicht ab, Chris«, grinste Cynthia. »Nun bist du dran. Erzähl doch mal, wie es dir so ergangen ist.«

    Er berichtete von seiner Jugend in Frankfurt und von seinem Studium.

    »Musik ist auch für mich das absolute Hauptinteresse. Schon lange mag ich Hardrock und Heavy Metal, aber später habe ich meine Liebe für die Alte Musik entdeckt. Theresa habe ich letztes Jahr bei einem Musikfest in Regensburg kennengelernt.«

    Da hätte Cynthia am liebsten eingehakt, um Näheres zu erfahren, aber er fuhr fort, über Musik zu sprechen: »Ich liebe es, in barocke Klangwelten einzutauchen und gleichzeitig faszinieren mich die Strukturen der Werke eines Komponisten wie Bach.«

    Seine Worte machten die Begeisterung deutlich und zeugten von mehr Verständnis der Materie, als es Cynthia bei einem Nichtmusiker erwartet hätte.

    »Da ich kein Instrument spiele, gehe ich das Phänomen wissenschaftlich und technisch an. Deshalb mein Studienfach Elektrotechnik.«

    Cynthia wunderte sich: »Aber in der Klassik und der Alten Musik werden doch rein akustische Instrumente verwendet?«

    »Mich fasziniert das physikalische Phänomen der Akustik und das weite Feld der elektronischen Aufzeichnung und Wiedergabe von Musik. Das gilt sowohl bei der Alten Musik als auch bei der Rockmusik, wobei dort mit den elektrisch verstärkten und verfremdeten Instrumenten und den vielfältig nutzbaren Synthesizern ein weiteres interessantes Betätigungsfeld hinzukommt.«

    Seine kluge Antwort entwaffnete Cynthia, und sie empfand plötzlich eine erstaunliche Seelenverwandtschaft zu dem jungen Mann, der sonst nicht viel Aufhebens um seine Person machte.

    Er war mit seinem Studium weit fortgeschritten, hatte sein Diplom schon in der Tasche und überlegte, ob er promovieren sollte. »Ich versuche schon eine ganze Weile, in Richtung Elektroakustik und Tontechnik weiterzukommen. Aber da ist keine berufliche Perspektive in Sicht. Also eine ganz langweilige Geschichte des Scheiterns …«

    Dabei wirkte sein Gesicht so traurig und resigniert, dass Cynthia ihn am liebsten umarmt hätte.

    Theresa warf ein: »Dabei hat Chris ausgelassen, dass er über ein Jahr lang seine Familie versorgen musste.« Christian erzählte, dass seine Mutter als Selbstständige keine ausreichende Krankenversicherung abgeschlossen und bei einer langen Erkrankung alle ihre Ersparnisse aufgebraucht hatte.

    »Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade mein Abitur gemacht und konnte einspringen. Mit einigen Gelegenheitsjobs hielt ich uns so einigermaßen über Wasser, bis Mutter wieder arbeiten konnte.« Anschaulich schilderte er, wie er nächtelang als Roadie in Konzerthallen gearbeitet und Bands auf Tourneen begleitet hatte. Aber auch Türsteher und Rausschmeißer in Discos war er gewesen, worauf er weniger stolz war.

    Seine Mutter war inzwischen wieder ganz gesund und hatte in der Schweiz ein gut gehendes Geschäft aufgebaut. Dort, in Basel am Rhein, wohnte auch Christians jüngere Schwester Nadine. Cynthia dachte voll Sympathie an ihre kleine Schwester, die noch bei ihren Eltern zu Hause lebte. Aber in Theresa ging in diesem Moment eine seltsame Veränderung vor: Mit versteinerter Miene blickte sie stumm in ihr Weinglas und war kaum mehr ansprechbar. Ihr Verhalten war für Cynthia ein Rätsel.

    Von Christian hingegen war sie positiv überrascht und fand ihn für einen Mann erstaunlich sensibel und einfühlsam; so jemanden hätte sich Cynthia zu Hause als Bruder gewünscht.

    Um das Thema zu wechseln, erwähnte Christian einen Sportclub, in dem er regelmäßig trainierte: »Wollt ihr beide nicht mal mitkommen? Das Studio ist zentral gelegen in der Zeil, hieß früher Judokan und ich war schon als Jugendlicher dort, um asiatische Kampfsportarten zu lernen.«

    Während Cynthia Zustimmung signalisierte, reagierte Theresa eher kritisch: »Das habe ich früher auch mal gemacht. Aber wenn die Lage wirklich ernst wird, bin ich mit echten Waffen besser bedient. Glaubt mir, ich habe da meine Erfahrungen!«

    Theresas grimmigen Ton fand Cynthia befremdlich, sie überspielte ihn lachend: »Man muss ja seinen Körper nicht gleich zur Waffe hochrüsten. Mir ginge es eher um Kraft und Kondition. Ich weiß, ich bin nicht mehr so fit wie früher beim Beachvolleyball.« Sie erzählte von ihrem Start bei den »San Francisco Open« auf dem Embarcadero. »Später fing ich mit dem Bodybuilding an. Aber da hat mich meine amerikanische Model-Agentur gestoppt; ich sollte keine allzu sichtbare Muskulatur aufbauen.«

    Christian lächelte und erklärte, dass es in der Fitness Company eher um Body Shaping, eine behutsame Straffung des Körpers, ginge.

    Theresa lenkte ein: »Ihr habt recht. In der Schule und auf der Universität in Neuseeland habe ich Bodybuilding betrieben und intensiv Handball gespielt. Es ist sicher von Vorteil, für den Körper etwas zu tun«. Sie ließ ein strahlendes Lächeln aufscheinen, das Cynthias Puls schneller schlagen ließ. »Außerdem macht es mit euch zusammen sicher doppelt Spaß!«

    Es war ein schöner warmer Abend, und sie spazierten durch die Stadt, kamen über den Römerberg mit seinem berühmten Rathaus zum Flussufer.

    Der Dom und einige andere historische Bauwerke waren angestrahlt und bildeten einen reizvollen Kontrast zu den glitzernden, modernen Hochhäusern im Hintergrund. Cynthias Blick wanderte über den Fluss hinunter ans andere Ufer, wo ihr eine gotische Kirche auffiel. Christian erklärte: »Das ist die Dreikönigskirche.«

    Auf dem Eisernen Steg, einer altehrwürdigen Fußgängerbrücke, überquerten sie den Main.

    »Dort war der bekannte Professor Helmut Walcha Organist«, ergänzte Theresa. Hinter den Kirchenfenstern schimmerte Licht, und sie gingen über das Sachsenhäuser Ufer auf den Bau zu. Aus der Ferne waren die Klänge der Orgel zu hören.

    »Da übt wohl ein Organist für die morgige Orgelvesper«, murmelte Theresa und ging zielstrebig auf die Seitentür zu. Leise betraten sie die Kirche, deren Hauptschiff im Halbdunkel lag; nur der Spieltisch der Orgel auf der Westempore war erleuchtet. Cynthia war etwas ängstlich, und auch Christian zog Theresa in Richtung Tür, aber sie ließ sich nicht aufhalten und nahm die Treppe zur Orgelempore.

    Der Organist, ein ernst und würdig dreinblickender, älterer Mann, brach sein Spiel überrascht ab, als er sie bemerkte. Theresa ließ ihm keine Chance, ärgerlich zu reagieren. Sie lächelte ihn strahlend an und bat unter Aufbietung all ihres Charmes darum, die Orgel einmal kurz spielen zu dürfen. Der Organist hielt Theresa wahrscheinlich für einen überspannten Teenager, aber er überließ ihr seinen Platz. Lässig glitt sie auf die Orgelbank, sah sich das Notenheft der Edition Peters an, blätterte darin und wählte dann eine Registerkombination aus.

    Sie wirkte in Cynthias Augen überlebensgroß, als sie mit spielerischer Leichtigkeit, aber großem Ausdrucksvermögen eine perfekte Interpretation von Bachs dorischer Toccata bot. Es schien, als habe Theresa hier an der Orgel den Platz gefunden, an den sie gehörte. Jetzt wandelte sich auch die Mimik des Organisten von Misstrauen in Hochachtung.

    Der Schlussakkord verklang mit langem Nachhall in der nächtlichen, leeren Kirche. Der Organist schaute Theresa eine ganze Weile an, ehe er trocken meinte: »Sie können ja wirklich etwas, junge Frau. Mir scheint, dass sich die alte Kunst auf ganz exotischen Wegen tradiert. Seit Langem habe ich niemanden mehr so spielen gehört.«

    Theresa umarmte den älteren Herrn, und stumm gingen sie nach Hause.

    An einem Abend Ende Juni saßen sie wieder in ihrem Lokal und unterhielten sich angeregt, da unterbrach Theresa plötzlich das Gespräch. Am Nebentisch erzählte ein junger Mann gerade von seiner Vierzimmerwohnung, die er aufgeben musste.

    Theresa murmelte leise: »Meint ihr nicht, wir könnten zusammen …«

    Sie zögerte. Unsicher, wie es sonst nicht ihre Art war, fuhr sie fort: »Zu dritt könnten wir uns die Wohnung bestimmt leisten.«

    Ehe Cynthia Zeit hatte, über den Vorschlag nachzudenken, stand Theresa auf und trat zum Nachbartisch. Der junge Mann schaute überrascht auf, erzählte dann aber bereitwillig von seiner Etagenwohnung in einem der typischen alten Westend-Häuser. Christian fragte nach weiteren Einzelheiten, wie Mietpreis, Kaution und Nebenkosten. Schließlich vereinbarten sie einen Besichtigungstermin für den folgenden Tag und bekamen die Adresse genannt.

    Nachdem sie die Miete in die gewohnten Dollar umgerechnet hatte, erschreckte die Summe Cynthia zunächst, aber die drei diskutierten lange und kamen zu dem Schluss, dass sie die Kosten gemeinsam aufbringen konnten.

    Wie Cynthia im Stadtplan sah, lag die Adresse ganz in der Nähe ihrer Wohnung, und so konnte sie am Vormittag bequem zu Fuß dorthin gehen. Christian wartete schon vor dem Haus, aber Theresa war nicht zu sehen.

    »Bist du allein gekommen?«

    »Theresa hat den weiteren Weg. Sie wird bestimmt gleich da sein.«

    Cynthia war bisher davon ausgegangen, dass die beiden zusammenwohnten, und wurde jetzt eines Besseren belehrt. In diesem Moment bog eine Radfahrerin schwungvoll um die Ecke und hielt an. Erst als die schlanke Schwarzhaarige anmutig von ihrem Rennrad stieg, erkannte sie Theresa.

    »Habt ihr schon geklingelt?«, fragte sie aufgeregt.

    Da öffnete sich die Haustür und der Mieter begrüßte sie: »Kommt rein. Die Hausbesitzerin ist auch schon da.«

    Der junge Mann und die freundliche alte Dame führten sie herum. Die Wohnung war zwar alt und in keinem perfekten Zustand, aber das störte sie kaum.

    Bei dem Gespräch mit der Eigentümerin führte nicht Christian das Wort. Ihm hätte Cynthia am ehesten zugetraut, die alte Dame zu überzeugen. Aber Theresa legte sich mächtig ins Zeug und erzählte ebenso charmant wie wortreich, dass sie Musikstudenten seien, die zu dritt eine Wohngemeinschaft bilden wollten. Die Dame stand der Idee wohlwollend gegenüber und so bekamen sie an Ort und Stelle eine mündliche Zusage. Schon mit Beginn des kommenden Monats sollte ihnen die Wohnung zur Verfügung stehen.

    Die Unterzeichnung des Mietvertrags, den die Hausbesitzerin ihnen später vorlegte, als sie schon dort wohnten, war nur noch eine Formsache.

    Das Ganze ging so schnell, dass Cynthia noch kaum einen Gedanken an die gemeinsame Zukunft mit ihren neuen Freunden verschwendet hatte, als schon der Umzug bevorstand.

    Jeder bekam eines der kleineren Zimmer, das große Zimmer richteten sie als gemeinsamen Wohnraum ein. Christian mietete einen Kleinbus, und sie fuhren mehrmals zwischen ihren bisherigen Wohnungen und dem neuen Apartment hin und her. Ein eigenes Auto besaß weder er noch Theresa, wie die Amerikanerin mit leichter Verwunderung registrierte.

    Bei der Plackerei mit Möbelstücken und Kisten staunte Cynthia, mit welcher Geschicklichkeit, Kraft und Energie Theresa arbeitete. Ausgerüstet mit groben Schutzhandschuhen packte sie kräftig mit an, und Christian musste sich ganz schön anstrengen, um mitzuhalten. Schließlich war es geschafft, und auch Cynthias Instrumente waren wohlbehalten in ihrem Zimmer verstaut. Sie wunderte sich, dass Theresa als einziges Instrument ein kleines elektronisches Keyboard besaß; jetzt verstand sie, warum Theresa so viel Zeit in der Hochschule verbrachte, um dort auf Cembalo und Orgel zu üben.

    Theresa zog ihre professionell wirkenden Arbeitshandschuhe aus und griff nach einer alten, schwarzen Kunstledertasche, die auf dem Keyboard lag. Das mit Panzertape geflickte Ding hatte die Aufschriften »Aotearoa« und »All Blacks« und war mit einem weißen Kiwi-Aufkleber verziert. Das putzige Tier schaute grimmig drein und hatte einen roten Speer angriffslustig unter den rechten Flügel geklemmt. Die Tasche rutschte von dem gewölbten Deckel des Keyboards herunter, gerade als Theresa sie ergreifen wollte. Hilfsbereit kniete Cynthia nieder, um sie aufzuheben, und fand sie merkwürdig schwer. Der Reißverschluss war halb offen, und ihr Blick fiel auf mehrere Paare verschiedener Lederhandschuhe und einen halb verdeckten, mattschwarzen Metallgegenstand, den sie nicht zuordnen konnte. Hastig nahm Theresa die Tasche und stopfte ihre Arbeitshandschuhe hinein. Das Lächeln mit dem Theresa ihr anschließend dankte, lenkte Cynthia von der merkwürdigen Beobachtung ab.

    Sie gingen in das gemeinsame Wohnzimmer. Bei Christians Sachen, die sich auf dem Tisch stapelten, fielen Cynthia zwei Kistchen mit der Aufschrift »Trivial Pursuit« auf. Sie kannte das Quiz-Spiel, bei dem Allgemeinbildung gefragt war.

    »Ob mein Deutsch dafür ausreicht?«, zweifelte Cynthia.

    Theresa war ihrem Blick gefolgt: »Wir besitzen Exemplare des Spiels in mehreren Sprachen. Chris schlägt mich sogar schon in der englischen Version. Er ist verdammt clever.«

    Ihren ersten Abend in der neuen Wohnung feierten sie inmitten von Kartons, Plastiktüten und Bücherstapeln. Cynthia hatte eine kleine Kiste mit spanischem Rotwein besorgt; die Einrichtung war noch sehr unvollständig, und sie hatten die Gläser noch nicht ausgepackt, aber sie ließen die Flaschen kreisen und waren bis spät in die Nacht fröhlich und ausgelassen.

    Am nächsten Tag hatten Theresa und Cynthia endlich einmal gleichzeitig frei und mussten nicht zur Hochschule; so hatten sie viel Zeit, gemeinsam zu musizieren. Als Cynthia ihre silberne Querflöte auspackte, hatte Theresa bereits den kleinen Synthesizer angeschlossen.

    »Was wollen wir spielen?«, fragte sie, und Cynthia antwortete: »Ich übe gerade eine Sonate von Bach.«

    Theresas Augen leuchteten auf, und Cynthia blätterte in ihrem Notenheft: »Die Sonate für Traversflöte und Cembalo Nummer 1 h-Moll BWV 1030.«

    Theresa sah sich die Noten an und meinte: »Ich spiele die Begleitung vom Blatt.«

    Cynthia platzierte das Heft auf dem Notenständer des Keyboards und stellte sich schräg hinter Theresa. Die Flötistin war ungeheuer nervös, als sie ihr Instrument zur Hand nahm, aber als sie die Flöte an die Lippen setzte und die ersten Töne hervorbrachte, fühlte sie sich großartig. Beim Spielen in höchster Konzentration versank sie geradezu in Bachs fantastischer Klangwelt. Doch jetzt war sie dort nicht mehr alleine. Sie empfand es als intimes Erlebnis, diese Welt der Töne und Harmonien mit einem Menschen zu teilen, der so begabt war und dem sie sich so nahe fühlte. Theresa fügte die vielstimmige Begleitung des Konzerts hinzu und folgte notengetreu der Vorlage des Komponisten, ging aber feinfühlig auf Cynthias Interpretation ein. Sie schien im Voraus zu wissen, wie Cynthia

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