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Die Antwort auf Gestern
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eBook290 Seiten4 Stunden

Die Antwort auf Gestern

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Über dieses E-Book

Ralph hat auf einer Urlaubsreise vor zwanzig Jahren sein erstes Mal erlebt und kann die Erfahrung nicht vergessen. Jetzt ist er verheiratet und Vater von zwei Kindern, trotzdem fährt er immer wieder an denselben Ort zurück, um seine große Liebe wiederzusehen. Sein Alltag, sein ganzes Leben und die Beziehungen zu seiner Familie und seinen Freunden sind bestimmt von seiner Besessenheit.
Manchmal ist die Unfähigkeit, vergessen zu können, kein Geschenk.

Seine Freunde beschließen, dass sich endlich etwas ändern muss, aber sie haben nicht damit gerechnet, wie tief Ralphs Liebe ist und was sie heraufbeschwören, als sie daran rühren.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Sept. 2021
ISBN9783347355033
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    Buchvorschau

    Die Antwort auf Gestern - Jan Holmes

    Teil Eins

    Infektion

    Kapitel Eins:

    Anfang der Achtziger

    Ein Campingplatz in einem Pinienwald, irgendwo am Atlantik, verstreute Zelte verstecken sich zwischen den Bäumen, die angenehm kühlen Schatten spenden. In der Sonne ist es kaum auszuhalten, trotzdem liegt man fast den ganzen Tag am Strand und lässt sich bräunen. Das eigentliche Leben beginnt abends und reicht bis in die frühen Morgenstunden, man hört Musik, isst, trinkt, raucht, betäubt sich, um bis in den Mittag zu schlafen und dann alles zu wiederholen. Nach diesem Urlaub wird man Urlaub benötigen, um sich zu regenerieren, den Körper zu entgiften und wieder aufnahmefähig zu sein im Alltag, im Studium, bei der Arbeit, bei all dem. Solange die Spielhalle am Campingplatz noch geöffnet hat, steht man vor den Automaten und füttert sie mit Kleingeld, manchmal gibt es eine organisierte Disco oder einen Folkloreabend, an dem man nicht teilnimmt, weil man sich nicht für den Touristen halten möchte, der man eigentlich ist. Man lacht über die, die mitklatschen, setzt sich ein wenig abseits hin, trinkt Wein aus Fünf-LiterKartons und schleicht sich hinter die Toiletten, um Joints zu rauchen. Als die Betreiber des Platzes genug haben und die Disco schließen, trifft man sich wieder vor den Zelten, fischt die letzten Flaschen Bier aus der Wanne mit dem zerstampften Eis, das schon lange geschmolzen ist, spielt mit Karten und Würfeln Saufspiele, bis auch der Letzte nicht mehr kann. Es handelt sich hierbei um die Ausläufer der Jugend, die noch wirken, man weigert sich, den Abschnitt zu verlassen, in dem alles erlaubt ist und nichts geahndet wird, obwohl man weiß, dass man schon lange darüber hinaus ist. Wer noch studiert, arbeitet in seiner freien Zeit und in den Semesterferien, verlängert so sein Studium, ermöglicht es in manchen Fällen aber auch erst. Einige haben eine abgeschlossene Ausbildung und arbeiten täglich, den ganzen Tag. Aber auch sie tun so, als gäbe es kein Morgen, sie weigern sich, zu akzeptieren, dass schon längst Verantwortung auf ihnen lastet, dass sie nie mehr zurückkönnen in frühere Zeiten mit freien Nachmittagen und Sorgen nur darum, was bis zum Ende des Tages passieren wird.

    Auch später sollte es immer wieder Urlaube und andere Gelegenheiten geben, an denen sie sich zurücksehnten und dieses Jahr wiederzubeleben versuchten, aber es würde nie mehr dasselbe sein. Sie würden schon viel zu sehr verwurzelt sein in ihr jeweiliges Leben, ihren Entwürfen von dem, was sie Leben nannten. Es würde immer wieder Fluchten geben, Ausbrüche und Rückfälle in Jugendlichkeit, aber nie mehr würde es so unbeschwert sein wie in diesem Jahr, obwohl sie bereits spürten, dass es vielleicht das letzte Mal sein mochte. Sie alle hatten ein mehr oder weniger konkretes Bild davon, was auf sie wartete, sie kosteten jede einzelne Minute aus, und sei es nur auf die Weise, dass sie sie verschwendeten und gerade dadurch daraus gewannen.

    Die Gruppe, die hier Urlaub machte, hätte von ihrer Zusammensetzung her unterschiedlicher nicht sein können.

    Es gab ein paar alte Freunde, die sich schon seit Kindergartenzeiten kannten, die zusammen die Schule besucht hatten und jetzt gemeinsam studierten. Andere waren im Laufe der Zeit hinzugekommen, die meisten stammten aus derselben Gegend, wieder andere waren zugezogen und hatten sich erst langsam in die Gemeinschaft eingefügt. Es gab Kinder aus Arbeiterfamilien und welche, die Akademiker als Eltern hatten, der Vater des einen hatte sein Leben lang im Straßenbau gearbeitet, der des anderen dozierte an einer Universität. Manch einer wurde von seinen Eltern unterstützt, die ihm das Studium und einen Großteil seiner Freizeit finanzierten und ihre Unterstützung vielleicht zurückgezogen hätten, wenn sie gewusst hätten, welche immensen Anteile ihrer Zuwendungen für die Anschaffung der unterschiedlichsten Rauschmittel verwendet wurden. Andere hingegen hatten sich schon zu Schulzeiten mit kleineren Jobs aushelfen müssen, waren direkt nach Schule und Ausbildung arbeiten gegangen, wieder andere finanzierten sich mit den verschiedensten Tätigkeiten ihr Studium. Auch die Träume der Gruppe unterschieden sich sehr. Während einige genaue Vorstellungen davon hatten, was sie einmal tun würden und nie Schwierigkeiten damit gehabt hätten, die übliche Einstellungsfrage, wo man sich in zehn Jahren sehe, zu beantworten, war für die anderen die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt, das zu beschriften sie sich nicht die Mühe machten. Manche Pläne schlossen Berufliches mit ein, andere sahen sich schon als Eltern, Eigenheime und große Autos waren ebenso Bestandteil ihrer Vorstellungen wie lange Reisen, lebenslange Unabhängigkeit oder Jobs, die erst noch erfunden werden mussten. Es gab einige Künstler unter ihnen, die sich im Laufe der Jahre davon überzeugen lassen mussten, dass ihre Veranlagung vielleicht doch nur zum Hobby taugte und nicht in der Lage sein würde, sie über einen längeren Zeitraum zu unterhalten, aber im Moment war ihr Drang noch ungebrochen.

    Das Wichtigste an der Verschiedenartigkeit der Menschen, die hier zusammensaßen und sich im gemeinsamen Verschwenden ihrer Zeit glichen, war der Umstand und das große Glück, dass sie im Moment, in diesem Augenblick sehr zufrieden waren. Es stellte kein Problem dar, dass der eine sich vorstellen konnte, sein Leben lang nur noch Bilder zu malen und diese zu verkaufen, während der andere sich damit zufriedengab, sich mit den Jobs durchzuschlagen, die ihm gerade angeboten wurden, solange nur die Miete gezahlt werden konnte. Es war kein Anlass für Schwierigkeiten oder sogar Streitereien, dass der Lebensentwurf des einen dem eines anderen entgegengesetzt war, ihm gleichsam als Spiegelbild gegenüberstand, denn der Entwurf war nicht der Grund dafür, dass sie hier waren. Ihre aktuelle Gemeinsamkeit war ein ähnliches Verständnis der Gegenwart, auf das sie sich einigen konnten. Die zukünftigen Entwicklungen, die sie durchmachen würden, waren noch in viel zu weiter Ferne gerade einmal zu erahnen, als dass sie Anlass hätten sein können, sich jetzt schon zu entzweien. Wenn man die einzelnen Mitglieder der Gruppe befragt hätte, hätte sich bestimmt jeder dazu hinreißen lassen, die anderen als seine Freunde zu bezeichnen. Es gab Abstufungen und graduelle Unterschiede, nicht jeder war der beste Freund des anderen, manch einer würde einen Einzelnen auch nur als sehr guten oder guten Bekannten bezeichnet haben, aber am Ende der kurzen Wochen, die sie zusammen verbrachten, gab es trotz einiger weniger Auseinandersetzungen doch nichts Großes mehr, das sie trennte. Die gemeinsame Zeit hatte sie geeint, hatte ihnen etwas mitgegeben, das sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen würden und das sie in alle Zukunft teilen konnten. Die Zeit würde zeigen, dass dieser Umstand nicht ausreichte, um auch nach Jahren noch in derselben Gemeinschaft dieselben Dinge tun zu können, zu rasant fand die Entwicklung statt, deren Anfang sie alle spürten und die sie auseinandertreiben würde. Aber dennoch: Es gab eine gemeinsame Grundlage, auf die man sich berufen konnte, und auch, wenn der aktuelle Aufenthalt, die momentane Befindlichkeit sich in Zukunft für einige in der Rückschau verklären würde, bliebe das Gefühl der jetzigen Gemeinschaft übrig und für alle auch bei zukünftigen Treffen immer noch positiv spürbar.

    Was keiner der Gruppe zu diesem Zeitpunkt wusste: Sie würden in dieser Zusammensetzung nie wieder an diesen Ort zurückkehren. Einige wenige von ihnen würden versuchen, die Tradition noch etwas aufrechtzuerhalten, und noch einige Jahre später eine gemeinsame Auszeit nehmen, aber es war nicht mehr dasselbe. Die Gruppe veränderte sich stark, manche zogen sich ganz zurück, andere verließen die Gegend ihrer gemeinsamen Kindheit und kehrten nur noch selten zurück. Auch wandten sie sich anderen Urlaubszielen zu: War der Platz, den sie jetzt gerade besuchten, genau das Richtige für sie, die die Nacht zum Tag machten und ihre Zeltnachbarn mehr als einmal um den Schlaf brachten, wurden sie alle mit den Jahren ruhiger und störten sich später an denen, die ihnen nachfolgten und sie jetzt nicht mehr in Ruhe schlafen ließen.

    Aber einen unter ihnen gab es, der würde zurückkehren, Jahr um Jahr, immer wieder aufs Neue, immer wieder an dieselbe Stelle. Er war Teil der Gruppe, die sich hier zusammenfand, aber er setzte sich ab und kam allein zurück. Grund dafür war ein Erlebnis, das in diesem Urlaub stattfand und das ihn für immer verändern sollte.

    Kapitel Zwei:

    Das Gewitter

    Nach einem langen Tag am Strand trieb der Hunger die Gruppe zurück auf den Platz. Am frühen Abend hatten sich die Wolken schon merklich zusammengezogen, das Wetter blieb jedoch trotz langsam aufkommender und später drückender Schwüle weiterhin heiß, deswegen kümmerte sich zunächst niemand um das Schauspiel am Himmel. Auch die übliche Abendgestaltung verlief wie an jedem anderen Tag, man aß zusammen und verbrachte dann die Zeit bis in den frühen Morgen im Rausch. Es hätte schon fast hell werden müssen, aber die Wolkendecke war undurchdringlich, als sich endlich alle Schleusen öffneten und ein Gewitter über das Land hereinbrach. Obwohl sie durch den Wald geschützt waren, fühlte es sich in den Zelten so an, als hämmerte jemand unerbittlich auf die Plane, es blitzte in einem fort, der Donner war ohrenbetäubend. Glücklicherweise lag ihr Platz auf einer kleinen Anhöhe im Wald, sodass keine Gefahr bestand, dass die Zelte übermäßig vollliefen, wie bei einigen der Nachbarn, die ihre Schlafplätze in einer Senke errichtet hatten, in der sich das Wasser sammelte. Niemand konnte schlafen, aber es dachte auch keiner daran, seine Behausung zu verlassen, um die Nähe der anderen zu suchen. So verharrten alle in ihren Zelten, überwiegend allein, es gab nur wenige Paare in der Gruppe, der Rest bestand größtenteils aus Alleinstehenden, davon die meisten männlich.

    Einer von diesen war Ralph Jung, wie die anderen Anfang, Mitte zwanzig, Student des Maschinenbaus und in der Gegend aufgewachsen, aus der die meisten Mitglieder der Gruppe kamen. Er kannte die anderen seit langen Jahren, sie waren zusammen zur Schule gegangen, einer sogar mit ihm in den Kindergarten, er war aber in diesem Jahr nicht mitgekommen. Ralph galt als allgemein akzeptiertes Mitglied der Gruppe, weil er immer dabei war und immer dabei gewesen war, solange sich alle erinnern konnten, aber er hatte keine außergewöhnliche Position unter den Freunden inne. Er war eher ein Einzelgänger, hatte einen etwas seltsamen, sehr trockenen Humor und war der Einzige, der einen technischen Studiengang gewählt hatte, während die anderen sich mit Sozialarbeit, Germanistik, Fremdsprachen auf Lehramt, einer Ausbildung oder einfachen Jobs beschäftigten. Durch sein etwas eigensinniges Wesen war es so, dass er ein Freund der Gruppe zu sein schien, nicht aber ein Freund eines Einzelnen – abgesehen vielleicht von seinem bereits erwähnten Kindergartenfreund, der in diesem Jahr zu Hause geblieben war. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich mit ihm allein zu verabreden, er war zwar immer dabei, aber jedes Mal nur als Teil der Gruppe, er stach nicht heraus. Einige fragten immerhin, was mit ihm sei, wo er bliebe, wenn er an einem Treffen nicht teilnahm, aber es gab wahrscheinlich niemanden, der »Schade« gesagt hätte, wenn er fehlte. In der gemeinsamen Runde nahm er an den Gesprächen und Witzen teil, schien sich aber oft etwas zurückzuhalten, so als müsste er zunächst feststellen, ob eine Bemerkung auch wirklich angebracht war. Das tat er weniger, weil er meinte, jemanden zu verletzen oder jemandem zu nahezutreten, sondern eher aus dem Grund, weil er selbst unsicher war und sich sehr davor scheute, sich zu blamieren oder zu viel von sich zu offenbaren. So kam es auch, dass er von den derbsten Scherzen ausgenommen wurde, es hatte beinahe den Anschein, als besäße er etwas Unnahbares, das ihn vor allzu heftigen Übergriffen schützte. Dieser Umstand, diese Art Aura, kann man vielleicht sagen, bedingte auch, dass man ihn nicht so schnell anfasste oder berührte, wie man es unter Freunden sonst oft tut. Aber all diese Eigenheiten waren eher unterschwellig vorhanden, niemand der Gruppe hätte genau sagen können, warum Ralph eine Sonderstellung einnahm, oder dass das überhaupt der Fall war. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen, man »wusste über ihn Bescheid«, niemand sprach es aus, aber alle waren sich in ihren Handlungen einig.

    Ein Umstand, über den ebenfalls jeder Bescheid wusste – und wovon Ralph der Meinung war, dass er damit sein größtes Geheimnis hütete –, war die Tatsache, dass er ein völlig unbeschriebenes Blatt war, wenn es um Beziehungen zu Frauen ging. In der Gruppe fiel das nicht weiter auf, da die Mehrzahl ungebundene junge Männer waren, aber an seinem Verhalten merkte man schnell, dass er zurückhaltender wurde, wenn es darum ging, von vergangenen Abenteuern zu berichten. Im Umgang mit Frauen zeigte er sich höflich und korrekt, für deren Empfinden aber oft etwas zu korrekt, es gab keinen Unterschied bei ihm festzustellen, er war »zu jedem gleich nett«, wie eine Bekannte es einmal formulierte. Das führte dazu, dass sein Verhalten, wenn auch unter der Oberfläche getrieben von Begehren und unerfülltem Verlangen, als Desinteresse an tiefer gehenden Beziehungen interpretiert wurde. Die Frauen nahmen ihn als guten Freund, mit dem sie sich über alles unterhalten konnten, nur nicht über die Möglichkeit, mit ihm ein intimes Verhältnis einzugehen. Angesichts dieses Umstands dämmerte Ralphs Liebesleben still vor sich hin, und er hatte es im Laufe der Jahre als Tatsache akzeptiert, dass er eben noch warten musste, bis ihm die Richtige über den Weg laufen würde. Was er in dem Fall tun sollte, war ihm zweifellos völlig unbekannt, aber er hoffte darauf, dass er dann endlich über seinen Schatten würde springen können, um sein Glück perfekt zu machen. Dabei hätte er nicht gesagt, dass er in seiner Situation unglücklich war, er hatte viele Hobbys, las auch abseits des Studiums eine Unmenge von Büchern, trieb Sport in einem Verein, hatte aus einer Laune heraus begonnen, Gebärdensprache zu lernen, und füllte den Rest seiner Zeit damit aus, Museen zu besuchen und sich die Grundlagen der Bildhauerei anzueignen.

    Also kam die Nacht des Gewitters, und da an Schlaf nicht zu denken war, begann Ralph, in seiner Urlaubslektüre zu lesen. Er versuchte, sich durch die Sämtlichen Erzählungen von Franz Kafka zu arbeiten, und kämpfte mit der düsteren Stimmung der Geschichten, die in diesem Moment – sonst allerdings überhaupt nicht – zu dem zu passen schienen, was um ihn herum in diesem Urlaub passierte. Nach einiger Zeit merkte er, dass jemand draußen war, er sah das Licht einer Taschenlampe über die Zelte streifen und auf dem Eingang seines Zeltes Halt machen. Zunächst dachte er sich nichts dabei, aber als das Licht heller wurde und aufhörte, durch die Gegend zu zucken, legte er das Buch nieder und runzelte die Stirn. Vor dem Zelt war jemand, der sich jetzt niederhockte und fortfuhr, die Plane mit einer Lampe zu bestrahlen. Kurz darauf wurde eine Hand gehoben, Ralph sah den Schatten der Finger, dann kratzte es am Zelt.

    »Kann ich reinkommen?«, hörte er, erkannte aber die weibliche Stimme nicht.

    »Wer ist da?«, fragte Ralph zögerlich, aber nicht ohne Interesse.

    Anstelle einer Antwort bewegte sich die Hand zum Reißverschluss und zog diesen auf. Geblendet durch das Licht konnte er zunächst nicht sehen, um wen es sich handelte. Er beschirmte die Augen mit der Hand.

    »Kannst du die Lampe runternehmen?«

    »Oh, Entschuldigung.«

    Durch die Öffnung des Zeltes schob sich jetzt ein Kopf, zuerst waren nur die Haare zu sehen, von denen ein leichter Geruch von nassem Heu ausging, eine Mähne von dunkelblonden Locken, die Ralph nicht zuordnen konnte.

    »Hi«, sagte die Stimme, das Mädchen hob den Kopf und lächelte Ralph scheu an. Er hatte sie in seinem Leben noch nie gesehen und wusste mit der Situation nichts anzufangen. Hatte sie sich im Platz geirrt, war sie betrunken und wusste nicht mehr, wo ihr Zelt stand, hielt sie ihn für jemand anderen?

    »Ich habe Licht gesehen«, eröffnete sie ihm, aber das erklärte erst einmal überhaupt nichts.

    »Ich kann nicht schlafen bei dem Gedonner«, entgegnete Ralph etwas dümmlich und kam sich sehr unbehaglich vor.

    »Wir sind heute Abend angekommen, aber meine Leute sind irgendwohin gegangen, um Bekannte zu suchen, ich weiß nicht, wo die sind«, erklärte seine Besucherin. Sie lächelte freundlich und einnehmend. »Keine Ahnung, wahrscheinlich bleiben sie weg, bis der Regen vorbei ist. Kann ich reinkommen?«

    Ralph wusste nichts, was dagegen spräche, hatte aber eigentlich auch keinen Grund, den er dafür anbringen konnte. Wieso blieb sie nicht einfach in ihrem Zelt? Sie würde ja kaum unter freiem Himmel campieren.

    »Ist euer Zelt kaputt?«, fragte er, und ihm wurde erst dann klar, wie abweisend seine Frage klingen musste. »Ich meine …«, fügte er schnell hinzu, wusste dann aber auch nicht, was er gemeint haben konnte. Erst jetzt betrachtete er sie eingehender, seine Lampe, die er um seinen Kopf geschnallt hatte, beleuchtete ihre grünen Augen, die Haare, von denen ein paar Tropfen perlten, und ihre breiten Lippen, die die ganze Zeit ein überaus schönes Lächeln entblößten. Auf ihrer Nase erkannte er ein paar Sommersprossen, die ihrem Aussehen etwas von einem kleinen Mädchen gaben, aber als sie jetzt ins Zelt krabbelte und er ihren Körper sah, erkannte er, dass dieser nichts von einem Mädchen hatte. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein, sie trug ein nasses T-Shirt, das an ihrem Körper klebte und verriet, dass sie nichts darunter trug. Außerdem hatte sie eine kurze Hose an und Sandalen, an denen Sand und Piniennadeln klebten, die sie jetzt abwischte.

    »Tut mir leid, aber ich hatte Licht gesehen«, wiederholte sie unnötigerweise, und Ralph beobachtete, wie die Wörter ihren Mund verließen. Er konnte nicht sagen, was an seiner Besucherin so besonders war, aber er war regelrecht fasziniert von dieser Erscheinung, die ihn derart unverfroren vereinnahmte.

    »Und du warst heute Abend allein, deswegen dachte ich, du hättest vielleicht noch etwas Platz für mich.« Sie lächelte erneut und sah ihn so unschuldig an, dass Ralph nicht überlegte, woher sie das wusste, und ihr alles verziehen hätte. »Das Gewitter macht mir ein bisschen Angst«, fügte sie hinzu, »kann ich kurz bleiben?«

    Diese letzte Frage wurde von einem lauten Krachen begleitet, das der nächste Donner zu ihnen herunterschickte. Sein Besuch zuckte kurz zusammen und verzog den Mund zu einer vagen Entschuldigung. Ralph konnte nichts erwidern, er lag immer noch wie vom Schlag getroffen auf seiner Luftmatratze und versuchte einzuordnen, was gerade mit ihm passierte. Er schlief nicht, so viel war klar, bei dem Lärm war wahrscheinlich der ganze Campingplatz aufgewacht, aber trotzdem meinte er zu träumen. War nicht genau das der heimliche Wunsch eines jeden Jungen, der sich allein zu Hause Erleichterung verschafft, in Gedanken an eine Frau, die es nicht gab? Sah nicht exakt derart die Vorstellung aller derjenigen aus, die zu schüchtern waren, um es ihren Freunden gleichzutun, die sich scheinbar überhaupt nicht anzustrengen brauchten, um die Frauen geradezu magisch anzuziehen? Er erinnerte sich an die zahllosen Geschichten eines seiner Freunde, der – schenkte man ihm Glauben, aber Ralph hatte keinen Anlass, an seinen Worten zu zweifeln – nicht nur einmal eindeutige Angebote erhalten hatte: »Ich stand vor dieser Kneipe, die anderen waren noch drin und mussten irgendwas erledigen, aber ich war schon draußen. Auf jeden Fall kommt dieses Mädel an, ich kannte die gar nicht, nur ein oder zweimal kurz gesehen. Kommt an, grüßt mich, erzählt irgendwas, keine Ahnung was, kann mich nicht erinnern, und sagt auf einmal ›Wir können ja auch ficken.‹.«

    Dieser letzte Satz war Ralph in Erinnerung geblieben, er hätte nicht gedacht, dass es Frauen gab, die derartige Dinge äußern würden, ganz einfach aus dem Grund, weil ihm gegenüber noch nie ein solcher Satz gefallen war – was er sehr bereute. Er versuchte stets, freundlich zu sein, dabei aber zurückhaltend zu bleiben, weil er niemanden überfallen, keine Frau erdrücken wollte mit dem Geständnis seiner Zuneigung. Er wartete darauf, dass die Dinge sich entwickelten, und war der Ansicht, dass das schon irgendwann passieren müsse, nur trat dieser Fall nie ein. Während er sich still und heimlich verzehrte und versuchte, seinen nächsten Schritt zu planen, verschwanden die Angebeteten über kurz oder lang mit jemand anderem, er erfuhr, dass sie schon lange einen Freund hatten, oder es passierten noch merkwürdigere Dinge, so zum Beispiel, dass sie einem anderen vor einer Kneipe eindeutige Angebote machten und ihm sagten, dass man ja auch ficken könne. Nur eben nicht ihm gegenüber. Warum war das so? Wie die Bekannte gesagt hatte: Man könne nicht wissen, dass er jemanden besonders nett fand, aber wie sollte er das auch anstellen? Er hatte das typische Verhalten oft genug beobachtet: Eine Gruppe von Männern stand zusammen, man unterhielt sich ganz unbefangen, und plötzlich stieß eine Frau dazu. Mit einem Mal brach aus den Anwesenden ein geradezu lächerliches Balzverhalten hervor, jeder wurde übermäßig freundlich, fragte nach, ließ ausreden, offerierte seine Dienste und lächelte derart einfältig, dass es schon oft vorgekommen war, dass Ralph die Gruppe in einer Situation wie dieser einfach verließ. Es war ihm bewusst, dass er mit seinem Verhalten Desinteresse zeigte und es sich nicht einfacher machte, mit den Umworbenen in Kontakt zu kommen, aber er redete sich ein, dass Frauen, die auf diese billige, durchsichtige Tour hereinfielen, eben sowieso nichts für ihn sein konnten. Dass er durch sein Benehmen auch niemals die Gelegenheit haben würde, eine Frau näher kennenzulernen, war ihm ebenfalls klar, aber was sollte er denn tun? Sich verbiegen und ihr jemanden vorspielen, der er nicht war? Was wäre dann, wenn man sich näherkam und sie merkte, dass er sie nur getäuscht hatte? Darüber hinaus hätte er gar nicht gewusst, was er hätte spielen sollen, außer, dass er sich in einen balzenden Gockel verwandelt hätte, und dabei wäre er sich wahrscheinlich so blöd vorgekommen, dass er die Vorstellung keine zwei Minuten durchgehalten hätte.

    Aber was war jetzt? Er lag in seinem Zelt, versuchte mitten in der Nacht, oder schon beinahe am Morgen, in einem tosenden Gewitter ein Buch zu lesen, das ihn mit seiner Sprachgewalt geradezu niederzudrücken schien, und mit einem Mal geschah genau das, was Inhalt der feuchten Träume aller Männer war: Es klopfte und herein kam eine schöne Frau, sie hatte sich nicht in der Tür geirrt, sie wollte zu ihm, nur zu ihm und nicht zu seinem Freund, der sich die Frauen mit einem Stock vom Leib halten musste und ständig gefragt wurde, ob man denn nicht endlich mal ficken solle!

    All diese Gedanken verwirrten Ralph in dieser Situation nur noch mehr, er starrte seinen

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