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Lebenskunst ...oder wie ich das Fürchten verlernte
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eBook347 Seiten4 Stunden

Lebenskunst ...oder wie ich das Fürchten verlernte

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Über dieses E-Book

In ihrer Autobiographie spannt Paula Mairhofer einen Bogen von den Trümmern der Nachkriegszeit in die Postmoderne, von der Kindheit in einem fränkischen Dorf zu vielen Ländern, Kulturen und Menschen, von der Rigorosität klösterlicher Erziehung zu der wahren Freiheit einer Christin. Einfühlsam setzt sie sich mit den spannungsgeladenen Themen von Heimat und Fremde, Karriere und Familienglück, von unausweichlichem Schicksal und Entscheidungsfreiheit auseinander. Sie erzählt Geschichten aus einem spannenden Leben, die den Leser nicht unberührt lassen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Okt. 2019
ISBN9783749746668
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    Buchvorschau

    Lebenskunst ...oder wie ich das Fürchten verlernte - Paula Mairhofer

    EIN GESCHENK

    Ich sitze im Liegestuhl auf der Terrasse und genieße die sanften Sonnenstrahlen. Mein Blick schweift über die Blütenpracht im Garten. Versteckt unter dichten Ziergräsern haben Haubenlerchen ein Nest gebaut und versorgen eifrig ihre Jungen. Mit Würmern und Insekten im Schnabel fliegen sie auf die Gartenmauer, sondieren von dort die Lage, und wenn die Luft rein ist, bringen sie das Futter mit tapsigen Schritten, immer Tarnung suchend zu den hungrigen Schnäbeln im Nest. Meine Anwesenheit stört sie nicht, denn ich sitze regungslos in meinem Stuhl und freue mich an dem geschäftigen Treiben. Die eigene Untätigkeit fällt mir nicht leicht, aber eine äußerst schmerzliche und langwierige Knochenmarkerkrankung zwingt mich in diese müßige Beobachterrolle. Dass ausgerechnet ich, der ich stets auf Leistung fokussiert war, zum Nichtstun gezwungen bin ärgert mich! Ständig gab es Wichtiges zu erledigen, sei es im Beruf, in der Kindererziehung oder im Haushalt, und am Ausgang der erbrachten Leistung maß ich meinen Selbstwert. Ich setzte die Messlatte hoch und stellte große Ansprüche an mich selbst und damit an mein Umfeld. Leistung lohnte sich und brachte den ersehnten Erfolg, war meine Devise. Aber jetzt ist mein Credo ins Wanken geraten. Ich muss es geschehen lassen, dass mein lieber Mann Max mir den Kaffee und alles andere, dessen ich bedarf, an den Tisch bringt, da ich schwerfällig auf Krücken gestützt nichts außer mich selbst bewegen kann. Neulich trug mich mein Sohn Philipp abends die Stufen hoch ins Bad, weil er sah, wie jede meiner Bewegungen schmerzte und mir helfen wollte. Aber in dem Moment wusste ich nicht, ob seine gut gemeinte Geste nicht noch quälender für mich war als alle körperlichen Schmerzen, weil sie mir vor Augen führte, dass ich absolut hilfsbedürftig bin! Dass die Mutter kleine Kinder trägt und umsorgt, gehört zu ihren Aufgaben, aber dieser Rollentausch macht mich wütend! Auf die Wut folgen Resignation und Selbstzweifel, bis ich schließlich in langen Gesprächen mit Max lerne, dass ich wertvoll und angenommen bin, auch ohne Leistung. Und ich lerne auch verstehen, was Dankbarkeit wirklich bedeutet. „Seid dankbar IN allem", ein Bibelvers (1. Thessalonicher 5.18) erschließt sich mir zum ersten Mal in seiner ganzen Tragweite: IN der Krankheit darf ich dankbar sein für Max und die Kinder, die mich liebevoll umsorgen. Jetzt erledigt mein Mann Aufgaben, die immer mein Bereich waren. Als wir uns vor 40 Jahren kennenlernten, gab es noch eine klare Aufgabentrennung zwischen den Geschlechtern. Aber meine Krankheit löst schließlich auch dieses alte Paradigma auf.

    Dankbarkeit führt zu Gelassenheit und öffnet den Blick für Neues: ich habe zwei gesunde Hände und kann schreiben! Einen ganzen Sommer lang und auch noch im Herbst bis in den Winter hinein habe ich plötzlich Zeit ein Vorhaben zu verwirklichen, das eher nur eine Idee oder ein Wunsch war, das ich jedoch aus Zeitmangel bisher nicht umsetzen konnte. Aber durch meine Krankheit ist mir plötzlich die Zeit geschenkt, Geschichten aus meinem Leben aufzuschreiben. Geschichten aus meinem Leben erzählte ich früher unseren drei Kindern, wenn wir im Stau standen, um ihnen die Zeit zu vertreiben und spürte ihre Neugier. Die meisten Kinder wissen aus dem Leben ihrer Eltern wenig, und eine weiter in die Vergangenheit reichende Familiengeschichte ist oft nicht bekannt. Dabei wäre es aufschlussreich und interessant, mehr von den eigenen Eltern zu wissen. Ich bat meinen Vater, das Ungesagte und Unsagbare der Kriegsgeneration niederzuschreiben. Aber meine Bitte verhallte ungehört. Weil er arbeitete, fand er zunächst keine Zeit zum Schreiben. Und schließlich war es zu spät zum Schreiben. Schade!

    Mir ist jetzt die Zeit geschenkt, Geschichten aufzuschreiben, die sonst für immer ungesagt bleiben und verloren gehen. Meine persönliche Geschichte ist ein Spiegel der Zeit und des Zeitgeistes der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Spiegel von Normen und Werten, die sich im Laufe eines einzigen Lebens radikal verändert haben.

    Schon immer hat mich das Denken in Geschichte fasziniert, die Beschäftigung mit vergangenen Ereignissen, die Spuren hinterlassen und unser ganzes Leben prägen. Geschichte bedeutet, dass jeder die Vergangenheit der Gesellschaft erbt, der er sich zugehörig fühlt. Und wie das so ist, ein Erbe kann sowohl Reichtum als auch Last sein. In jeder Hinsicht tragen wir die Verantwortung uns damit auseinanderzusetzen und sorgsam damit umzugehen.

    Ich kann mich nicht mit den Großen der Welt messen, die ihre Taten rühmen. Ich habe keine Schlachten geschlagen, kein hohes Amt bekleidet und auch kein Kunstwerk gestaltet. Ich habe keine herausragenden Leistungen erbracht. Ebenso wenig war ich unmittelbare Zeugin der Taten von Großen oder von historischen Ereignissen, die einen Karrierebericht rechtfertigen würden. Trotzdem schreibe ich über mein Leben, weil die Vergangenheit nicht nur den Mächtigen gehört, die in den historischen Werken ihren gebührenden Platz finden, sondern die Vergangenheit wurde, wenn auch auf andere Weise, von den unzähligen Namenlosen gestaltet, erlebt, erduldet und erfahren und findet ihren Niederschlag in den Berichten einfacher Leute.

    Meine Generation spannt den Bogen zurück in das versunkene, unter der Last des Alterns ächzende letzte Jahrtausend vor die Neuerungen des Informationszeitalters, ebenso wie in das dunkelste Jahrhundert unserer Geschichte, als in den Ruinen der unsagbar schrecklichen Vergangenheit Altes vertuscht, Bewährtes gerettet und Neues aufgebaut wurde. Meine Generation aus zwei Zeitaltern und zwischen den Welten versucht den Anschluss an die moderne Zeit nicht zu verlieren und zelebriert in narzisstischer Verliebtheit die ewige Jugend, obwohl sie für die Kinder des Millenniums ungeheuer alt wirken und aus fremden Zeiten und Lebensumständen kommen mag. Ich möchte jene fremden Verhältnisse erfahrbar machen und zeigen, wie das Leben damals in der alten, wenn auch gar nicht so fernen Zeit war. Denn nur wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart und kann die Zukunft sinnvoll gestalten. Das wird die verantwortungsvolle Aufgabe der Kinder des Millenniums sein.

    NOMEN EST OMEN

    Unsere Geschichte beginnt mit unserem Namen, der uns prägt, der Fluch oder Segen sein kann, den wir lieben oder hassen oder beides zugleich. Und wenn wir lange genug leben, stellen wir fest, dass Namen gewissen Trends unterliegen, dass im Großelternalter überraschenderweise Vornamen in Mode kommen, die zu unserer Teenagerzeit beschämend waren. Und dann versöhnen wir uns vielleicht mit einem Namen, der uns lange belastet hat, weil wir weise oder müde oder gleichgültig geworden sind und über den Dingen stehend schließlich annehmen, was wir nicht ändern können.

    Meine ältere Schwester heißt Walburga. Man könnte argumentieren, dass dieser Name althochdeutsch und aristokratisch, vornehm und distinguiert klingt, und dass er nachweisbar von Mitgliedern der bedeutendsten Herrscherhäuser Europas geschätzt wird. Meine Schwester und ich fanden jedoch, dass der Name Walburga altmodisch, katholisch, viel zu bodenständig und bieder ist. Wahrscheinlich ist die Einordnung eine Frage der Standortwahl und des dazu gehörigen Nachnamens. Walburga und ich wurden in ein kleines fränkisches Dorf in eine Arbeiterfamilie hinein geboren, und nichts lag uns deshalb ferner als von einem althochdeutschen, aristokratischen Namen fasziniert zu sein. Wie sich Walburga als Teenager für ihren Namen schämte und sich statt dessen sehnlichst einen modernen Namen wünschte, der eine Herkunft aus geschäftigem Stadtleben und Bürgertum suggerierte, ja vielleicht sogar die Exotik ferner Länder andeutete!

    Deshalb kam sie schließlich mit ihren Arbeitskolleginnen aus der Stadt überein, dass sie Wally mit Y gerufen wurde, denn das Y erinnerte an Präsident Kennedy und Amerika, wenngleich das Y in Wally wie ein deutsches I klang und sich Wally mit Y weder in der Familie noch in unserem Dorf durchsetzte, wo meine Schwester die Walburga blieb. Ich bemitleidete sie aufrichtig wegen ihres altmodischen Namens, aber die Tradition hatte von meinen pflichtbewussten Eltern verlangt, dass sie die Namen der Großmütter weitergaben. Da beide Großmütter Walburga hießen und damit der Obsorge meiner Eltern Genüge getan war, erhielt ich den Namen einer sehr geachteten Klosterfrau in unserem Dorf und wurde Paula genannt. Paula klang damals nicht ganz so erzkonservativ, erzkatholisch und abgeschieden ländlich, aber dennoch war auch ich bald sehr unglücklich mit meinem Vornamen und seinen Konnotationen.

    Die Leute in unserem mittelfränkischen Dorf nannten mich „Baula, mit „weichem Be und mit der eigentümlichen fränkischen Zungenverschiebung zu einem Laut, der ein klingendes „L nicht einmal ansatzweise andeutet, sondern flach, rau und klanglos den Mund verlässt. Mein Name hat also nichts mit dem italienischen, libidinös gerollten „Paula zu tun, bei dem der Hörer erwartungsvoll aufblickt und nach einer Dame Ausschau hält, die verführerisch und romantisch, erotisch und energisch ist und alle „isch- Wörter verkörpert, die auch die Franken so lieben. Nur verzerrt man in Mittelfranken die feine hochdeutsche Aussprache zu bischd und willdschd für „bist du und willst du, was mich unwillkürlich auf eine gewisse innere Distanz zu meinem eigenen Dialekt rücken lässt. Das fränkische „Baula implizierte für mich ein kleines und unscheinbares, biederes und braves, unbeholfenes und ungebildetes Landei. „Baula verkörperte eine Lebensart, die ich hinter mir lassen wollte, aber Paula ist mein einziger Vorname.

    Paula kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „klein". Wer will schon klein sein, wo sich die Welt doch nur an große Männer und Frauen erinnert und kleine Leute nicht Geschichte machen! Meine Geschichte begann 10 Jahre nach dem 2. Weltkrieg in jenem fränkischen Dorf in ärmlichen Verhältnissen. Armut macht die Menschen klein, denn die Gedanken des kleinen Mannes kreisen um das Nötigste. Meine Kindheitserlebnisse beziehen sich folglich auf einen engen Erfahrungshorizont, illustrieren jedoch die Dorfgemeinschaft wie auch die Gefühlslage der damaligen Zeit. Sie enthüllen damit eine historische Wahrheit, die eine gewisse Verallgemeinerung für ein Dorfleben in der Nachkriegszeit zulässt.

    Als Schülerin im Klosterinternat war ich denkwürdigen Erziehungsmethoden ausgesetzt, die Einsichten in ein psychologisches Phänomen der Unterdrückung, Gewalt und Einschüchterung liefern, unter dessen Folgen viele Internatszöglinge noch heute leiden. Mich zwingt diese Erziehung in eine Gratwanderung zwischen Schuldgefühle oder Selbstvertrauen, zwischen Anpassung und Aufbruch, und oft weiß ich nicht, in welcher Haltung wahre Größe ihren Ausdruck findet.

    „Klein" ist leider auch die zutreffende Beschreibung für meine Körpergröße und dem daraus resultierenden Dilemma, dass ich keineswegs dem westlichen Schönheitsideal entspreche, das große Frauen mit langen schlanken Beinen bevorzugt. Sehr zu meinem Leidwesen bin ich trotz hoher Schuhe so klein, dass mich die Menschen übersehen und auslassen, stoßen und anrempeln und dann erstaunt oder empört die Augenbrauen heben, weil ich wage ihnen im Weg zu stehen.

    „Ich an deiner Stelle würde mich als Fotomodell beim Playboy bewerben!, bemerkte ein guter Freund laut zu mir gewandt in fröhlicher Runde. Für einen winzigen Augenblick dachte ich tatsächlich, sein Rat, mich in einem bekannten Männermagazin ablichten zu lassen, sei als Kompliment für eine junge, gut aussehende Frau gedacht. Wie konnte ich nur so naiv sein! Denn zum allgemeinen Amüsement fuhr Franz fort: „Du hast bestimmt gute Chancen, denn für dich brauchen sie kein Faltblatt in der Mitte, du passt auf eine Seite! Da können sie viel Papier sparen! Schallendes Gelächter um mich herum wegen der Anspielung auf meine unterdurchschnittliche Körpergröße. Franz strahlte wegen seines genialen Einfalls. Ich lachte mit den anderen, laut und anscheinend herzlich. Nie hätte ich zugegeben, dass mich diese Worte verletzten. Ich hatte gelernt, Gefühle zu verbergen und eine Maske zu tragen. Ich hatte mir einen unsichtbaren Panzer umgelegt, der die Wucht der Schläge abfing, so dass ich nicht daran zerbrach. Es war nicht schön von Kindes Beinen an immer die Kleinste zu sein, aber im Alter von 25 Jahren würde ich ganz bestimmt nicht mehr wachsen. Dieser Realität musste ich mich stellen.

    Ich war von kleiner Statur, kam aus kleinen Verhältnissen, wurde im Klosterinternat gedemütigt und erniedrigt mit dem Ziel meinen Willen zu brechen und mich in bedeutungslose Konformität und Autoritätsgläubigkeit versinken zu lassen. Aber weil ich so klein gemacht werde, lerne ich zu kämpfen, und in mir wächst ein trotziger und hartnäckiger Geist, und eine Sehnsucht nach Größe und Weite und Tiefe, die sich mir in der faszinierenden Welt der schönen Künste eröffnet. Und in der Zurückgezogenheit und Stille finde ich den unendlichen Gott und seine alles übersteigende Liebe und spüre, dass ich mit ihm Mauern überwinden kann.

    In der Bibel lerne ich schließlich einen positiven Zugang zu meinem Namen. Dieser geht auf den Apostel Paulus zurück, dem seine Eltern den Namen Saulus gegeben hatten, was „der Begehrte, der Ersehnte bedeutet. Ich stelle mir vor, wie man als „Ersehnter und Begehrter in die Welt blickt und fühle das Herz mit hehrem Stolz und mit der festen Überzeugung erfüllt für Großes berufen zu sein! Konsequenterweise sah der junge gläubige Jude Saulus seine Mission darin, gegen die Christen vorzugehen, die von seinen Glaubensbrüdern als gefährliche Abtrünnige vom wahren Glauben gesehen wurden, bis er auf dem Weg nach Damaskus eine Begegnung mit Jesus hatte, die sein Leben revolutionierte. In der Folge ließ sich Saulus taufen, wurde ein Apostel Jesu Christi, machte die Gute Nachricht weit über das Judentum hinaus bekannt und legte damit den Grundstein für die weltweite christliche Bewegung. Der Legende nach entschied sich Saulus nach der Gotteserscheinung in Damaskus den Namen Paulus anzunehmen um öffentlich zu bekennen, dass er klein und demütig vor Gott sein wollte. Und Gott machte ihn groß unter den Menschen! Seit ich die Geschichte von Paulus kenne, betrachte ich meinen Namen, „die kleine Paula" mit neuen Augen und sehe darin den Auftrag demütig vor Gott zu sein und doch Großes bei den Menschen um mich zu bewirken. Ich versöhne mich schließlich mit meinem Namen und gewinne ihn lieb. Jesus verändert die Menschen.

    DORFGESCHICHTEN

    Wurzeln

    Zunächst störte mich mein Name Paula nicht. Ich kannte keine andere Aussprache als die fränkische, und „Baula gerufen zu werden war normal. Ich wusste auch nicht, dass es Italien gibt mit reizenden Damen meines eigentlich wohlklingenden Namens. Noch hatte kein Fernseher unser Haus oder das der Nachbarn erreicht. Die große weite Welt war mir nicht einmal auf dem Papier bekannt. Meine Welt war Arberg, ein Tausend Seelen Dorf, etwa 15 Kilometer südlich der fränkischen Markgrafenstadt Ansbach und 50 Kilometer westlich von Nürnberg, der Stadt der Naziprozesse, gelegen. In unserem Dorf gab es damals keine Bewohner sondern „Seelen, da die Menschen die Kirche nicht nur als baulichen Mittelpunkt betrachteten, sondern auch als das geistliche Zentrum der Erbauung, Ermahnung und Orientierung, auf das alles Schaffen hin ausgerichtet war.

    Arberg war meine Welt. Es liegt auf der sanften Anhöhe des Eichelbergs, der aus der weiten Ebene ringsum auf circa 460 Meter flach ansteigt. Unser Haus lag am Dorfrand oberhalb der Kirche und gewährte einen Blick in die Ferne. An klaren Tagen erspähten wir sogar die Kirchturmspitze von Weidenbach am äußersten Horizont. Diese Weite weckte Sehnsüchte. Ob ich jemals dorthin kommen würde? Soweit konnten mich die Füße gar nicht tragen! Meine Füße waren mein Maß und mein Entfernungsmesser, denn wir hatten kein Auto. Fast niemand im Dorf besaß so ein modernes Fahrzeug. Noch gehörten die sandigen Straßen den Fußgängern und uns Kindern zum Spielen. Aus diesem Blickwinkel war die Welt so groß, wie die Füße uns trugen und soweit das Auge reichte. Und von oben betrachtet war meine Welt riesengroß.

    Natürlich wussten wir, dass es auch jenseits des Horizonts noch Menschen gab, ja sogar Städte. Denn werktags fuhr früh und abends ein Bus in die Stadt Ansbach. Wenn einer von uns besonders krank war oder ein außergewöhnliches Leiden hatte, fuhr er mit diesem Bus nach Ansbach zu einem Arzt. Deshalb mussten wir heute sehr früh aufstehen, denn der Bus „ging schon um 6 Uhr. Mama hatte sich besonders herausgeputzt und ihr Sonntagskleid angezogen, das sonst nur für den Kirchgang aus dem Schrank genommen wurde. Ihre langen Haare, die immer züchtig zu einem Schopf zusammengebunden waren, hatte sie sehr ordentlich nach hinten frisiert. Auch die „guten Schuhe zog sie an, obwohl die Absätze hoch waren und abends die Füße schmerzen würden. Aber das war nicht das Schlimmste. Das eigentliche Ärgernis waren die Straßen. Mama schimpfte leise: „Schau dir das an! Jetzt sind wir noch nicht einmal in den Bus eingestiegen und die schönen Schuhe sind schon wieder staubig! Schämen muss man sich, wie man in der Stadt ankommt! Jeder sieht sofort, dass wir vom Land kommen! Die glauben auch noch, wir putzen unsere Schuhe nicht! Heb deine Füße, dass du deine neuen Schuhe an den Steinen auf dem Weg nicht sofort vorne verkratzt!" Also stakste ich neben meiner Mutter her und hob bei jedem Schritt die Füße in die Höhe fast wie bei einem Hürdenlauf bis wir den Bus erreichten.

    Das Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, betrachtete ich das Dorfleben im Vorbeifahren, wenn die Bäuerinnen in kleinen Holzkarren die schweren Milchkannen zum Sammelplatz für die Abholung schoben, die Bauern die langsamen Ochsenkarren auf die Felder lenkten und der Schmied das heiße Eisen auf dem Amboss formte, dass es laut hallte. Die meisten Leute, die zustiegen, waren auf dem Weg zur Arbeit und trugen blaue Montur, was uns veranlasste uns in den Sitz zu kauern und sorgfältig Abstand zu nehmen, damit unsere hellen Kleider keine Schmierflecken abbekämen. Neugierig musterte ich die Leute um mich herum und kam zu dem Schluss, dass nur wenige in der glücklichen Lage waren, ein Leiden zu haben, das sie für einen Arztbesuch und bessere Kleidung privilegierte.

    Mein Leiden kam mir reichlich aufregend vor. Die Eltern meinten, ich hätte einen Haltungsfehler, der korrigiert werden müsse. Wenn das nicht geschähe, argumentierten sie, würde ich als Erwachsene wie die Babbed herumlaufen. Das Fräu’n Babbed war die Schwester und Haushälterin unseres Dorfpfarrers. Sie hatte nur noch sehr wenige graue Haare, die sie wie alle Frauen im Dorf zu einem Knoten oder besser gesagt zu einem Knötchen gebunden hatte, das von langen schwarzen Haarnadeln gehalten wurde, die weit über den Schopf hinaus ragten, was den recht kahlen Hinterkopf ziemlich gefährlich aussehen lies. Fast ebenso viele graue Haare wie auf dem Kopf wuchsen ihr um den Mund herum. Auch diese Haare hatten eine beträchtliche Länge erreicht, was jedoch nicht sonderlich störte, denn gewöhnlich sah man nicht viel von Babbeds Gesicht. Sie litt an einer sehr schweren Rückenverkrümmung, was dazu führte, dass sie überhaupt nicht mehr aufrecht gehen konnte, sondern ihren Oberkörper in einem 90 Grad Winkel weit nach vorne beugte. Wollte sie mit jemandem reden und ihn dabei ansehen, bemühte sie sich krampfhaft, ihren Hals nach oben zu strecken und damit ihr Gesicht wenigstens annähernd ihrem Gegenüber zuzuwenden. Babbed war zwar lieb, aber eine „arme Haut", wie jeder sagte. Und diese Beschreibung schien sehr passend, da ihr magerer Körper nur aus Haut und deformierten Knochen zu bestehen schien. Ich prägte mir diese Frau genau ein, denn wie die Babbed würde ich einmal aussehen! Das waren wahrlich keine rosigen Aussichten für mich, und ich duckte mich beim Gedanken an meine Zukunft noch mehr als sonst.

    Wegen meiner Rückgratverkrümmung fuhren wir heute nach Ansbach zu einem Spezialisten, der mich anschauen sollte. Der Bus fuhr die Haltestelle an der Stadtpfarrkirche an. „Da steigen wir jetzt gleich aus!, hörte ich meine Mutter sagen. „Wir haben noch so viel Zeit, bis der Arzt das Wartezimmer aufsperren lässt. Da können wir hier noch längst in die Messe gehen!

    Also begann auch in Ansbach der Tag mit der Messe! Dabei hatte ich gehofft, dass heute der Kirchgang einmal ausfallen würde! Normalerweise mussten wir jeden Tag und sonntags sogar zweimal in die Kirche gehen, was uns veranlasste, die seltenen Tage ohne Gottesdienst als außergewöhnliche Festtage zu betrachten. Zu manchen Zeiten war es ganz schön in der Kirche, besonders in der Weihnachtszeit, wenn der Altarraum mit vier hohen Christbäumen mit selbst gebastelten Strohsternen geschmückt war und die gesamte Dorfbevölkerung mit voller Inbrunst in die wohl klingenden Jesulein-Lieder einstimmte, so dass die fest gebauten Kirchenmauern unter dem vielstimmigen Chor zu erbeben schienen. Wenn sich aber Anfang Februar langsam das Ende der Weihnachtszeit ankündigte und die in der eiskalten Kirche immer noch grünenden, prallen Fichten entsorgt wurden während die Organistin ein letztes Mal „Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein und „Ich steh an deiner Krippe hier anstimmte, begann in der Kirche die Saure-Gurken-Zeit. Dann gab es wieder vermehrt die Stillen Messen, die so still waren, dass wir nicht mehr mit der Banknachbarin flüstern konnten, ohne dass es die Mutter weit hinten gehört hätte und wir zu Hause ein Donnerwetter provozierten. Ein Ministrant zog mit fester Hand an der Glocke zur Sakristei und läutete mit lautem Gebimmel den Beginn der Stillen Messe ein, um die nachfolgende Stille noch hörbarer zu machen. Dann schritt er mit dem Pfarrer zum Hochaltar, kniete an den Stufen nieder und versank in Träumereien wie wir anderen Kinder auch, während der Herr Pfarrer mit dem Rücken zu uns gewandt sich der Messfeier widmete. Nach den Feiertagen trug der betagte Herr wieder das alte, abgetragene kleine Messgewand und murmelte leise und lange vor sich hin, deckte schließlich den Kelch ab, erhob dann ein einziges Mal seine Stimme und sprach: „Dominus, wo bist du?, worauf wir überrascht hochfuhren und antworten mussten „Edcum spiriduduo. Bei diesen Worten hielt der Priester seine Arme recht bedrohlich in die Höhe, dass wir Kinder uns in den Bänken duckten und andächtig den Blick senkten, da wir doch nicht andächtig gewesen waren, wobei wir nicht so recht wussten, was das bedeutete. Ich fragte mich indessen, wen der Herr Pfarrer jahraus jahrein vergeblich suchte, und lernte schließlich als Schulkind die Bedeutung vom lateinischen „Dominus vobiscum /Der Herr sei mit euch und „Et cum spiritu tuo/ Und mit deinem Geiste, ohne dass ich die lateinischen Sätze je in ein Gebet einordnen konnte. Latein hatte seine Bedeutung als Weltsprache seit Jahrhunderten verloren, aber die Messfeiern in der Katholischen Kirche wurden bis weit in die 60er Jahre hinein in lateinischer Sprache zelebriert.

    Jetzt schleppte mich meine Mutter auch in Ansbach in die Kirche. Der Tag fing ja gut an! Auch in Ansbach wurde eine Stille Messe zelebriert. Es gab fast nichts, woran man den Fortschritt des Geschehens erkennen konnte, um daraus zu schließen, wie lange man noch auf der harten Bank knien musste. Auch in Ansbach war das Holz nicht weicher und schnitt in die Knie, dass mir alle meinen schlimmen Sünden der vergangenen Tage wieder einfielen. Kein einziges Lied wurde gesungen und die Orgel blieb stumm. Dann endlich wurde der Kelch zugedeckt, was ich aus Erfahrung als ein sehr gutes Zeichen für das baldige Ende der Stillen Messe deutete. Jetzt musste von dem Ministranten das große Buch von der rechten auf die linke Altarseite zurück getragen werden, der Priester vertiefte sich noch ein letztes Mal in das Geschriebene, und danach klappte er das Buch endgültig zu. Für die Schlusszeremonie holte der Ministrant den großen tragbaren Weihwasserkessel und den dazu gehörigen Besen aus der Sakristei. Dann schritten Priester und Ministrant durch das Mittelschiff der Basilika, der Priester würdevoll ob seines Amtes, der kleine Ministrant mühsam folgend, denn er schleppte den schweren Messingkessel. Der Pfarrer tauchte seinen Besen tief in das geweihte Wasser um die Betenden damit zu segnen. Da die Gläubigen links und rechts kräftig mit Weihwasser bespritzt wurden, wachte auch der Letzte vom Schlaf auf und lief nicht Gefahr in der Kirche vergessen zu werden. Vor allem die müden alten Männer in den hinteren Bänken neigten zu einem Nickerchen. Die tapferen Frauen weiter vorne im Kirchenschiff wurden durch Knien auf den harten Holzbänken vor dem Einschlafen bewahrt da sie der Schmerz wach hielt. Sie prüften ganz genau, wer schwach wurde und sich setzte. Sitzen war nur hoch betagten Gläubigen mit einem Gebrechen vorbehalten, das wirklich gravierend sein musste, denn selbst das Fräulein Babbed versuchte noch zu knien!

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