Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Rockmusik: Volume II: Gegenkulturen von Gothic-Rock bis Emocore
Rockmusik: Volume II: Gegenkulturen von Gothic-Rock bis Emocore
Rockmusik: Volume II: Gegenkulturen von Gothic-Rock bis Emocore
eBook535 Seiten6 Stunden

Rockmusik: Volume II: Gegenkulturen von Gothic-Rock bis Emocore

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In diesem zwei Bände umfassenden historischen Überblick betrachtet der Soziologe Johannes Kohaupt die zur Durchschnittsgesellschaft oft magisch-mysteriös wirkenden Gegenkulturen seit den 1950er Jahren.

Der hier vorgelegte zweite Band öffnet den Blick auf die Gothic-Kultur, auf Hip-Hop- und Technowelten, beschreibt den Hardcore-Punk aus Washington, die Straight-Edge-Bewegung, und beleuchtet diverse Emocore- und Emo-Kultur-Varianten.

Der erste Band beschrieb die Gegenkulturen der Greaser, Teddyboys, Mods, Hippies, Skinheads, und Punks. Darüber hinaus gab er einen Einblick in die politisch motivierten schwarzen amerikanischen Gegenbewegungen: das Civil Rights Movement ab den 1950er und das Black Power Movement in den 1960er und 1970er Jahren.

Im Spannungsfeld zwischen Authentizität und Massenkultur wirken Gegenkulturen exotisch, spiegeln im Grunde aber lediglich die Widersprüche der eigenen sozialen und kulturellen Umgebung.

Dabei dienen Accessoires wie Schmuck, aber auch Kleidung oder Frisuren, genauer: der gesamte Habitus und die Haltung gegenkultureller Bewegungen als Identitäts- und zugleich Abgrenzungssymbole. Rockmusik avanciert zu ihrem Sprachrohr und entfaltet in der Entwicklung jeweils neuer Stilrichtungen eine mitreißende Dynamik.

Die Geschichte der Rockmusik zeigt sich letztlich als Schlaglicht auf die Geschichte der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse der USA und Europas seit den 1950er Jahren.

In der vorliegenden zweibändigen Untersuchung wird die Normativität des gängigen bürgerlichen Ästhetik- und des Kulturbegriffs auf deren Wirkungsradius in bürgerlichen Millieus zurückverwiesen und der Untersuchung ein empirischer Kulturbegriff zugrundegelegt, der es erlaubt, kulturelle Erscheinungen, und seien sie auch gegenkulturell zur gängigen Durchschnittskultur ausgerichtet, gleichberechtigt neben bürgerliche Kulturerscheinungen zu stellen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Apr. 2015
ISBN9783732321896
Rockmusik: Volume II: Gegenkulturen von Gothic-Rock bis Emocore

Ähnlich wie Rockmusik

Ähnliche E-Books

Technik & Ingenieurwesen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Rockmusik

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Rockmusik - Johannes Kohaupt

    VORWORT ZUM ZWEITEN BAND

    Sie haben den zweiten Band einer Untersuchung zum Thema Rockmusik und gegenkulturelle Erscheinungen aufgeschlagen. Die Rockmusikkulturen, die in diesem Band beschrieben werden, enthalten sicherlich genügend tiefgreifende Informationen, dass es den Lesern wohl ein Vergnügen sein wird, sich die detailreichen Inhalte einzuverleiben. Vor allen Dingen eignet sich die Aufbereitung des Inhalts in Form von nahezu abgeschlossenen Artikeln, den Inhalt dieses und auch des vorhergehenden Bandes wie ein chronologisches Lexikon der Rockmusikgeschichte zu handhaben. Interessierte Leser sind eingeladen, in den Inhalten zu stöbern.

    Ebenso werden aber auch Medien-, Sozial- und Kulturwissenschaftler auf ihre Kosten kommen auf der Suche nach Eckpunkten für eine wissenschaftliche Theorie der Rockmusik. Auch Musikwissenschaftler sind geladen, ihren kritischen Blick auf die bürgerliche Ästhetik zu schärfen.

    Der Grund für die Entstehung dieser umfangreichen Untersuchung lag darin, einige Thesen zur sozialen Dimension von Rockmusik zu überprüfen. Die angestrebte Validität der Aussagen führte dazu, immer mehr gegenkulturelle Erscheinungen zur Überprüfung der Thesen heranzuziehen, so dass schließlich eine nahezu lückenlose Geschichte der Rockmusik im Zusammenspiel mit gegenkulturellen Aktivitäten seit den 1950er Jahren entstand.

    Das Vorlegen der Ergebnisse in zwei Bänden erhöht die Handlichkeit beim Lesen der Texte.

    Das Ziel, Eckpunkte für eine umfassende sozial- und kulturwissenschaftliche Theorie der Rockmusik zu setzen, scheint erreicht. Man kann diese Untersuchung als einen Rahmen betrachten, innerhalb dem sich eine solche Theorie bewegen könnte.

    Im Grunde schließt die wissenschaftliche Herangehensweise an das Thema Rockmusik einen Kreis. In der Jugend verband ich mit den BEATLES, den ROLLING STONES, mit GENESIS oder mit Solisten wie OTIS REDDING, JIMI HENDRIX, JOE COCKER, JANIS JOPLIN Träume, Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte. Ihre Musik begleitete mich zur Schule, half bei den Hausaufgaben, tröstete mich, wenn ich traurig war und freute sich mit mir, wenn mir etwas besonders Schönes widerfahren war oder wenn ein Vorhaben ganz besonders gut gelingen wollte. Sie wurde aggressiv, wenn ich wütend war und ruhig, wenn der Schmerz verflog, den man mir zugefügt hatte. Die Namen verkörperten Idole, die sagten und taten, was zu sagen und zu tun mir nicht vergönnt, mitunter sogar verboten war.

    Später dann begannen sich Weltbilder in mir zu formen, und die Stars kamen herab, wurden zu Mitstreitern um ein besseres Dasein, eine bessere Welt. Sie halfen Argumente zu suchen gegen die Unfreiheit vieler Menschen, gegen Folter und Krieg und gegen politische Machtverhältnisse, die all diesen Missständen Vorschub leisteten.

    Wissenschaftlich begann ich mich erst für Rockmusik zu interessieren, als mein Blick für komplexere Zusammenhänge sich zu weiten begann. Indes: Wieder erscheint Rockmusik wohl nur als Begleitmoment meiner eigenen Entwicklung und dennoch als Teil meiner persönlichen Identität – als formcodiert-stilisierter Ausdruck meiner persönlichen Auseinandersetzung mit der Welt.

    So bot das Ende der Schreibarbeiten doppelte Freude: Vor ziemlich genau sechzig Jahren veröffentlichte Elvis Presley seine erste Schallplatte, That’s All Right, Sun Records Nr. 209, geschrieben von Arthur Crudup – ein wahrhaft denkwürdiges Ereignis.

    Wenige Tage, bevor das Manuskript des zweiten Bandes abgegeben wurde, erfuhr die beschriebene Freude eine massive Eintrübung. Die Nachricht, dass Joe Cocker diese Welt für immer verlassen hat, trifft den Autor und mit ihm die gesamte Kulturwelt hart. Der Tod dieser rockmusikalischen Urgewalt mahnt uns zugleich aus den Tiefen des schwarzen Blues heraus, jenseits der Hautfarbe die wahre kulturelle Identität des Einzelnen anzuerkennen und zu wahren. In ihr drückt sich alltäglich gelebte Würde im Menschen aus.

    Dank schulde ich allen Personen, die dieses Projekt mit Interesse und kritischen Anmerkungen begleitet haben.

    EINLEITUNG IN DEN ZWEITEN BAND

    Der hier vorliegende zweite Band führt die Untersuchung zur Geschichte rockmusikbegleiteter Gegenkulturen seit den 1950er Jahren weiter und von daher basiert er selbstredend auf denselben, im ersten Band bereits dargelegten Thesen. Sie werden an weiteren gegenkulturellen Erscheinungen überprüft.

    Die Thesen folgen einigen Vorüberlegungen, die uns an positivistischen musiksoziologischen Ansätzen zur Entstehung und zu Folgen musikalischer Geschmäcker vorbeiführen, z.B. an Alphons Silbermann (1957), und auch an kulturpessimistischen Auffassungen vom Zusammenhang zwischen Musik und Gesellschaft, wie er insbesondere von Theodor W. Adorno (1975) vertreten wird und – ihm folgend – von Seiten vieler linker Wissenschaftler (vgl. Schoeler 1969).

    Keiner der genannten Ansätze fasst den Zusammenhang zwischen Rockmusik und gegenkulturellen Erscheinungen in adäquater Weise. Im Gegenteil: für die Anhänger Adornos stellt Rock als Musik der „unterprivilegierten Massen nichts weiter als primitives Getöse dar, das die soziale Unterdrückung ihrer „Konsumenten weiter verlängere.

    Für den bürgerlichen Kulturbegriff kann Rockmusik nichts Anders als Etwas Primitives darstellen, weil er, von der bürgerlichen Ästhetik getragen, nach Reinheit und Komplexität einer nach Noten komponierten Partitur fragt. Er hält damit die bürgerliche Musik qualitativ hoch, Musik aus unterprivilegierten Milieus beurteilt er qualitativ als weit unter der bürgerlichen rangierend und lediglich primitive Bedürfnisse befriedigend, so wie die kulturellen Erscheinungen unterprivilegierter Menschen – aus dieser Perspektive – ohnehin qualitativ nicht an das bürgerliche Niveau heranreichen.

    Die bürgerliche Auffassung von Kultur verletzt die Gleichberechtigung der kulturellen Erscheinungen unterprivilegierter Milieus. Diese Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, die Normativität des bürgerlichen Kulturbegriffs aufzuspüren und deskriptiv aufzubrechen, ihn auf seinen Wirkungsbereich in bürgerlichen Milieus zu reduzieren.

    Aus den Vorüberlegungen ergeben sich folgende, im ersten Band bereits dargelegte Thesen, die an der Praxis weiterer gegenkultureller Erscheinungen, an deren Entstehungsbedingungen und deren Zielen überprüft werden sollen:

    „Die erste These bezieht sich auf die Entstehung rockmusikalischer Stile. Wir gehen in dieser Untersuchung davon aus, dass die wichtigsten rockmusikalischen Stile sich in musikbegleiteten Gegenkulturen entwickelt haben. Die Massenmedien haben dann dafür gesorgt, dass diese Stilrichtungen, oft in veränderter, mitunter verwässerter Form einem breiteren Publikum zugänglich wurden. Dies beinhaltete häufig, die Gegenkultur als Werbeträger zu „missbrauchen", um das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe bei potenziellen Käufern zu erzeugen.

    Die zweite These bezieht sich auf die Transportmöglichkeiten der Massenmedien in Bezug auf gegenkulturelle Inhalte. Sie besagt, dass die Inhalte, die Philosophien und die Musik einer Gegenkultur nur dann erfolgreich an andere Kulturen oder ein breiteres Publikum weitergegeben werden kann, wenn die Inhalte, Philosophien und Musik der regionalen Symbole, die sie innerhalb der Gegenkultur innehatten, bereits entfremdet waren. Die Entfremdung kann allerdings auch durch ständige Versuche der Kulturindustrie befördert werden, die Inhalte einem breiteren Publikum näher zu bringen.

    Die Massenmedien dienen zum einen als Distributionsmedium, liefern somit die Rezeptionsmöglichkeit. Zum anderen dienen sie dazu, Rockmusik aus ihrem regionalen Bezug zu lösen. In ihrer Doppelfunktion zeigen sie sich demnach widersprüchlich. Die Widersprüchlichkeit entsteht auch durch ihre Zugehörigkeit zur kapitalistischen Kulturindustrie, die als Mittler zwischen Produzenten und Rezipienten eigene Interessen verfolgt.

    Die dritte These bezieht sich auf den Gebrauchswert der Rockmusik und der gegenkulturellen Umgebung für die Rezipienten. Rockmusik dient den Rezipienten als Identifikationsmedium und als identitätsbildendes Element ihrer Zugehörigkeit zur Gegenkultur. Sie ist einerseits Teil des kulturellen Stils, Symbol einer Lebenspraxis außerhalb des Mainstreams, auf diese Weise auch Erkennungszeichen für andere Mitglieder. Andererseits dient sie als Distanzierungszeichen von anderen kulturellen Stilen, konstruiert in unterschiedlichen Kontexten demnach eine unterschiedliche Symbolik.

    Musik symbolisiert Gemeinschaft auch deshalb so gut, weil das gemeinsame Spielen und Singen im Gehirn Synapsen gleichrichtet, durch die eine gemeinsame Erfahrung emotional stark positiv besetzt wird. Das gleiche gilt für gemeinsame Erfahrungen im Sport und viele andere positive Erlebnisse. Allerdings sind auch andere gemeinschaftprägende gemeinsame Erlebnisse denkbar: Krieg, Katastrophen, verbunden mit negativen Emotionen von ähnlicher Intensität.

    Die vierte These bezieht sich auf die Entstehungsbedingungen für Gegenkulturen. Sie bilden sich auf der Basis ökonomischer, sozialer und kultureller Widersprüche der Gesamtgesellschaft. Die Widersprüche liegen im ungleichen Zugang zu den Ressourcen der Lebensgemeinschaften. Das Ungleichgewicht wird durch die Gegenkulturen aber nur symbolisch aufgehoben, das heißt, nur kulturell. Der Kampf mit den Massenmedien um die kulturellen Ressourcen verleiht den Gegenkulturen daher oft nur einen temporären Charakter.

    Gegenkulturen verlaufen entlang vertikaler sozialer Grenzen, ein vertikaler Austausch findet in der Regel, wenn überhaupt, nur in geringem Maße statt. Dies bedeutet auch, dass Gegenkulturen klassenspezifisch unterschiedlich sind und in der Regel unter sich bleiben. Indiz dafür sind u.a. die Selbstbilder, die meist in Abgrenzung zu anderen Gruppen entworfen werden. Das bedeutet letztlich, dass auf Grund der sehr unterschiedlichen klassenkulturellen Erfahrungen vertikale Durchdringungen kaum vorkommen.

    Dies führt uns zu einer weiteren These: Die Ursachen für die fehlende Überwindung vertikaler gesellschaftlicher Grenzen liegen in der Art des kulturellen „Crossovers. Die Übernahme kultureller Inhalte aus anderen kulturellen Erscheinungen geschieht in der Regel ohne kommunikativ-positiven gesellschaftlichen Austausch, der eine soziale Annäherung induzieren könnte. Von daher sind es Übernahmen sozusagen „fremden Kulturgutes, die besagte vertikale gesellschaftliche Durchdringung nicht zulassen.

    Eine weitere These bezieht sich darauf, weshalb gerade die Volksmusik der schwarzen Gegenkulturen der USA zum Sound so vieler gegenkultureller Erscheinungen bis heute gewesen ist. Die bürgerliche Ästhetik kann dem Anspruch, der sehr rationalen Basis der Aufklärung eine geistig-erbauliche emotionale hinzuzufügen, wenn überhaupt, dann nur innerhalb bürgerlicher Milieus gerecht werden. Im Großen und Ganzen erfüllt sie auch hier diesen Zweck nicht oder nicht mehr.

    In unterprivilegierten Milieus erfasst sie die Rockmusik nicht adäquat, weil Rock keine bürgerliche und keine notierte Musik ist. Sie kann von daher auch den Gebrauchswert von Rockmusik nicht adäquat erfassen, weil die bürgerliche Kultur normativ eingerichtet ist und deswegen nur die bürgerliche Kultur werten kann. Unterprivilegierte Kulturen folgen eigenen kulturellen Normen.

    Menschen unterprivilegierter Milieus orientierten sich von Beginn an auch an den sehr einfachen, von Worksongs, Fieldhollers, Gospel, Spirituals und Blues geprägten Sounds der schwarzen Gegenkulturen in den USA. Die „Körperlichkeit" der Musik, vor allem die Tänze, die diese Körperlichkeit offenbarten, waren sehr interessant für weiße unterprivilegierte Milieus. Lediglich gesellschaftliche Ressentiments verhinderten eine auch offizielle kulturelle Vermischung.

    Die These besagt, dass die Entstehung rockmusikalischer Stile und die gegenkultureller Erscheinungen keiner irgendwie gearteten Entwicklung folgen, sondern dass sie das Ergebnis von horizontalen, will sagen: geografischen, und vertikalen, will sagen: Klassengrenzen überschreitenden Kulturtransfers waren, ohne dass sie, wie bereits erwähnt, die Klassengrenzen der entstehenden Gegenkulturen verschieben würden. Die Gründe liegen darin, dass die Gegenkultur um kulturelles Kapital kämpft, dieses temporär auch erwirbt; dass parallel dazu aber das Ansehen als Gegenkultur in der Gesamtgesellschaft und der Basiskultur geringer wird, die Gruppe also an kultureller Symbolik verliert. Letztlich bleibt das Gesamtkapital weitgehend unverändert, sodass keine sozial-vertikale Bewegung mit einem vertikalen Kulturtransfer einhergeht.

    Um die beschriebenen Thesen empirisch überprüfen zu können, wurden insgesamt sechzehn Gegenkulturen betrachtet, begonnen mit den 1950er Jahren, bis in die Zeit des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend. Nicht mitgezählt wurden die gegenkulturellen Erscheinungen der schwarzen US-Bürger seit ihrer Freilassung aus der Sklaverei. Ihre kulturelle Geschichte wurde rekonstruiert im Hinblick auf die Auswirkungen des Blues auf weiße kulturelle Übernahmen vor dem Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen auf die Begleitmusik von Gegenkulturen Nachkriegsjugendlicher. Dabei wurden die Gegenkulturen klassenspezifisch in Bezug auf ihre Möglichkeiten, soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital zu erwerben, unterschieden. Sie wurden außerdem dahingehend befragt, welche Symbolik sie zur Identifikation ihrer Gegenkultur entwickelten und welche Ziele sie mit der Gegenkultur verbinden. Ob es sich nur um einen diffusen Kampf um kulturelles Kapital handelte oder ob sie weitergehende politische Ziele verfolgten. Abgefragt wurde auch, gegen wen sich die Gruppen jeweils abgrenzen möchten und wie sie dies symbolisch tun.

    Als Informationsquellen wurden Massenmedien wie Internetauftritte, Schallplatten, will sagen: Musik und Texte, Zeitungen, Zeitschriften sowie Bücher über die Gegenkultur herangezogen. Aber auch Aussagen von den Mitgliedern selbst, Interviews etc. Die Informationen wurden hermeneutisch ausgewertet und die Thesen an den Erkenntnissen überprüft." (Kohaupt 2014, 28 ff).

    Die genannte Methode der kulturellen Analyse ermöglicht es, die kulturellen Erscheinungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaften gleichberechtigt nebeneinander zu beobachten und zu beschreiben. Vor allem erlaubt es diese Methode, die kreativen Aspekte im Rock darzulegen, einer Musik aus unterprivilegierten Milieus, und den Gebrauchswert dieser Musik als Sprachrohr in gegenkulturellen Umgebungen zu beschreiben.

    Bei der Realisierung des Gesagten gehen wir davon aus, dass wir in eine gegebene kulturelle Umgebung hineinwachsen, die wir zunächst als objektiv erleben, die wir uns aber aktiv „aneignen", aus der wir im Zuge von Identifikationsprozessen etwas machen (Clarke u.a. 1979). Die Aneignung durch kommunikatives Handeln geschieht klassenspezifisch, weil Sprache und Kommunikation sich klassenspezifisch äußern und Ausdrucksformen für die Möglichkeit darstellen, sich ökonomische, soziale oder kulturelle Ressourcen zugänglich zu machen (Bourdieu 1982).

    Dies hat Auswirkungen auf die Betrachtung und den Gebrauchswert eines Kunstwerkes. Anders als in der bürgerlichen Ästhetik ist es nicht von so großer Bedeutung, die Einmaligkeit der Idee bzw. die Einmaligkeit der angewandten Technik, des Pinselstrichs oder der kompositorischen Technik herauszuheben, um die Qualität des Kunstwerkes zu beschreiben. Sondern der Entstehungsprozess selbst und der Gebrauchswert des Kunstwerkes in seiner sozialen und kulturellen Umgebung stehen im Vordergrund der Betrachtung (vgl. Lindner 1979, 7-14).

    Dies erlaubt es zugleich, Mitglieder der untersuchten Gegenkulturen als Subjekte betrachten zu können, sie nicht mehr nur zu Objekten des Augenscheins zu machen. Und es erlaubt in der Folge, sie selbst zu Wort kommen zu lassen.

    Bevor wir uns neuen Gegenkulturen zuwenden, bleibt zu klären, was wir bislang geschafft haben. Im ersten Band wurde zunächst der Blues als historische und musikalische Grundlage der Rockmusik hergeleitet, ihre Entstehungsbedingungen und ihr jeweiliger Gebrauchswert für schwarze und weiße Bevölkerungsteile in den USA analysiert. Dabei wurde festgestellt, dass die oben zitierten Thesen sich gar schon für die Gegebenheiten entlang der gesamten Geschichte der schwarzen und weißen Kulturen in den USA verifizieren lassen. Schon seit Beginn der Massenkultur, seit der Wende zum 20. Jahrhundert, gerieten authentische kulturelle Mischungen schwarzer und weißer unterprivilegierter Musik und die dazugehörenden Tänze in das Spannungsfeld zwischen Authentizität und Befriedigung eines Massengeschmacks. Immer wieder konnten sich authentische „Neuerfindungen" aus den Zwängen der Massenkultur befreien und aufs Neue zur realistischen Symbolisierung des Alltagslebens unterprivilegierter Klassen werden.

    Rockmusik, beginnend mit dem Rock & Roll der 1950er Jahre, hat die erwähnte Mischung aus schwarzem Rhythm & Blues und weißer Countrymusik zur Grundlage. Und es lässt sich zusammenfassend sagen, dass sich nahezu alle Thesen an den Beispielen gegenkultureller Erscheinungen wie dem der Greaser, der Teddyboys, der Halbstarken, der Mods, der Hippies, der Skinheads und der Punks verifizieren ließen. Nicht eindeutig konnte die These von den Ursachen für die Übernahme schwarzer Musik durch Weiße dargelegt werden. Dies kann viele Ursachen haben.

    Wir können also gespannt sein auf weitere Gegenkulturen, an denen die Thesen überprüft werden sollen. In diesem zweiten Band betrachten wir die Gothic- wie auch die Heavy-Metal-Kulturen. Außerdem schauen wir uns die Friedens- und Anti-Atomwaffen-Bewegung der 1980er Jahre näher an, die als Nach-Hippie- und in Teilen als Nach-68er-Ära gelesen werden kann. Ein wichtiger Schwerpunkt bildet die politisierte zweite Welle der Skinheads, die in Europa den Oi-Punk, an der Ostküste der USA, genauer: in Washington D.C. den Hardcore-Punk hervorbrachte. Letzterer begleitete die Straight-Edge-Bewegung auf ihrem Verbreitungsweg durch die USA und – zeitversetzt – teilweise auf die weiteren Kontinente.

    Ab Mitte der 1980er Jahre distanzierten sich neue Rockvarianten, der sogenannte Emo-Sound, auch Emocore genannt, wie auch die entsprechenden Bands, die die erste von mehreren Emo-Kulturen bildeten, von der gnadenlosen Härte des Hardcore-Punk.

    Nahezu ohne Unterbrechung können wir bis ins zweite Jahrzehnt dieses neuen Jahrtausends hinein, beginnend mit dem Rock & Roll der 1950er Jahre, den Kreislauf sich neu bildender regionaler Rockmusikstile – meist im Kreise neuer gegenkultureller Erscheinungen – und der sie nach ihrem Erfolg verwertenden und meist sie auch verwässernden Massenmedien beobachten. Wie es scheint, wurde ein sich immer wieder neu anfachendes Feuer der Gegenwehr gegen Anonymisierung und Entpersonalisierung implementiert, das sich selbst zu regeln scheint.

    Dabei taucht in diesem zweiten Band im Zuge der Beschreibung gegenkultureller Aktivitäten oftmals der Begriff Globalisierung auf. Man liest und hört ihn seit dem Ausgang des vergangenen Jahrhunderts in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Als Modewort erscheint er seitdem mit realer inhaltlicher Bedeutung und ohne.

    Um wirklich beurteilen zu können, ob, gegebenenfalls wann, in welchem Umfang und in welcher Weise die Globalisierung in den Gegenkulturen spürbar wurde, müssen wir eine exakte Vorstellung davon gewinnen, was genau wir unter dem Begriff verstehen. Es kann hier nicht darum gehen, bunte Werbeplakate nachzuzeichnen, auf denen die Welt als globales Dorf multikultureller Einigkeit dargestellt wird. Eine Verteufelung per definitionem kommt der Sache ebenfalls nicht nahe.

    Wir wollen uns daher an der Definition orientieren, die Andre Gingrich u.a. (2011) im Zuge des anthropologischen Forschungsprojekts Lokale Identitäten und überlokale Einflüsse entwickelten. Dort definieren sie:

    Globalisierung bezeichnet weltweite Verflechtungs-, Austausch- und Abhängigkeitsprozesse. Kommunikations- und Transportmittel sind dabei besonders bedeutsam für die weltumspannenden Ströme von Finanzkapital, Waren, Technologien, Menschen und Ideen. Globalisierung hat nicht nur vereinheitlichende Wirkung, sondern geht auch mit kreativer Aneignung oder Widerstand einher und reproduziert alte und bringt neue Unterschiede hervor. (…)" (Gingrich u.a. 2011, 126).

    Nun könnte man sagen, dass die Globalisierung eigentlich erst mit der Entwicklung der Neuen Medien, will sagen: dem allgemein zugänglichen Internet seinen Durchbruch erlebte. Dies ist in gewissem Sinn, zumal, was die private Nutzung der globalisierten Kommunikationsmittel betrifft, auch richtig. Aber die Digitalisierung maschinell gesteuerter Arbeitsabläufe wie auch die von Kommunikationswegen hat bereits in den 1980er Jahren begonnen und massive Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Dies blieb in der Gesellschaft nicht unbemerkt. Jürgen Habermas (1985) sprach bereits Mitte der 1980er Jahre von einer neuen Unübersichtlichkeit. Möglicherweise ist Abwehr einer sich mehr und mehr internationalisierenden Ökonomie gegen die Interessen der Menschen vor Ort eine Lesart der damals wachsenden Zahl junger Menschen in gegenkulturellen Gemeinschaften, die ihre Musik lieber auf der Basis von Do-It-Yourself-Methoden produzieren wollten als im „Konzert multinationaler Musikkonzerne „mitzusingen.

    Ob diese Einschätzung stimmt, wollen wir an den genannten Gegenkulturen weiterhin überprüfen.

    KAPITEL 5:

    ROCKMUSIK UND GEGENKULTURELLER STIL – RELOADED

    „Stil impliziert im Allgemeinen eine bestimmte, eigene Art, sich zu verhalten, eine distinkte Art, sich zu bewegen oder sich zu kleiden etwa. Stil bekundet Identität, konkretes Sein, Prinzipien, zielgerichtetes Sein. „Kleider machen Leute", Stil aber drückt mehr aus als nur Modebewusstsein. In den Massenmedien reduziert sich in der Darstellung der gegenkulturelle Stil von Greasern, Teddyboys, Mods, Hippies, Punks, Gothics oder beispielsweise Emos, deren „Andersartigkeit" u.a. in dieser Untersuchung beleuchtet werden soll, zumeist auf eine Art „Kreation eigener, modischer Accessoires" reduziert.

    Solche Bedeutungsreduktionen haben u.a. etwas damit zu tun, dass Massenmedien gerne verallgemeinern und auf diese Weise auch anonymisieren. In der Massenkultur des 21. Jahrhunderts mit allzeit zur Seite stehendem, internetbewährtem Smartphone als beratendem Massenmedium mag es manch einem Zeitgenossen bisweilen so vorkommen, als befinde man sich in einer Erlebnisgesellschaft, in der Stil durch ständige Wiederholung der gleichen ästhetischen Handlungen entstünde, die einerseits dazu dienen, Anderen gegenüber die eigene Lebensphilosophie vor Augen zu führen, um sich von ihnen abzugrenzen und darin die eigene Identität zu finden. So wenigstens beschreibt es Gerhard Schulze (1996, 103 ff).

    Gegenkultureller Stil bedeutet aber viel mehr als nur solch schematischritualisiertes Alltagshandeln, um einerseits im eigenen Konsum die gegebene Welt besser genießen zu können, um andererseits die anderen Menschen in Konsum-Typen einteilen zu können, wie Arnold Gehlen (1957, 104 f) glaubt.

    Gegenkultureller Stil entsteht zwar gerade durch die symbolischen Inhalte, die die Anwendung von Accessoires in eigenen kulturellen Aktivitäten bekommen. Stil ist Ausdruck der Selbstdefinition dessen, der den Stil kommuniziert. Die Kommunikation ist dabei ein entscheidendes Element. Denn auch die Mitglieder gegenkultureller Erscheinungen wollen sich und ihre Lebensphilosophie darstellen, sich von anderen Gruppierungen unterscheiden. Aber: das eigentliche Ziel dabei ist, wenn in der Regel auch unbewusst, die sozialen und kulturellen Widersprüche symbolisch und womöglich real aufzuheben, innerhalb derer wir leben. Der gegenkulturelle Stil zeigt sich insofern als magisch-symbolischer Versuch, seine eigenen Entstehungsbedingungen aufzuheben, in dem Versuch also, die Bedeutungsreduktion der eigenen Lebensphilosophie, wenn man so will: der eigenen Identität auf einen von außen weitgehend vorbestimmten Status aufzuheben.

    Die genannte Bedeutungsreduktion baut eine meist diffus empfundene psychische Spannung auf, die identitätsschwächend wirkt und auf Dauer nicht hingenommen werden kann. Symbole, die im Allgemeinen der Basiskultur oder der allgemein zugänglichen kulturellen Umgebung entlehnt werden, können diese Spannung mindern und die eigene Identität stärken. Dies gelingt aber nur in der Kommunikation dieser Symbole nach außen. Denn Symbole stellen eigentlich Zeichen einer bereits erreichten Identität dar. Sie können dann zur identitätsstabilisierenden Realität des Kommunizierenden werden, wenn sie von außen als Zeichen bzw. Symbol einer bestimmten Identität wiedererkannt und als solche am Kommunizierenden akzeptiert werden (vgl. Gollwitzer / Bayer / Wicklund 2002, 191-211). Stil wird auf diese Weise zur kommunizierten Handlungsorientierung für alle, die den Stil lesen können (Bourdieu 1982, 282).

    Für Gegenkulturen, in denen Rock zur Symbolik zählt, bedeutet dies, dass ihre Musik auf mehrfache Weise zum Artikulationsmedium für die Mitglieder werden kann. Zum einen als ästhetisches Medium, wenn es, wie in der Hippiekultur, dem bürgerlich-ästhetischen musikalischen Empfinden gegenübergestellt wird; oder wenn, wie in der Punk-Kultur, die einfachen Rhythmen dem ArtRock entgegengehalten werden. Zum anderen, wenn Rockmusik als Symbol zum Erkennungszeichen innerhalb der Gegenkultur selbst wird. Schließlich, wenn durch die Vorliebe für bestimmte rockmusikalische Stile einem Mitmenschen Sympathien entgegengebracht werden, weil mit dieser Vorliebe zugleich bestimmte positive soziale Haltungen antizipiert werden. Letzteres impliziert Rockmusik natürlich auch als Abgrenzungsmedium anderen Gruppen gegenüber, weil mit der Vorliebe für den „falschen" Stil entsprechend geringere Sympathiewerte transportiert werden (Boer / Strack 2004).

    Das Gesagte bedeutet aber zugleich: Stil „(…) läßt sich nicht isoliert von der Struktur und Position, den Beziehungen, Praktiken und dem Selbstbewusstsein der Gruppe betrachten." (Clarke 1979, 135)

    Insofern sind Bedeutung und Nutzung selbst gleicher Accessoires in Gegenkulturen verschiedener klassenkultureller Herkunft von grundlegend unterschiedlicher Symbolik und dementsprechend abgrenzender Wirkung nach außen. So ist in der bürgerlich-dominanten Klasse deren sicherer bürgerlicher Stil, der oft über Generationen im klassenkulturell exklusiven Kreis weitergegeben wurde, zu beobachten. Die Empfänger inkorporieren die stilistischen Inhalte. Das Bildungsbürgertum erwirbt sich dieses Wissen während des Arbeitslebens. Kleinbürger und andere unterprivilegierte Klassen haben dagegen einen sehr eingeschränkten oder gar keinen Zugang zum bürgerlich-dominanten Stil (Bourdieu, 120 ff).

    So hat Rockmusik für Hippies, für Emos oder für Gothics, deren Mitglieder sich im Wesentlichen aus bürgerlichen Milieus rekrutierten, einen anderen Symbolwert als für Greaser, Rockabillies, Halbstarke, Skinheads oder Punks, deren Mitglieder im Wesentlichen unterprivilegierten kulturellen Milieus entstammten.

    Auch wenn die genannten Gegenkulturen unterschiedlichen sozialen Klassen entspringen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass das gegenkulturelle Terrain, auf dem sie sich bewegen, gekennzeichnet ist vom oppositionellen Charakter des „Gegen-den-Strom-Schwimmens Das verbindet die ausgeprägten Stile unter Umständen jedoch nicht eigentlich, weil opportunes wie oppositionelles Verhalten klassenkulturell jeweils verschieden definiert ist. Auch ist die Bedeutung des gegenkulturellen „Aussteigens klassenspezifisch unterschiedlich einzuordnen, wie auch die Konsequenzen für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung natürlich qualitativ nicht dieselben sein können. Es ist ein Unterschied, ob Angehörige einer untergeordneten Klasse sich von ihrer Basiskultur abgrenzen oder ob dies Mitglieder der dominanten tun, zumal, wenn es sich um Jugendliche handelt. Denn Jugendliche aus der bürgerlich-dominanten Klasse und darunter rangierenden bürgerlichen Milieus bilden sozusagen die personifizierte Zukunft des Staates. Ihr Ausscheren wirkt als Ausdruck einer Krise der bürgerlichen Ordnung." (Kohaupt 2014, 135 ff).

    5.1 When Darkness Falls and Surrounds You – Die Gothic-Kultur

    ²

    Die Post-Hippie-Ära eröffnet dem Betrachter einen massiven Anstieg gegenkultureller Stilentfaltung. Ein ähnlich divergierendes Bild zeichnen die Post-Punk-Bewegungen. Und man muss bisweilen schon ganz genau hinschauen und sehr genau hinhören, um überhaupt Unterschiede in den Stilrichtungen feststellen zu können. Dies gilt für die Musik genauso wie für die äußeren Erscheinungsformen, wie gerade die Ausprägungen der Skinhead-Kulturen sehr anschaulich demonstrieren, und wie wir beim Vergleich von Gothics und Emos noch sehen werden. Zufall oder nicht: Diese signifikante Diversifizierung gegenkultureller Phänomene, in denen Rockmusik eine Rolle spielte, fiel zusammen mit einer signifikanten Erhöhung der Akzeptanz dieser Musik in den Massenmedien und dem daraus folgenden signifikanten Anstieg der Verbreitung von Rockmusik.

    Nun könnte man kurzer Hand mutmaßen, dass die bloße Erhöhung des Angebots zu dieser Ausdifferenzierung der unterschiedlichen musikalischen Gegenkulturen führte. Dies läge auch nahe, weil natürlich die mediale Präsenz von Rockmusik wie auch die Nachrichten über entstehende gegenkulturelle Erscheinungen schneller verbreitet wurden als in Zeiten analoger Übertragungstechnik.

    Digitale Satelliten sicherten seit den 1980er Jahren die weltweite Ausstrahlung wichtiger Ereignisse in Sekundenschnelle, wenn es sein musste. Daraus alleine einen ursächlichen Zusammenhang herstellen zu wollen zwischen den technischen Übertragungsmöglichkeiten und der Ausbreitung von Gegenkulturen, wäre aber kurzschlüssig. Besonders an der Politisierung der zweiten Skinhead-Welle wurde vielmehr der dialektische Prozess zwischen der Gegenkultur unterprivilegierter Jugendlicher und einer Medienlandschaft anschaulich, deren Macher meist aus der bürgerlichen Klasse stammen.

    Gegenkulturen entstehen nicht allein, weil ein neuer rockmusikalischer Stil propagiert wird oder weil die kommunikativen Möglichkeiten sich verbessert haben. Niemand käme ohne Not auf die Idee, sich wegen vermehrten Hörens von Rockmusik in den Medien mit einer Gruppe Anderer von der eigenen Basiskultur zu entfernen, sich außerhalb ihrer zu stellen. Jugendliche leben auf Grund des Übergangs vom Kindsein zum Erwachsensein in einer permanenten Statusunsicherheit, die in den modernen Industriegesellschaften westlicher und östlicher Prägung zudem auf den bürgerlichen Anspruch stößt, die Normen und Werte aller Menschen vorzugeben. Dies erzeugt in der eigenen Basiskultur bereits hochgradige Widersprüche, weil die Interessen einzelner Gruppen und Individuen nicht einheitlich gerichtet sind und erhöht auf diese Weise die Unsicherheit Jugendlicher entsprechend. In unterprivilegierten Milieus erscheinen diese Widersprüche gar als unüberwindbar. In Zeiten ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche, die wir seit den 1950er Jahren mit relativ kurzen Unterbrechungen nahezu permanent erleben, können soziale Statusunsicherheiten besonders für Jugendliche unerträglich werden, wenn sie nämlich die eigene Statusunsicherheit nicht mehr innerhalb der sozialen und kulturellen Gegebenheiten der eigenen Basiskultur kompensieren können. Um sich nicht permanent über ihren sozialen Status gesellschaftlich definieren zu lassen, erscheint oft als einziger Ausweg der Versuch, sich kulturell selbst neu zu definieren.

    Die Zeichen am Ende der 1970er Jahre standen in der Großindustrie bereits auf Computerisierung der Produktionsabläufe mit den entsprechenden Rationalisierungseffekten. In der Kulturindustrie fand diese Computerisierung bei Philips und Sony ihre Entsprechung in der bereits angedachten Digitalisierung von Tonträgern. Allein die Planung beider Phänomene wirkte sich gesellschaftlich in einer diffusen Zukunftsangst der Menschen aus. Die Ausdifferenzierung musikalischer Gegenkulturen ist, in dieser Lesart, eine kulturelle Antwort auf die immer komplexer werdenden Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens in den westlichen und östlichen Industrienationen.

    Die politischen und gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse der ausgehenden 1970er und beginnenden 1980er Jahre wirkten, will man es in einem Satz beschreiben, auf viele Menschen in Europa düster und gefährlich, bisweilen sogar mit einem Anklang von Endzeitstimmung. Der NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 beendete die globale Entspannungspolitik der 1970er Jahre. Er sah vor, Nuklearwaffen in Europa zu stationieren. Dies beängstigte die Menschen. Zusätzlich trat 1979 Margaret Thatcher mit ihrer konservativen und neoliberalen Regierung ihr Amt als Premierministerin in Großbritannien an. Ronald Reagan in den USA folgte ihr als Präsident 1980. In Deutschland endete die sozialliberale Regierung 1982 und hievte Helmut Kohl auf den Chefsessel des Bundeskanzleramts. Die Neuausrichtung vieler westlicher Industrienationen entlang militärischer Machtdemonstrationen gegenüber dem Osten und rein ökonomischer Vorstellungen von einem bürgerlich-konservativen Gemeinwesen, in dem quasi die Wirtschaft regierte, der Markt alles regelte, der Einzelne nahezu auf sich selbst gestellt war, erzeugte einen Grad sozialer Kälte bisher unbekannten Ausmaßes. Die Angst der Menschen aus den sozialen Grenzregionen zwischen bürgerlichen und unterprivilegierten Milieus stieg stark an.

    Bürgerinitiativen setzten der Furcht vor einem atomaren Super-GAU oder vor einem nuklearen Krieg massive, aber im Wesentlichen gewaltlose Demonstrationen entgegen und politisch sich gründende Alternative Listen, aus denen sich in den 1980er Jahren in Deutschland z.B. Die Grünen formten. Ähnliches geschah in mehreren anderen europäischen Staaten. Die Menschen, die sich nicht politisch engagierten, erlebten die Lage tendenziell noch schlimmer, weil ihnen nicht einmal die Hoffnung der Aktivisten blieb, Ziele durch Hartnäckigkeit eventuell doch durchsetzen zu können.

    Bei den Friedens- und Anti-Atomwaffen-Bewegungen handelt es sich definitiv nicht um eine jugendliche Gegenkultur. Sie kann man kulturell und strategisch als Nach-68er-Bewegung sehen; ihre Mitglieder rekrutierten sich aus der bürgerlich-dominanten Klasse und aus intellektuell-bürgerlichen Subsystemen. Begleitet wurde sie im Wesentlichen von Folkrock, der im Verlauf der Gegenkultur in den 1980er Jahren eine regelrechte Renaissance erlebte. In Kapitel 6 werde ich näher auf die politischen Friedens- und Anti-Atomwaffen-Bewegungen in Europa eingehen.

    Wie unterprivilegierte Gegenkulturen auf das politische und gesamtgesellschaftliche Klima reagierten, werden wir im Abschnitt über die zweite Welle der Skinheads, ebenfalls in Kapitel 6, sehen. Die Ausschreitungen Zehntausender Arbeitsloser in Manchester, Liverpool und London im Sommer 1981 – dies vorweg – sprechen eine deutliche Sprache des Aufbegehrens und der Gewalt.

    Wie aber reagierten europäische Jugendliche, die bürgerlichen Milieus entstammten, nicht aber in der Friedensbewegung aktiv waren? Besonders in urbanen Umgebungen der industriellen Ballungszentren Großbritanniens gesellte sich damals zum betonbewährten Grau architektonischer Stadtentwicklung mehr und mehr das Einheitsgrau des tristen, langweiligen Alltags der oft arbeitslosen Jugendlichen hinzu.

    Wenn das fahle gelbe Licht der Straßenlaternen vergeblich mit dem kalten weißen Licht des Mondes konkurrierte, wenn die stimmbrüchigen Alltagslieder klappernder Schreibmaschinen langsam erstickten und das sterbende Licht verwaister Büros die wuselnden Menschenmassen aus den Städten verbannte, dann tauchten dort aus dem Untergrund mehr und mehr „dunkle Gesellen" auf: unnahbar und mysteriös – die Gothics. Schwarz gekleidet mit allerlei mystischen Accessoires, mit Kruzifixen, Rosenkränzen, okkultem und esoterischem Schmuck, blass geschminkten Gesichtern, als seien sie Drakulas Sarg entsprungen, Piercings in den Ohren und am Mund. Letzteres erinnert an die Punks, genauso wie manch bunte Haarfarbe, bordeaux-rot, knallig blau oder grün. Der Irokesen-Schnitt, in den 1970er Jahren eindeutiges Zeichen dafür, dass ein Punk vorüberzog, zierte nun die Köpfe mancher Gothics. Auftoupierte Haare, individuell und wild, in alle Richtungen zeigend, aber mit viel Haarspray am Platz gehalten. Die Kleidung: oft sehr ausgesuchte Stücke im Stil der viktorianischen Zeit, der Renaissance oder des Jugendstils. Und: Hüte sah man auf den Häuptern vieler Gothics, sogar Zylinder (vgl. Schmidt / Janalik 2000, 40 ff). Gothic bedeutet im Englischen Gotik, gotisch, barbarisch, im Sinne von düster oder schaurig (Cassell’s 1978, 1080).

    Der Ausdruck passt zum Erscheinungsbild, galt zunächst aber allein dem in der Post-Punk-Ära entstandenen düster-distanzierten Rockmusikstil, der im Zuge der Übernahme von Punk-Rockmustern in bürgerlich-kulturelle Milieus entstanden war. Siouxsie & THE BANSHEES, JOY DIVISION und THE CURE gehörten Ende der 1970er Jahre wohl zu den ersten Gothic-Bands.

    JOY DIVISION z.B. spielten klar erkennbar eine vom Punk beeinflusste Rockvariante, allerdings mit etwas gemäßigtem Tempo und dominierender Basslinie. Trotz der knappen Besetzung, Gitarre, Bass, Schlagzeug, Orgel, fällt die Musik durch einen insgesamt höheren klanglichen Variantenreichtum gegenüber dem Punk auf. Die „dissonanten Themen, mit denen sich die Band in den Texten beschäftigte, wurden musikalisch mit oft verzerrten und dissonanten Nebengeräuschen von Gitarre oder Orgel umgesetzt, die um manch monotone Passagen des Saiteninstruments herumgewoben wurden. Der Gesang zeigt sich wenig emotional; er wirkt geradezu, als unterdrücke er Gefühle: mystisch-distanziert, bisweilen weltentrückt, gerade so, als wollten uns die Musiker begreiflich machen, dass wir fremdbestimmte, puppenhafte Wesen seien, an Fäden durch das Unheil der Welt gezogen, von Computern programmierte „Akteure in einer von anonymen, menschenverachtenden Mächten bestimmten Welt, in der wir ausführende Organe ohne eigenen Willen seien.

    Die Themen der ersten LP von JOY DIVISION, Unknown Pleasures, aus dem Jahre 1979, kreisen denn auch um den Tod, um ein aus dem Ruder gelaufenes öffentliches Leben, um ein unwürdiges Leben hinter den hohen Zäunen einer Nervenheilanstalt oder um das Entrücktsein aus einer „zerstörten" Gesellschaft, an deren schaurigen Alltag man sich nicht gern erinnert – I Remember Nothing. Leben in einer eigenen, fast autistischen Welt. Wenn man so will: schaurige Themen einer Welt in Endzeitstimmung (JOY DIVISION 1979, Unknown Pleasures).³

    Die Umsetzung einiger Stücke von JOY DIVISION, z.B. She‘s Lost Control, erinnert stark an THE VELVET UNDERGROUND aus den 1960er Jahren. Deren Musik kann man als Vorläufer des Gothic betrachten, wenn sie in ihrem Vortrag oft auch an die Beat-Generation der 1950er Jahre erinnert. Auch VELVET UNDERGROUND spielten mit einer eigentlich einfachen Besetzung, Gitarren, Bass, Schlagzeug. Hinzu kamen allerdings eine elektrische Viola und Piano, die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1