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Nachbarn
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eBook464 Seiten7 Stunden

Nachbarn

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Über dieses E-Book

"Du kaufst kein Haus, sondern Nachbarn."

Karoline und Richard beziehen ihr neues Haus in einer Vorortsiedlung und müssen feststellen, dass man sich seine Nachbarn nicht aussuchen kann.
Während sich Karoline schnell in die neue Umgebung einfindet, bleibt Richard dort fremd, er zieht sich immer weiter zurück. Als er sich von einer Nachbarin zunehmend bedrängt fühlt, überschreitet er eine Grenze und muss fortan mit seiner Schuld leben - oder alles aufs Spiel setzen.

Eine Geschichte von Freunden und Gemeinschaft, beabsichtigt und zufällig.
Eine Geschichte von zu viel Nähe, von Konflikten und der grausamen Macht der Gruppe.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Apr. 2021
ISBN9783754106594
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    Buchvorschau

    Nachbarn - Jan Holmes

    Teil Eins

    Ein neues Leben

    Kapitel Eins – Der Umzug

    Die Sonne schickte einen hellen Strahl durch den Spalt zwischen den Vorhängen, die noch nicht abgehängt waren, Staub zog träge durch das grelle Licht. Von draußen hörte man den scheppernden Lärm einer Baustelle, Presslufthämmer, das geräuschvolle Abladen von Schutt vor dem Gebäude, das seit einer ewig scheinenden Zeit saniert wurde. Richard blickte von seinem Bildschirm auf und schüttelte den Kopf in Richtung des Fensters, so als würde der Lärm ihm gelten und wäre einzig und allein dazu bestimmt, ihn von seiner Arbeit abzuhalten. Doch im nächsten Moment lächelte er, er dachte daran, dass sie es nur noch wenige Stunden hier aushalten mussten, dann wäre dieses Kapitel vorbei, diese Episode in ihrem Leben abgeschlossen. Karoline betrat den Raum, sah ihn auf einer Trittleiter vor zwei aufeinandergestapelten Umzugskartons an seinem Laptop sitzen und lachte unwillkürlich über sein improvisiertes Arbeitszimmer. Sie stellte sich hinter ihn, strich ihm liebevoll über das Haar und blickte auf ihn herab.

    »Kommst du? Der Lastwagen ist gleich da.«

    »Nur noch zwei Absätze.«

    »Komm … Mirko weiß doch Bescheid, das kannst du auch später noch machen.«

    »Ich will das fertig haben.«

    Er nahm die Hände von der Tastatur, bog die Arme nach hinten und umschlang ihre Beine.

    »Wir ziehen um«, sagte sie leise.

    »Ich weiß.«

    Er kniff sie in den Hintern, worauf sie mit gespieltem Schmerz kurz aufschrie und dann das Zimmer lachend wieder verließ. Die Nervosität war ihr dennoch deutlich anzumerken, schon eine Minute später kam sie erneut hereingeflattert, beschwerte sich, dass die Möbelpacker immer noch nicht da seien, verschwand wieder, holte einen Hocker und machte sich daran, die Vorhänge abzuhängen.

    »Lass doch, ich mach das gleich.«

    »Kümmere du dich um deine Texte, ich kann eh nicht still sitzen bleiben, alles andere ist fertig. Wann wollten die noch mal kommen?«

    »Um zehn.«

    Karoline antwortete nicht, sie wusste genauso gut wie er, dass es erst neun Uhr war und sie nichts anderes zu tun hatten, als einfach zu warten, aber gerade das fiel ihr besonders schwer, sie konnte nicht ruhig bleiben, sondern musste immer irgendetwas tun.

    »Soll ich uns was zu essen holen?«, wollte sie schließlich von Richard wissen.

    »Danke, ich habe keinen Hunger.«

    »Du musst etwas essen, der Tag wird bestimmt lang.«

    »Wir können uns etwas machen, wenn wir ankommen. Irgendwas in der Mikrowelle, oder so.«

    »Okay.«

    Sie ließ von den Vorhängen ab und verschwand wieder. Kurze Zeit später hörte Richard sie in der Küche hantieren und musste sich beherrschen, ihr nicht zuzurufen, sie solle die Kartons in Ruhe lassen. Er konzentrierte sich wieder auf seinen Text und versuchte, nicht an den Stress zu denken, der ihnen bevorstand. Bereits vor einigen Monaten hatten sie damit begonnen, ihre Habseligkeiten zu sortieren und Überflüssiges zu entsorgen. Zweimal hatten sie Dinge auf dem Trödelmarkt verkauft, waren mitten in der Nacht aufgestanden, hatten sich den halben Tag lang die Beine in den Bauch gestanden und waren am Nachmittag wieder nach Hause gefahren, ohne dass der Ballast deutlich an Masse abgenommen hätte. Sie hatten Dinge in Kleinanzeigen angeboten, anderes an Freunde und Bekannte verschenkt, vieles an eine gemeinnützige Organisation gespendet und noch mehr weggeworfen. Als sie schließlich in der Wohnung standen, in denen ihre Stimmen unnatürlich nachhallten, weil bereits alles von den Wänden entfernt worden war, was den Schall hätte brechen oder schlucken können, waren sie sich nicht sicher, ob überhaupt etwas fehlte. Die schiere Menge an Kartons war so überwältigend, dass sie sich fragten, ob nicht jemand heimlich noch ein paar Kisten dazugestellt hatte. Richard lächelte bei der Erinnerung daran und dachte kurz an all die Dinge, derer sie sich entledigt hatten. Es war ein langwieriger, komplizierter Prozess gewesen, ein kleiner Abschied bei allem, was sie in die Hand nahmen und bei dem sie abwägen mussten, ob es sie in ihr neues Haus begleiten sollte. Platz hätte es mehr als genug gegeben, aber sie wollten den Umzug zum Anlass nehmen, sich von überflüssigen Dingen zu befreien und unbelastet in ihr neues Leben zu starten. Es hatte viele Diskussionen darüber gegeben, was wichtig war, was überflüssig und woran nur unnütze Erinnerungen hingen. »Aber das hat Tante Erika mir geschenkt!«, war zum Beispiel einer von Karolines Einwänden gewesen. »Wann?«, hatte Richard gefragt, und sie konnte seine Frage nicht beantworten. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, eine ganze Kiste ausschließlich mit Erinnerungsstücken anzulegen, von jedem Verwandten und jeder Reise oder sonstiger Gelegenheit, aber jeweils nur ein einziges Stück. Ferner wurde vereinbart, dass sie diese Kiste nie mehr öffnen würden, es sei denn, das wäre unbedingt nötig. Und sollte das nach dem Ablauf von einem Jahr nicht passiert sein, würden sie die Kiste ohne weitere Diskussion entsorgen. Sie waren sich beide sicher, dass der andere dann Einwände erheben würde, weil ihm eben nach wie vor so viel an den Dingen lag, und so konnten sie sich beide in der Sicherheit wiegen, dass der andere doch noch einen Rückzieher machen würde, wenn es an der Zeit war, ihr Versprechen einzulösen.

    Es klingelte an der Tür, und fast zeitgleich hörte Richard ein freudiges Quietschen aus dem Nebenraum, gefolgt von eiligem Trappeln im Flur, das seltsam donnernd widerhallte, dann das Öffnen der Tür. Karoline hielt sich an der Klinke der geöffneten Wohnungstür fest, lehnte sich zurück und blickte in ihr ehemaliges Schlafzimmer, in dem Richard immer noch ungerührt saß und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, was grandios scheiterte. Er hatte Mirko, seinem Chef, versprochen, dass er die Übersetzung für die neue Website eines mittelständischen Unternehmens der Nachbarstadt heute noch schnell erledigen und ihm umgehend zuschicken würde. Aber er sah jetzt schon, dass er diesem Versprechen kaum gerecht werden konnte, dafür war es einfach zu hektisch hier, jetzt schon, bevor der Umzug überhaupt begonnen hatte. Er sah in Karolines Gesicht, das seitwärts im Türrahmen hing, und stellte sich vor, wie es aussehen würde, wenn ihre Haare immer in diesem seltsamen Winkel abstünden. Er musste unwillkürlich lachen.

    »Was ist los?«, fragte seine Frau, aber er antwortete nicht, sondern winkte nur ab.

    Es dauerte einige Minuten, bis man ein erschöpftes Schnaufen im Treppenhaus vernahm.

    »Vierte Etage Altbau«, murmelte Richard vor sich hin und grinste.

    Karolines Kopf verschwand aus dem Türrahmen, als sie sich wieder zurückschwang und in das Treppenhaus blickte. Trotz des bereits deutlich vernehmbaren Atems war noch niemand zu sehen. Sie wunderte sich darüber, wie jemand, dem eine Treppe derart zu schaffen machte, Möbelpacker sein konnte, der eben diese Stufen nicht nur noch viele Male würde bewältigen müssen, sondern auch noch beladen wäre mit ihren gesamten Besitztümern. Schon sah sie mehrere kraftlos gestrandete Umzugshelfer keuchend im Treppenhaus liegen und nach Sauerstoff verlangen, als ein schmächtiger Bursche um die Ecke bog, der nicht den Eindruck machte, als könnte er mehr als eine leere Kindergartentasche tragen, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein. Das Männchen brauchte einige Augenblicke, bis es sich äußern konnte, während Karoline ungläubig in das Treppenhaus starrte und auf weitere, deutlich muskulösere Menschen wartete, die ihrer Meinung nach jeden Moment folgen mussten.

    »Ich komme wegen der Kochplatten«, wurde ihr endlich entgegengekeucht, und jetzt zeigte sich eine Regung des Verstehens auf ihrem Gesicht.

    »Ach so, klar, komm rein«, sagte sie und zeigte auf die offene Wohnungstür. Der Typ dankte ihr mit einem Blick und ging in die Wohnung, sich neugierig umsehend.

    »Schön hier«, meinte er und winkte zu Richard ins Zimmer, der kurz aufblickte und die Geste erwiderte. Karoline folgte dem Käufer ihrer letzten veräußerbaren Habseligkeit und machte Richard ein Zeichen, das ihm ganz klar zu verstehen gab, was sie von dem Schwächling hielt, den das Ersteigen von ein paar Treppen derart außer Gefecht setzen konnte.

    »Das ist ja in letzter Minute«, sprach sie ihn von hinten an und lächelte gewinnend, als der Käufer sich umdrehte.

    »Tut mir leid, ich habe erst die falsche Bahn genommen, ich dachte, die Dreizehn würde auf jeden Fall den Ring kreuzen, aber dann habe ich die falsche Richtung erwischt und musste zweimal umsteigen. Der Anschluss kam dann auch noch verspätet.« Richard rollte mit den Augen und schüttelte langsam den Kopf, aber ihr Gast war noch lange nicht fertig. »Eigentlich kommt die Bahn ja alle zehn Minuten, aber wenn dann auf der Anzeige steht, dass die nächste Bahn zwölf Minuten Verspätung hat, wie geht das denn? Wenn ich zur Arbeit fahre, nehme ich auch immer die Bahn, aber die Fahrt dauert mal zwanzig und mal dreißig Minuten, manchmal ist die Zeit zum Umsteigen viel zu kurz, die Linien sind einfach nicht gut aufeinander abgestimmt.«

    »Na ja, jetzt bist du ja hier«, hörte Richard Karoline sagen und unterdrückte ein Lachen, denn er konnte sich gut vorstellen, mit welchem Gesichtsausdruck sie diesen Satz von sich gegeben hatte: eine Augenbraue hochgezogen und ungeduldig die Hände ringend, um diese Labertasche möglichst schnell wieder loszuwerden – nachdem er ihnen ihr Geld gegeben hatte, versteht sich.

    »Fünf Euro hatten wir gesagt, oder?«, fragte der Käufer jetzt. »Kann man da noch etwas am Preis machen, ich meine, also, in der Anzeige stand ja Verhandlungsbasis und so …«

    Richard wollte schon aufstehen, in die Küche gehen und diesem unverschämten Typ sagen, er würde die Kochplatten, die noch von seiner Oma stammten, lieber auf den Müll werfen, als sie einem Quatschkopf wie ihm zu überlassen, aber da hörte er Karoline schon resigniert nachgeben. Er entspannte sich wieder und verstand, dass es besser war, dieses Teil, das sie niemals wieder brauchen würden, jetzt schnell loszuwerden, bevor sie es noch weiter mitschleppen mussten. Wenn er ehrlich war, hatten sie die Platten erst jetzt benutzt, als ihr Herd schon verkauft war, und sie in den letzten Tagen irgendwie Wasser erhitzen mussten, um sich ein paar Nudeln zu kochen, die sie direkt aus dem Topf aßen, weil ihre Teller bereits gut verpackt in einem Karton darauf warteten, endlich von starken Armen ergriffen und in ihr neues Zuhause gebracht zu werden.

    »Soll er doch glücklich werden damit«, murmelte Richard vor sich hin und versuchte, sich wieder auf seinen Text zu konzentrieren, was nur für einige Sekunden gelang, denn schon wieder klingelte es an der Tür, was Karoline abermals veranlasste, durch den Flur zu spurten und den Öffner zu drücken. Richard hörte noch ein zaghaftes »Aber das funktioniert noch vollständig, oder? Also, nicht, dass ich nachher zu Hause kochen will und die Platten werden einfach nicht heiß …« aus der Küche und dann nur noch ein dröhnendes Gepolter aus dem Treppenhaus, das ihnen ankündigte, dass die Möbelpacker doch endlich eingetroffen waren. Er klappte seinen Laptop zu und ging zu Karoline in den Flur, ergriff sie von hinten und küsste sie auf den Hals. »Los gehts«, meinte er. Sie drehte sich um, fasste sein Gesicht in beide Hände und gab ihm einen feuchten Kuss auf den Mund. »Ja, los gehts«, erwiderte sie, und er meinte, ihre Augen schimmern zu sehen, konnte es aber aufgrund der schlechten Beleuchtung im Flur nicht genau erkennen. Wegen der fehlenden Glühbirne, dachte er, die der Hausmeister in drei Monaten noch nicht auszuwechseln geschafft hatte. Derartiges sollte jetzt der Vergangenheit angehören, es würde keine Hausmeister mehr geben, ab sofort waren sie Hausbesitzer und würden sich um jede kaputte Glühbirne selbst kümmern müssen. Es würde keine Anrufe beim Vermieter mehr geben, wenn es irgendetwas zu regeln gab, kein ewiges Warten mehr darauf, dass die Angelegenheit tatsächlich geregelt würde, und keine Recherchen mehr, ob der Vermieter wirklich ermächtigt war, ihnen die Rechnung für die letztendlich erfolgten Maßnahmen zu präsentieren. Es würde auch kein Klopfen an der Wand mehr geben, keine schlaflosen Nächte, weil die Nachbarn hinter den papierdünnen Wänden sich gerade einmal wieder besonders lieb hatten oder der Kerl über ihnen meinte, es wäre ein völlig akzeptables Verhalten, nachts um halb eins eine Stepptanzgruppe mit Skischuhen in der Wohnung proben zu lassen und dabei unkontrolliert mit schweren Gegenständen auf ein ungestimmtes Klavier einzuschlagen.

    »Also vier Euro?«, hörten sie es plötzlich hinter sich flüstern. Sie drehten sich gemeinsam zum Käufer des ungeliebten Erbstücks herum und fingen gleichzeitig an zu lachen, was ihren Gegenüber sichtlich irritierte.

    »Weißt du was?«, sagte Richard in einem Anflug von Mitleid und boshaftem Humor, »ich schenke dir das Ding, koch dir eine ordentliche Hühnersuppe, damit du wieder zu Kräften kommst nach dieser Bergtour hier.«

    Karoline prustete los und sah Richard erstaunt an, der selbst nicht ganz glauben konnte, was er da gerade von sich gegeben hatte. Wollte er vor ein paar Minuten sein Erbstück nicht noch lieber auf den Müll werfen, als auch nur ein bisschen im Preis nachzugeben? Aber der Ausdruck, den er jetzt auf dem Gesicht des so unfreiwillig Beschenkten sah, entschädigte ihn sofort.

    »Im Ernst jetzt?«, fragte dieser ungläubig und außerstande zu verstehen, was Richard mit seiner Bemerkung eigentlich hatte sagen wollen.

    »Im Ernst«, erwiderte Karoline und zeigte auffordernd auf das Treppenhaus, durch das sich, den Geräuschen nach zu urteilen, jetzt eine ganze Armee mit schwerem Räumgerät zu ihnen emporarbeitete. »Viel Spaß damit.«

    Leider hatte ihre Freigiebigkeit nicht die erwünschte Wirkung, sondern schien mehr Anlass dazu zu sein, das Geschenk noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen, so als wäre es völlig unmöglich, dass man irgendwo irgendetwas geschenkt bekommen könnte, ohne dass mindestens ein paar schäbige Hintergedanken damit verbunden sein mussten.

    »Und damit ist wirklich alles in Ordnung?«

    In der Zwischenzeit hatten die Mitarbeiter des Umzugsunternehmens ihre Etage erreicht und warteten auf weitere Anweisungen, woraufhin Karoline kurzerhand die Leitung der Operation übernahm.

    »Einfach rein, alles einpacken, die Kartons sind markiert, die Möbel haben Aufkleber mit Angaben, in welchen Raum sie sollen, wir hängen noch die Vorhänge im Schlafzimmer ab und kümmern uns um den Kleinkram.«

    In Richtung des so unglücklich Beschenkten zischte sie: »In der Wohnung sind Steckdosen, probier das Ding aus und nimm es dann mit. Oder lass es liegen, das ist mir egal, aber steh uns nicht im Weg rum.«

    Damit überließ sie ihn seinem Schicksal und verschwand in der Wohnung, um die letzten Kleinigkeiten einzusammeln.

    Ein letztes Mal gingen Karoline und Richard durch ihre alte Wohnung, kontrollierten zum einhundertsten Mal jeden einzelnen Raum, sammelten hier noch einen liegen gebliebenen Nagel ein, wischten dort noch eine Wollmaus zusammen, um sie in der Toilette herunterzuspülen. Schließlich gab es nichts mehr zu tun, dieses Zuhause war nicht mehr das ihre. Sie sahen sich kurz an, nahmen ihre letzten Habseligkeiten und den Putzeimer und verschlossen die Tür endgültig hinter sich. Im Treppenhaus kam es ihnen seltsam vor, dass sie nie mehr diese Stufen benutzen sollten, nie mehr den Flur betreten, der immer – so auch jetzt – etwas nach scharfen Reinigungsmitteln roch wie ein alter Schulflur, nie mehr durch diese Fenster sehen auf die Dauerbaustelle im Gebäude gegenüber, die ein Grund dafür gewesen war, diesem Stadtteil den Rücken zu kehren.

    »Keine geklaute Post mehr, was?«, sagte Karoline, als sie im Rahmen der Haustür standen, die nie richtig schließen wollte und es jedem, dem es danach bedurfte, immer noch erlaubte, sich Zugang zum Haus zu verschaffen und den Inhalt der Briefkästen nach Herzenslust zu durchstöbern.

    »Nein, wohl nicht«, stimmte Richard ihr zu, »und keine Treppen mehr. Wir werden fett werden.«

    »Wahrscheinlich«, lachte seine Frau und fügte hinzu, dass sie ein Fitnessprogramm erarbeiten müssten, um ihre Figur zu halten.

    Sie standen Arm in Arm vor dem Haus, blickten an der Fassade hoch und suchten den kleinen Balkon und die Fenster, die nicht mehr ihnen gehörten. Fast war es, als wäre ihnen mit dem Abschied auch das Haus schon etwas fremd geworden, als wäre schon jemand anderes eingezogen. Hatten sie wirklich all die Jahre hier gewohnt, war das ihr Heim, ihr Zuhause gewesen? Hatten sie aus diesen Fenstern auf die Welt geblickt und sie durch diese Fenster zu ihnen herein? Richard schüttelte sich ein wenig bei diesem Gedanken, es war ihm fremd, in solch emotionalen Kategorien zu denken, aber doch konnte er in diesem Moment nicht anders. Karoline interpretierte seine Regung falsch und zog ihn auf die Straße, auf der der Umzugswagen sich gerade in Bewegung setzte. »Komm, lass uns fahren, mir wird auch langsam kalt hier.«

    Sie gingen zu ihrem Auto, verstauten die kleinen Dinge, die sie noch trugen, im Kofferraum und fuhren dem Laster hinterher.

    »Was wollen wir eigentlich da?«, fragte Karoline etwa auf der Hälfte des Weges.

    »Wo?«

    »Am Haus.«

    »Ist das nicht ein wenig spät, jetzt darüber nachzudenken?«

    »Nein, ich meine, jetzt, in diesem Moment. Was sollen wir jetzt da, wir stehen doch bestimmt nur im Weg rum.«

    Richard dachte einen kurzen Moment nach und setzte dann zu einem Überholmanöver an. Er schob sich vor den Umzugslaster und wartete auf die nächste rote Ampel. Dann stieg er aus dem Wagen aus, rannte nach hinten und kam kurze Zeit darauf ziemlich außer Atem wieder zurück. Er grinste Karoline an und fuhr weiter.

    »Wo geht es hin?«, fragte sie.

    »Ich weiß nicht, schlag etwas vor, die Jungs haben jetzt den Schlüssel und wissen, wo alles hinmuss. Wir können tun, was wir wollen und uns nachher ins gemachte Nest setzen.«

    So fuhren sie zu einem Restaurant und konnten sich danach nicht darauf einigen, ob und wenn ja, in welchem Hotel sie übernachten sollten. Viel später kamen sie dann doch an ihrem Haus an, in das gerade noch die letzten Möbel gebracht wurden. In den Räumen herrschte ein unbeschreibliches Chaos.

    »Können die alle nicht lesen, oder was?«, bemerkte Richard. »Auf dem Karton hier steht ›Bad‹, und wo haben die den abgeladen? Im Schlafzimmer.«

    »Das wird ja lustig morgen …«

    Während sie sich noch wunderten, wie sie diese Unordnung jemals bewältigen sollten, kam einer der Möbelpacker mit einem Zettel auf sie zu.

    »Wir brauchen da noch eine Unterschrift.«

    »Wozu?«

    »Dass alles heil angekommen ist und nichts fehlt.«

    »Woher sollen wir das denn wissen?«, schnappte Karoline, »Die Kartons sind ja noch nicht einmal in den richtigen Zimmern!«

    »Wir können auch gerne alles wieder einpacken«, meinte der Umzugsfachmann ohne eine Spur von Anteilnahme und hielt ihr weiter den Zettel hin.

    »Das unterschreibe ich auf keinen Fall«, sagte Karoline, aber man merkte, dass sie keine Kraft mehr hatte, um Widerstand zu leisten. Würde ihr der Zettel noch zwei oder drei weitere Minuten vor die Nase gehalten werden, sie würde alles unterschreiben, auch wenn es bedeutete, dass sie damit auf Lebenszeit Dinge abonnierte, für die sie niemals Verwendung hätte. Auch Richard merkte, dass sie auf verlorenem Posten standen. Was sollten sie tun, wenn die Arbeiter ihre Sachen einfach wieder einpackten und mitnahmen? Er glaubte nicht, dass sie das wirklich tun würden, aber hätten sie nicht die Möglichkeit? Was würde dann passieren? Die Aktion würde bis mitten in die Nacht dauern, sie würden in leeren Räumen sitzen und noch nicht einmal Toilettenpapier oder eine saubere Tasse für einen Kaffee haben.

    »Wir werden uns beschweren«, kündigte er an, erntete aber nur ein müdes Achselzucken, das Machtgefälle war eindeutig, und jeder hier wusste es. Verärgert schmierte er seine Unterschrift auf den Zettel, ohne weiter zu lesen, was er da überhaupt abzeichnete, drehte sich herum und verschwand in irgendeinem vollgestellten Zimmer, nur um etwas räumliche Distanz zwischen sich und demjenigen zu schaffen, der ihnen diese Niederlage zugefügt hatte.

    Als die Haustür ins Schloss gefallen war, kam Karoline ihm nach und umarmte ihn.

    »Komm, wir lassen uns doch jetzt den Tag nicht verderben. Lass uns die Matratzen suchen.«

    Und das taten sie.

    Der nächste Morgen kündigte sich wieder durch strahlenden Sonnenschein an, der darüber hinwegtäuschte, dass es in der Frühe noch eiskalt war. Richard wachte auf und streckte sich auf der unbezogenen Matratze, die Betttücher hatten sie am vorigen Abend nicht mehr ausfindig machen können. Kaum hatte er die Augen geöffnet, kam Karoline auch schon ins Zimmer und stellte ihm eine Tasse Kaffee vor die Nase.

    »Woher hast du den denn?«, wollte er wissen. Er hatte erwartet, dass sie sich in den nächsten Wochen ausschließlich von dem ernähren würden, was ihnen diverse Lieferdienste direkt an die Haustür brachten.

    »Ich weiß doch, was du morgens brauchst«, flötete sie und verschwand wieder. Er blickte ihr nach, hatte aber seine Brille noch nicht wiedergefunden und konnte sie so nur schemenhaft wahrnehmen. Er tastete rund um die Matratze, fand endlich seine Brille, setzte sie auf und quälte sich langsam unter der wärmenden Decke hervor. Die Tasse mit beiden Händen umschlossen, starrte er ziellos aus dem Fenster, und es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass im Hause gegenüber ebenfalls jemand stand und ihm jetzt zuwinkte. Es dauerte noch etwas länger, bis er gewahr wurde, dass er nur eine Unterhose trug. Etwas verschämt winkte er zurück und trat dann langsam, fast beiläufig vom Fenster zurück, um seinen Körper aus dem ihn komplett ausleuchtenden Sonnenschein zu entfernen.

    »Wir brauchen Vorhänge!«, rief er über seine Schulter, wusste aber nicht, ob seine ihn Frau überhaupt hören konnte, sie mochte überall im Haus sein, im Erdgeschoss oder sogar im Keller. Er durchschritt den Flur und gelangte so auf die Vorderseite des Hauses, von wo aus er einen Blick auf das »Dorf« hatte, wie sie es bisher immer scherzhaft genannt hatten, wobei dieser Begriff aber gewiss nicht völlig unzutreffend war. Sie wohnten jetzt in einem Vorort der großen Stadt, der sich in den letzten Jahren stark entwickelt hatte. Ihr Haus stammte noch aus alter Bausubstanz und gehörte zu einer ganzen Serie von identischen Häusern aus dunkelrotem Backstein und mit steilen Dächern, die sich um einen Platz gruppierten, auf der ein alter, hoher Kastanienbaum stand. Unter diesem gab es ein paar Bänke und in der Mitte des Platzes einen Spielplatz mit einem großen Sandkasten, einem antiken, bereits angerosteten Klettergerüst, das offenbar vor langer Zeit einmal bunt lackiert gewesen war, einer verbeulten Rutsche und zwei blank geriebenen Turnstangen. Schon jetzt und trotz der morgendlichen Kälte waren einige Kinder auf dem Platz unterwegs, spielten im Sand und jagten sich schreiend um die Bäume. Die den Platz umringenden Straßen bestanden aus altem Kopfsteinpflaster und durften nur in einer Richtung befahren werden, vor den Häusern parkten die Autos der Anwohner, die dafür einen speziellen Ausweis benötigten. Die relative Abgeschiedenheit der kleinen, ehemaligen Vorortsiedlung hatte den Ausschlag gegeben für ihre Entscheidung, sich hier niederzulassen. In den Häusern, die den Platz einfassten, lebten viele junge Familien und einige ältere Paare, die Straßen waren ruhig, der Spielplatz in Sichtweite und die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr in die Stadt in zehn Minuten zu Fuß zu erreichen. Ganz besonders gefallen hatte ihnen der alte Baumbestand auf dem Platz, sie sahen sich schon an lauen Sommerabenden unter der Kastanie sitzen und ihren Kindern beim Spielen zusehen, aber bis dahin sollte noch etwas Zeit vergehen. Rund um die alte Siedlung wurde das Land rapide erschlossen und mit neuen Siedlungen bebaut, die wie Pilze aus dem Boden schossen und beinahe über Nacht zu entstehen schienen. Sie hatten sich auch einige Häuser in der näheren Umgebung angesehen, konnten jedoch dem Charme der kleinen, dicht aneinander gedrängten, beinahe märchenhaften Backsteinhäuser mit ihren kleinen Fenstern nicht widerstehen. Auch kamen ihnen die neuen Siedlungen seltsam kahl und leer vor, selbst wenn allerorts Menschen zu sehen waren, würde es noch Jahrzehnte dauern, bis die überall eingesetzten jungen Bäume dem Betrachter das Gefühl vermitteln würden, dass man nicht in einer Betonwüste lebte.

    Karoline tippte Richard von hinten an die Schulter, woraufhin dieser erschrocken zusammenzuckte.

    »Was machst du hier?«, wollte sie wissen.

    »Ich sehe mir den Platz an.«

    »Der ist toll. Besonders für Kinder.«

    Er sagte nichts, nickte nur und legte ihr den Arm um die Hüfte. Ihre Familienplanung war bis zu dem Punkt gediehen, dass sie sich entschlossen hatten, dass sie es »versuchen« wollten, sobald sie alles eingerichtet und sich eingelebt hatten. Bis dahin würden sie beide weiterhin arbeiten und dafür sorgen, dass sich der kleine Berg an Schulden, der sich durch den Kauf des Hauses bei ihren Eltern angehäuft hatte, etwas verringerte. Wäre es nach Richard gegangen, würden sie immer noch in ihrem Altbau wohnen und dort auch so bald nicht ausziehen, aber durch gutes Zureden seiner Frau, ihrer beider Eltern und einiger Freunde, wurde seiner trägen Entscheidungsfreudigkeit etwas auf die Sprünge geholfen, und so hatten sie sich letztendlich entschlossen, ihre Zelte in der Innenstadt abzubrechen und umzuziehen. Es hatte einiges an Überzeugungsarbeit seitens Karoline gebraucht, bis ihr Mann einsah, dass sie die vielfältigen Möglichkeiten, die die Stadt bot, doch nicht wahrnahmen, dass sie abends doch viel zu müde waren, um noch auf ein Bier in die Altstadt zu fahren, ins Kino zu gehen oder andere Ausflüge zu machen. Und wenn es erst einmal so weit sein sollte, dass sie eine Familie gründeten, wäre es sowieso vorbei mit dem Nachtleben, das wussten sie aus allzu lebhaften Erzählungen von Karolines Schwester Marie, die sie mehr als einmal bekniet hatte, sie sollten ihre Freiheit ausnutzen, solange es noch möglich war.

    Kapitel Zwei – Initiationsriten

    Der Himmel zeigte sich in einem leuchtenden Blau, keine Wolke störte die endlos scheinende Fläche, die sich über die Welt spannte. Die Temperatur hatte sich kaum verändert, die Menschen und Tiere, die die Straßen entlanggingen, stießen Dampfwolken aus wie kleine Lokomotiven, die ihre endlosen Runden um den Platz und die Siedlung zogen. Das Haus, in dem gestern die Neuen angekommen waren, war von allgemeinem Interesse, man sah neugierig durch die vorhanglosen Fenster, allein, man konnte nichts erkennen, die beiden werkelten irgendwo unsichtbar im Inneren oder im ersten Stock und bemerkten nichts von dem schönen Wetter, das sie so freundlich willkommen hieß.

    »Die schlafen bestimmt noch, hast du gesehen, wie spät der Laster gestern erst weg war?«, fragte Petra Eisenbach ihre Freundin Chris Obering, während sie auf der Bank am Spielplatz saßen und zusahen, wie Chris’ Tochter Emma sich ausdauernd Sand in ihre Gummistiefel schaufelte und Petra versuchte, ihren kleinen Fritz durch heftiges Schaukeln des Kinderwagens in den Schlaf zu wiegen, was gründlich misslang. Sie stand auf und nahm den Jungen aus dem Wagen, rümpfte daraufhin die Nase und fing an, in einer Wickeltasche nach den nötigen Utensilien zu angeln, die sie brauchen würde, um ihren Sohn trockenzulegen.

    »Ne, wann denn?«, fragte Chris und fuhr fort: »Die standen aber eben schon am Fenster. Ich könnte auch nicht schlafen, wenn die ganze Bude voller Kartons steht.«

    »Ich hab immer noch welche, die nicht ausgepackt sind, und wie lange wohne ich jetzt hier?«, lachte Petra, mit spitzen Fingern eine Windel zusammenrollend.

    »Zweieinhalb Jahre nächsten Monat«, wusste Chris. »Woher weißt du eigentlich, wann die gestern fertig waren?«

    »Das war doch nicht zu überhören, außerdem musste Max mir heute Morgen erst mal alles erzählen, bevor er losgerannt ist.«

    »Ach der …« Chris schüttelte den Kopf und blickte zum Haus herüber, in dem Max Grohn wohnte, ein alleinstehender Mittvierziger, der sich einbildete, in der Siedlung so etwas wie der Dorfpolizist sein zu müssen. Jeden Morgen startete er zu einer Runde durch die Siedlung, angezogen wie ein harmloser Jogger, aber alle hier wussten, dass er es war, der Falschparker meldete und darüber wachte, wer den Bürgersteig nicht von Blättern und Schnee befreit hatte, wenn die Reihe an ihm war. So bestritt er seine morgendlichen Ausflüge kaum der Fitness wegen, auch wenn er nicht müde wurde, das zu beteuern und sich mit kostspieliger Ausrüstung zur Messung seiner täglichen Leistung zu behängen. Seine eigentliche Motivation war anscheinend eher die Kontrolle, ob Recht und Gesetz in seinem Revier befolgt wurden.

    »Der hat bestimmt auch schon Tunnel unter dem Platz angelegt, um in alle Keller zu kommen und zu überprüfen, ob nicht jemand illegal Schnaps brennt oder so«, schnaubte Chris und drehte sich wieder dem neu bezogenen Haus zu. »Wer ist eigentlich Pate?«, fragte sie, als Petra zurückkam, die Windel in einer Hand haltend und ihren Sohn auf dem anderen Arm balancierend.

    »Nicole und Harry.«

    »Ah, stimmt. Waren die schon da?«

    »Keine Ahnung, glaube nicht. Antonia ist aber auch immer noch krank, soweit ich weiß. Harry ist gestern noch spät zur Apotheke, um irgendein Wundermittel zu holen.«

    Chris lachte laut auf, sagte aber nichts.

    »Hör auf«, tadelte Petra sie mit einem Lächeln, das verriet, dass sie ebenso über die Angewohnheit der Guntermanns dachte, ihre Kinder ausschließlich mit Naturmitteln zu behandeln, was zur Folge hatte, dass diese wochenlang mit einer kleinen Erkältung herumliefen und ständig von einem zum anderen Arzt geschleppt werden mussten, bis auch dieser nicht mehr weiter wusste. In diesem Moment kam Max um die Ecke gebogen und schnaufte mit einem angedeuteten Winken an ihnen vorbei. Die beiden Frauen sahen ihm belustigt nach und wechselten dann einen vielsagenden Blick.

    Petra war in der Schwangerschaft vom Vater ihres Kindes verlassen worden und die einzige alleinerziehende Mutter in der Siedlung. Sie war gerade einmal Mitte zwanzig, trug eine modische Hornbrille, war etwas untersetzt und wäre von einem Außenstehenden wahrscheinlich als »gemütlich« beschrieben worden. Sie hatte das Haus von ihren Großeltern geerbt und schon mehrfach geäußert, dass sie in der Innenstadt besser aufgehoben sei, hatte aber nie ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Siedlung wirklich zu verlassen. Das lag zum einen daran, dass ihre beste Freundin ebenfalls hier wohnte, zum anderen, dass sie keine Lust hatte, sich um die Wohnungssuche zu kümmern, um die Vermietung ihres Hauses und alles, was sonst noch damit zusammenhing. Jetzt strich sie sich eine lange Strähne aus der Stirn und sah Max etwas neidisch hinterher.

    »Auch wenn der Typ spinnt, jeden Morgen Sport, bei jedem Wetter … Respekt.«

    Chris nickte anerkennend. »Das könnte mir auch nicht schaden.«

    »Frag mich mal!«, lachte Petra und schlug sich mit der flachen Hand auf den Bauch. »Es gibt tatsächlich Frauen, die sehen direkt nach der Geburt schon wieder aus wie ein Hungerhaken, und dann guck dir mal das hier an.« Sie pikte mit ausgestrecktem Finger in ihren Bauch, der durch die dicke Jacke so vollständig verdeckt war, dass man ihren Umfang gar nicht erkennen konnte.

    »Ach komm …«, sagte Chris und lehnte sich entspannt zurück. »Morgen Harry!«, rief sie plötzlich und winkte jemandem zu, den Petra nicht sehen konnte, da sie gerade wieder an Fritz’ Kinderwagen herumwurschtelte, in dem der Kleine jetzt zufrieden lag und mit den Händen nach einigen bunten Holzperlen schlug, die über seinem Gesicht baumelten. Sie drehte sich um und winkte ebenfalls, was Harry als Einladung verstand. Er kam zu ihnen herüber, rieb sich die Hände und sah die beiden belustigt an.

    »Bei dem Wetter schon draußen? Tapfer.«

    »Du doch auch«, konterte Chris.

    »Ja, aber ich wollte nur eben, ähm … Karo und Richie begrüßen«, meinte er verschmitzt.

    »Nenn die bloß nicht so«, warnte Petra.

    »Warum nicht? Hast du schon mit ihnen geredet?«, wollte Harry wissen.

    Petra schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Richie ist ein total dämlicher Name, mach das bloß nicht. Frag die beiden erst mal, sonst bist du sofort unten durch.« Sie setzte sich wieder und schlug ein Bein über das andere. »Ich hatte früher mal eine Kollegin, Frederike, die habe ich aus Spaß mal »Freddy« genannt, da war aber was los!« Sie lachte bei der Erinnerung. »Die konnte man aber auch mit einem Mann verwechseln, vielleicht habe ich gerade da einen wunden Punkt getroffen.«

    Harry lachte und schlug sich die Arme um die Brust. »Okay, ich gehe es mal langsam an, bis später.«

    »Bis später«, sagte Chris, »hast du schon einen Termin für die Party?«

    Harry hatte sich schon zum Gehen gewandt, blieb aber jetzt noch einmal stehen und drehte sich den beiden Frauen wieder zu. »Noch nicht«, meinte er und schüttelte den Kopf, »aber ich dachte, Samstag würde passen, oder? Das Wetter soll auch gut sein, und solange es nicht regnet, können wir hier draußen grillen.«

    »Du immer mit deinem Grill!«, rümpfte Chris die Nase und fing an zu lachen, als Harry entgegnete »Wer kam bei der letzten Feier denn noch um Mitternacht mit einer Schubkarre voll Würstchen und wollte unbedingt mehr?«

    »Okay, also grillen. Bis später.«

    »Tschüss ihr zwei.«

    »Wir sind zu viert!«

    »Entschuldigung.«

    Im Haus der Familie Himmel, das die Nummer Elf, aber noch kein Namensschild an der Klingel trug, wurde in der Zwischenzeit geschäftig gewütet. Karoline und Richard war aufgefallen, dass nicht nur die Kartons völlig durcheinander waren, auch die Möbel waren nicht korrekt aufgebaut worden, teilweise sogar in den falschen Räumen.

    »Sag mal, habe ich eine solche Sauklaue, dass man »Keller« nicht von »Schlafzimmer« unterscheiden kann, oder was ist los?«, schrie Karoline ihrem Mann zu.

    »Wahrscheinlich. Aber wie kann man so blöd sein und ein Kellerregal in einen Wohnraum stellen?«

    »Wenn die Rechnung kommt, können die sich auf etwas gefasst machen, da hätten wir den ganzen Umzug lieber selber gemacht und alles einzeln hier rübergetragen.«

    »Das wäre auch schneller gegangen.«

    Die Kartons stapelten sich bis an die Decke, mitten im Wohnzimmer stand ein massiver Schrank, den sie selbst zu zweit nur mit Mühe bewegen konnten, im Schlafzimmer gab es das erwähnte Metallregal, das in den Keller gehörte, und die Kisten mit den frischen Sachen zum Anziehen waren überhaupt noch nicht aufgetaucht. Es dauerte eine Zeit, bis sich die beiden erschöpft in der Küche trafen, dem einzigen Raum, in dem die Möbel korrekt aufgebaut waren, was aber auch nur dem Umstand geschuldet war, dass sie sich vor einigen Wochen schon damit auseinandergesetzt hatten, welche Küche sie gerne hätten, wie viel diese kosten dürfte und wo man diese erstehen sollte. Das Ergebnis war zwar, dass sie sich finanziell ein wenig übernommen hatten, was eines weiteren demütigen Gangs zu Karolines Vater bedurft hatte, aber das Argument, dass sie ja nie wieder eine Küche kaufen müssten, wenn sie jetzt etwas qualitativ Hochwertiges nahmen, hatte bei dem gestandenen Kaufmann gezogen. So waren sie jetzt im Besitz einer mit allen Schikanen ausgestatteten Küche in modernem Design und zeitlosen Farben, zukunftssicher und auch robust genug, um neugierigen Kindern widerstehen zu können, so hatte es ihnen der Verkäufer erklärt – ihre Zukunftspläne schamlos erratend.

    Richard schnaufte, seine Haare waren verschwitzt, er trug noch immer das Hemd, in dem er schon geschlafen hatte, er war barfuß und suchte verzweifelt nach seiner Tasse, um der bereits unüberschaubaren Serie von getrunkenen Kaffees noch einen hinzuzufügen.

    »Wo ist bloß dieser blöde Kaffeebecher?«

    »Nimm meinen.«

    »Danke.«

    Er griff nach Karolines Tasse, nahm einen Schluck daraus und verzog das Gesicht, als das kalte, abgestandene Getränk durch seine Kehle floss. Er setzte das Gefäß angewidert ab, nahm eine Flasche Wasser und spülte sich geräuschvoll den Mund aus.

    »Lass uns mal einen Plan machen, was wir in welcher Reihenfolge tun wollen, damit wir nicht morgen noch Socken suchen.«

    »Ich habe Socken«, meinte Karoline grinsend.

    »Ja, aber wie lange hast du die schon an?«, fragte Richard und machte eine übertriebene Grimasse.

    »Guck dir dein Hemd an.«

    »Okay. Ich würde sagen, wir suchen alle Kartons, die in die Küche gehören, und räumen die erst mal aus, oder? Dann können wir was zu essen machen, haben Tassen für Kaffee und die Kartons aus den Füßen. Danach stellen wir ein paar Möbel richtig, diesen Schrank im Wohnzimmer zum Beispiel, und suchen dann die Kisten mit den Sachen, die da reingehören.«

    »Zu Befehl«, schnarrte Karoline und hob eine Hand zum Gruß an die Stirn.

    »Hast du eine bessere Idee?«, gab Richard leicht genervt zurück und nahm noch einen Schluck Wasser, um seiner Frau die Gelegenheit zu geben, sich eine passende Antwort zurechtzulegen. Die dachte aber gar nicht daran, sich ihre gute Laune verderben zu lassen.

    »Jetzt schimpf hier mal nicht rum, wir haben alle Zeit der Welt.«

    »Leider nicht, ich muss Mirko morgen Abend noch ein paar Texte schicken, bis dahin sollten wir meinen Computer gefunden und irgendwie ins Internet gebracht haben.«

    »Okay, dann entscheide dich: Kaffeetassen oder Internet?«

    Richard grummelte etwas Unverständliches vor sich hin und antwortete nicht. Er ging ans Fenster und blickte auf den Park. Die Kartons in seinem Rücken schienen sich zu einer unüberwindlichen Wand aufzutürmen und ihn zu erdrücken. Er schüttelte das Gefühl ab und versuchte, in kleinen Schritten zu denken, um das Chaos bewältigen zu können. Warum hatten sie ihren Freunden gesagt, dass sie nicht helfen mussten? Warum wollten sie das hier alles selbst machen? War das purer Stolz, Ehrgeiz, es allein schaffen zu können, oder einfach nur Dummheit? Er wandte sich wieder Karoline zu, sah sie aber nicht an, sondern starrte auf den Boden, der dreckige Fußstapfen der Möbelpacker vom gestrigen Abend zeigte.

    »Okay, dann los«, sagte er. Es klang resigniert.

    »Dann los was?«

    »So, wie du gesagt hast.«

    »Och, Mann, jetzt komm. Ich habe auch noch die

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