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Marthas Männer
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eBook348 Seiten4 Stunden

Marthas Männer

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Über dieses E-Book

Jula Borchart hat alles, einen guten Job, eine schöne Wohnung und einen Partner. Ein gutes Leben. Bis sie schwanger wird und auf einmal alleine dasteht.
Und während das Kind in ihrem Bauch wächst, erinnert sie sich an die Geschichten, die ihr Großvater ihr erzählt hat, Geschichten über seine Großmutter, die als unverheiratete Frau in Pommern zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Kind bekam.
Wie war das damals, ein Leben als ledige Mutter? Mit der Arbeit, dem Alleinsein und später dann den Kriegen, dem Verlust der Heimat? Und warum hat sie nie geheiratet?
Jula beginnt, Marthas Geschichte aufzuschreiben und findet dabei auch Antworten für ihr eigenes Leben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Apr. 2020
ISBN9783748220152
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    Buchvorschau

    Marthas Männer - Christiane Dettmann

    Sachsen 1955

    Martha

    Ich träume. Ich sitze am Fenster und schaue hinaus. In der fremden Wohnung. Alles ist anders hier. Die Menschen. Die Straßen. Hier ist kein Platz zum Atmen.

    Ich schaue hinaus und warte. Es ist still in der Wohnung. Zu Hause hatten wir die große Standuhr, die mit ihrem Ticken die Zeit einteilte. Hier ist nichts. Die Zeit steht still. Jetzt höre ich, wie draußen jemand singt. Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg. Ich kenne das Lied. Leise summe ich mit. Ich schaue hinaus, aber es ist niemand da.

    Dann schlägt auf einmal die Uhr, die große von zu Hause. Laut hallt es durch die Wohnung, und mir wird kalt. Zwölfmal schlägt sie, und ich weiß. Jetzt ist er tot, mein Gunnar.

    Berlin 2015

    Jula

    Das Foto hing jahrelang bei den Großeltern über dem Klavier. Eigentlich schon immer. Ich weiß noch, wie ich es das erste Mal so richtig anschaute. Da war ich vielleicht fünf Jahre alt und es war kurz vor Weihnachten. Meine Oma hatte auf dem Klavier die kleinen Orchesterengel aus dem Erzgebirge aufgebaut, und ich wollte wissen, ob in diesem Jahr wieder einer dazu gekommen war. Da fiel mein Blick auf das Bild, schwarz-weiß in einem alten braunen Rahmen. Die Frau trug ein hochgeschlossenes Kleid mit Rüschen am Hals, die weißen Haare zu einem Knoten aufgesteckt. Sie schaute sehr ernst, fast ein wenig unfreundlich.

    „Wer ist das?", fragte ich.

    „Das?, erwiderte mein Opa, „das ist meine Großmutter Martha. Martha Borchart.

    „Und warum guckt sie so?"

    „Was meinst du, wie guckt sie denn?"

    „Ich finde, sie sieht böse aus."

    „Böse, mmh. Opa legte den Kopf schief und betrachtete das Bild. „Vielleicht sieht sie so aus, weil sie ganz still sitzen musste. Naja, eigentlich sah sie meistens so aus. Besonders fröhlich war sie wohl nicht. Aber sie konnte toll erzählen.

    Opa konnte auch erzählen. Märchen und Sagen und alle möglichen Geschichten. Von seiner Kindheit und seiner Großmutter Martha. Das mochte ich vielleicht am liebsten. Als ich älter war, so vierzehn, fünfzehn, meinte er, ich hätte Ähnlichkeit mit ihr. Obwohl ich das nicht erkennen konnte. Höchstens vielleicht die hohen Wangenknochen. Und dann hatte sie wohl auch eine Vorliebe für schwarz und lila. Wie ich. Trug immer schwarze, lange Kleider und einen Unterrock in sattem Violett. Und ein Paar Amethystohrringe. Aber die Vorstellung gefiel mir. Dass ich etwas von meiner Ururgroßmutter geerbt hatte. Und wenn es nur eine Vorliebe für bestimmte Farben war. Die Ohrringe hätte ich gerne gehabt. Aber die waren irgendwann verloren gegangen. Wahrscheinlich auf der Flucht. Vielleicht eingetauscht gegen etwas zu essen.

    Dann kam eines Tages ein Päckchen von meinen Großeltern. „An Jula Borchart", stand darauf, in Omas Schrift. Große, energische Buchstaben, die laut über das Papier stampften. Wenn Opa schrieb, sah es immer aus, als würden Spinnenbeine über ein Blatt huschen. Eilig und schwer zu lesen.

    In dem Paket lag das Bild in seinem braunen Rahmen. Sorgfältig in Blasenfolie eingepackt. Außerdem noch ein Briefumschlag mit weiteren Fotos. Von Menschen und Landschaften. Einige hatte ich schon mal gesehen, das Hochzeitfoto meiner Urgroßeltern zum Beispiel. Und das Haus, in dem Opa als Kind gewohnt hatte. Marthas Haus. Vor ein paar Jahren war Opa dort gewesen, in seiner alten Heimat, und hatte es fotografiert. So wie es heute aussah. Ein paar alte Briefe waren auch dabei, aber die Schrift war ausgeblichen und fast nicht mehr zu entziffern. Ganz unten lag noch ein Brief. Der war von Opa.

    Liebe Jula", schrieb er. „Jch schicke dir hier ein paar Dinge, die dich vielleicht interessieren könnten. Du hast ja gerne immer die alten Familiengeschichten gehört. Die Fotos habe ich beschriftet, damit du weißt, wer oder was darauf abgebildet ist. Vielleicht fragst du dich, warum wir dir diese Dinge schicken, allem voran das Bild von Martha. Nun, deine Oma und ich haben uns entschlossen, unser Haus zu verkaufen. Schließlich sind wir ja nicht mehr die Jüngsten, und es ist doch einfach zu groß. Und dann noch der Garten. Es kommt ja auch kaum noch jemand zu Besuch. Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, das kannst du mir glauben. Schließlich geben wir schon wieder ein Stück Heimat auf.

    Wir hatten aber Glück und haben ganz in der Nähe ein kleines Reihenhäuschen mit sehr netten Nachbarn gefunden. Jetzt geht es also ans Packen. Und Sortieren. Alles können wir nicht mitnehmen. Wenn du also noch etwas haben möchtest außer der Fotos und Briefe, dann gib uns Bescheid. Wir würden uns sehr freuen, wenn du uns bald einmal wieder besuchen kommst.

    Herzliche Grüße, Opa und Oma. "

    Der Gedanke machte mich traurig. Dass meine Großeltern ihr Haus aufgeben würden. Seit meinem Umzug nach Berlin war ich nicht mehr dort gewesen. Einmal waren sie hierher nach Berlin gekommen und hatten sich meine Wohnung angeschaut. Das war aber auch schon fast wieder ein dreiviertel Jahr her. Ich würde aber doch gerne das Haus noch einmal sehen. Bevor sie es verkauften. Aber wie sollte das gehen? Die Arbeit im Schichtdienst, da konnte ich gerade nicht frei nehmen. Im Moment fehlten so viele Kollegen. Seufzend legte ich die Fotos und Briefe zurück in den Karton. Nur das Bild von Martha behielt ich in der Hand und drehte es unschlüssig hin und her. Sollte ich es aufhängen? Aber wo? Und was würde Jakob dazu sagen? Er war sehr empfindlich, was die Gestaltung der Wohnung betraf. Ob er sich mit dem Bild meiner Ururgroßmutter anfreunden könnte? Vorerst verstaute ich es auf meinem Schreibtisch unter ein paar Akten. Ich konnte auch später noch darüber nachdenken.

    Am nächsten Morgen war ich krank. Irgendetwas mit dem Magen. Also blieb ich zu Hause. Rief nur auf der Arbeit an und sagte, dass ich nicht käme. Stattdessen ging ich zurück ins Bett, mit Wärmflasche und Magentee. Und den Briefen, die Opa mir geschickt hatte. Ich wollte wissen, wer sie geschrieben hatte.

    Das Papier war dünn und vergilbt. Sie mussten schon alt sein, diese Briefe. Der Verfasser hatte mit Bleistift geschrieben. In Altdeutscher Schrift. Ich konnte sie nicht lesen. Also stand ich noch mal auf und holte den Laptop. Unter dem Stichwort „Sütterlin" gab es ein Alphabet, das ich mir ausdruckte. Dann machte ich mich daran, die Briefe zu übersetzen, Buchstabe für Buchstabe. Zuerst die Anrede. Und den Absender. Damit ich überhaupt wusste, wer hier geschrieben hatte.

    Es dauerte eine Weile, bis ich es heraus hatte. „Mein Lieber, …" stand da. Und weiter unten: „…deine Martha."

    Es waren also Briefe von Martha. Liebesbriefe vielleicht. Viel weiter kam ich auch nicht.

    Gegen Mittag stand ich auf, weil die Übelkeit verflogen war, und räumte die Wohnung auf. Meinen Kram. Und Jakobs. Das war mittlerweile immer mehr meine Aufgabe. Ohne dass ich sagen konnte, wie es dazu gekommen war. Dabei wohnten wir noch gar nicht so lange zusammen. Erst seit drei Monaten. Vorher hatte er in einer WG gewohnt. Jakob war Fotograf. Er arbeitete für Zeitschriften und machte tolle Bilder. Etliche hingen bei uns an den Wänden. Im Flur, im Schlafzimmer, in der Küche. Kennengelernt hatte ich ihn über eine Kollegin aus der Einrichtung, die ab und zu als Model arbeitete. Sie hatte eine Party gegeben, und da war er gewesen. Jakob. Er hatte mich angeschaut, lange, direkt. Und ich hatte mich in seinem Blick verfangen. Jetzt war er bei mir eingezogen. Und hatte einiges auf den Kopf gestellt. Nicht zuletzt die Wohnungseinrichtung. Er hatte auch Fotos von mir gemacht. Die hingen im Schlafzimmer. Ich erkannte mich darauf kaum wieder.

    Wir lebten ziemlich unterschiedliche Leben, Jakob und ich. Er mit seinen Fotos und den Kontakten zur Film- und Modeszene. Und ich mit meinen Behinderten. Aber wir hatten es gut zusammen, wahrscheinlich gerade wegen dieser Unterschiede. Dadurch blieb das Leben spannend.

    Später kaufte ich ein, denn am Abend wollte ich kochen. Fenchel-Tomaten-Frittata. Nach dem Vormittag im Bett tat die frische Luft gut. Es roch nach Frühling.

    Zu Hause legte ich eine CD auf, dann ging ich an die Arbeit. Schnitt Knoblauch und Gemüse und dünstete es in der Pfanne.

    Dann deckte ich den Tisch und stellte extra einen kleinen Primeltopf dazu, den ich gekauft hatte. Rosafarbende Blüten mit einem kleinen, gelben Fleck in der Mitte.

    Als Jakob kam, duftete es in der ganzen Wohnung nach Basilikum und Knoblauch. Als wären wir in Italien. Ich stand am Waschbecken und hörte, wie Jakob seine Tasche im Flur abstellte. Wie er ins Bad ging und sich die Hände wusch. Dann kam er in die Küche. Legte seine großen, schönen Hände um meine Taille und küsste meinen Nacken. Es dauerte eine Weile, bis wir zum Essen kamen.

    Bei der Frittata erzählte Jakob von seinem Tag. Von der Fotostrecke, die er gerade in Arbeit hatte. Mode für ein großes Magazin.

    „Wie ist das eigentlich, hast du an die Telefonnummer gedacht von dem Typen mit dem Loft?", fragte er. Das war jemand, den ich von der Arbeit kannte. Er wohnte in so einer modernen Dachgeschosswohnung und Jakob hatte sie für den nächsten Auftrag ins Auge gefasst.

    „Liegt auf meinem Schreibtisch. Warte, ich geh sie holen."

    Ich musste allerdings eine Weile suchen, weil mein Schreibtisch ziemlich voll und auch nicht besonders ordentlich war. Dabei fiel mir Marthas Bild in die Hände und ich nahm es mit in die Küche.

    „Hier, guck mal, das ist meine Ururgroßmutter." Jakob schaute auf.

    „Wo hast du das denn her?"

    „Das haben meine Großeltern mir geschickt, die misten gerade ihre Wohnung aus."

    „Mmh. Und hast du die Telefonnummer gefunden?" Sonst nichts. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich lebte Jakobs Leben, aber nicht meins.

    Am nächsten Morgen kehrte die Übelkeit zurück.

    „Vielleicht gehst du doch lieber zum Arzt, meinte Jakob, „am Ende ist das noch ansteckend. Er war gerade mitten in einem wichtigen Job und konnte es sich nicht leisten, krank zu werden.

    Die Praxis war im Erdgeschoss eines alten Stadthauses. Parkettfußboden, der bei jedem Schritt knarzte, und hohe, weiße Decken mit Stuck. Herrschaftlich. Der Arzt war nicht ganz so herrschaftlich, sondern schon älter, der Rücken ein bisschen krumm, mit ein paar grauen Haarflusen auf dem Kopf. Sein Kittel war knitterig, als hätte er darin geschlafen. Aber sein Blick war klar und blau.

    Er fragte nach den Beschwerden, untersuchte mich gründlich und tastete auch den Bauch ab. Schließlich räusperte er sich und strich sich über den spärlichen Haarkranz.

    „Wann hatten Sie zum letzten Mal Ihre Monatsblutung?" Ich sah ihn an. Und zuckte mit den Schultern.

    „Das weiß ich gar nicht. Die kommt immer ganz unregelmäßig."

    Er schickte mich auf die Toilette, dann saß ich im Wartezimmer. Mit zittrigen Händen und klopfendem Herzen. Einem Kribbeln im Magen. Das war doch nicht möglich. Ein Kind. Wir hatten doch immer aufgepasst. Oder nicht? Aber es konnte ja auch etwas ganz anderes sein. Die Zeit dehnte sich. Schlich vorbei. Bis endlich die Erlösung kam.

    „Frau Borchart? Kommen Sie doch bitte noch einmal mit durch."

    Im Sprechzimmer musste ich meine Hände an der Hose trocknen. Weil sie nass waren vor Aufregung.

    Der Arzt sah mich an, ein blauer Blick:

    „Frau Borchart, da muss ich wohl gratulieren! Neues Leben ist auf dem Weg!"

    Auf dem Weg nach Hause war die Welt ganz neu. Leuchtend. Frisch. Weil ich eine andere war. Den Beweis hielt ich in der Hand. Das erste Foto. Eigentlich nur ein winziger Punkt. Aber doch: ein Kind.

    Was würde Jakob dazu sagen?

    Zu Hause legte ich das Bild vorsichtig auf den Küchentisch. Saß davor und betrachtete es, lange.

    Wir hatten bisher noch nicht über Kinder gesprochen, aber ich hatte mir immer welche gewünscht. Nun konnte ich nur hoffen, dass Jakob es auch so sah. Es sprach ja auch eigentlich nichts dagegen. Ungefähr zwei Jahre waren wir nun schon zusammen, auch wenn wir erst seit kurzem auch wirklich den Alltag teilten. Und das Finanzielle war eigentlich auch kein Problem. Trotzdem, ich wollte es gut vorbereiten. Ihm die Neuigkeit nicht einfach so zwischen Tür und Angel mitteilen. Darum rief ich ihn auch nicht an. Sondern bestellte einen Tisch beim Italiener. Danach schrieb ich ihm eine Nachricht. „Um 19.00 Uhr bei Marcos."

    Der Tag war lang. Und kurz. Ich brannte darauf, es Jakob zu erzählen, und gleichzeitig verging die Zeit, während ich einfach nur dasaß und meinen Gedanken lauschte und der Stille in der Wohnung. Eine Hand auf meinem Bauch.

    Dann wurde es endlich Abend. Schon am Nachmittag hatte ich meinen Schrank durchwühlt, einen Rock und das weiße Shirt mit dem bestickten Einsatz rausgesucht. Jetzt trug ich Kajal und Wimperntusche auf und betrachtete mich im Spiegel. Ich wollte schön sein heute. Besonders heute.

    Jakob war noch nicht da, als ich das Restaurant an der Ecke betrat. Der Kellner führte mich zu unserem Tisch und brachte mir ein Glas Wasser und etwas Brot.

    Dann wartete ich, während ich die anderen Gäste betrachtete. Junge Paare, alte Paare, vielleicht auch einige Geschäftsessen dabei. Schräg gegenüber von meinem Tisch saßen zwei junge Frauen. Die eine war schwanger. Als unsere Blicke sich kreuzten, tauschten wir ein Lächeln. Ein Frauenlächeln.

    Dann kam Jakob. Ein bisschen abgehetzt betrat er das Restaurant, unbestritten der schönste Mann von allen. Er begrüßte mich mit einem schnellen Kuss und ließ sich dann mit einem Seufzer auf seinen Stuhl fallen.

    „Das ist ja mal ’ne Überraschung, sagte er, „Gibt es einen Grund? Ich lächelte, geheimnisvoll, wie ich hoffte.

    „Vielleicht, erwiderte ich. „Aber lass uns doch erst mal essen.

    Wir bestellten. Scampi und Pizza. Und Weißwein für Jakob. Ich blieb beim Wasser.

    „Is ja schön, dass es dir wieder besser geht. Mit deinem Magen, meine ich, sagte Jakob. „Was hat denn der Arzt gesagt? Jetzt war wohl der Moment gekommen.

    „Warte, ich zeig’s dir." Ich öffnete meine Tasche und holte einen Umschlag heraus.

    „Hier", sagte ich. Verunsichert schaute Jakob mich an.

    „Und was soll das jetzt?"

    „Mach ihn auf."

    Vorsichtig öffnete Jakob den Umschlag und zog das Bild heraus. Von unserem Kind. Lange saß er da und sah es an. Saß nur und starrte. Schließlich hob er den Kopf.

    „Ist das dein Ernst?" Ich nickte. Verunsichert. Weil ich seine Reaktion nicht deuten konnte. Er freute sich doch wohl und war vielleicht nur etwas überrascht? Wieder schaute Jakob auf das Foto.

    „Neunte Woche?", fragte er.

    „Ja, es ist noch ganz frisch. Aber man kann es auf dem Bild schon erkennen." Gespannt starrte ich ihn an.

    „Jakob?" Langsam legte er das Bild auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

    „Puh!", sagte er. Ich lachte.

    „Ja, nicht? Ziemlich große Überraschung, oder?"

    „Allerdings!" Er lächelte und strich vorsichtig mit einem Finger über meine Hand. Sah mich an.

    „Du kannst es doch aber noch wegmachen lassen, oder?"

    An diesem Abend aßen wir keine Scampi. Und keine Pizza. Ich verließ das Restaurant, sobald ich mich von meiner Schockstarre erholt hatte, und lief ziellos durch die Stadt.

    Es hatte angefangen zu regnen, aber das merkte ich kaum. Weil ich nur eines denken konnte. Dass Jakob mich verraten hatte. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich das Kind behalten wollte. Das war ihm offensichtlich total egal. Es gab nur ihn und seine Bedürfnisse. Immer wieder nur ihn. Von Anfang an war es so gewesen. Ich hatte das nur noch nie so klar gesehen.

    Jakob zog am nächsten Morgen aus. Es machte keinen Sinn mehr.

    Ich wollte keine Entschuldigungen, keine Diskussionen, keine Versöhnung. Er hatte mir gezeigt, wie er wirklich war. Ich wollte nur noch, dass er ging.

    Die nächste Zeit schlief ich viel. Ich war unendlich müde. Das Kind verbrauchte meine ganze Kraft. Obwohl es nicht größer war als ein Gummibärchen. Der Arzt hatte mich gleich krankgeschrieben und ich hatte nichts dagegen.

    Tage vergingen, an denen ich nichts tat. Meistens lag ich im Bett und starrte an die Decke. Und wartete nur, dass die Zeit verging. Manchmal stand ich auf, um mir etwas zu essen zu holen. Gott sei Dank war der Kühlschrank voll. Einmal klingelte das Telefon, aber ich ging nicht ran. Ich wollte mit niemandem sprechen.

    Einsam war ich nicht, denn ich hatte ja mein Kind. Das Ultraschallbild hatte ich eingerahmt und auf meinen Nachttisch gestellt, zusammen mit dem Bild von Martha. So hatte ich zwei, mit denen ich reden konnte.

    Mir fielen auch die Geschichten wieder ein, die Opa erzählt hatte. Über Martha. Über ihr Leben auf dem kleinen Hof in Pommern. Mit ihrem alten Vater und ohne Mann und Kinder. Und dann, dass sie nie geheiratet hatte.

    „Eigentlich hätten wir ja Marten heißen sollen, hatte Opa gesagt, „aber es hat ja dann keine Hochzeit gegeben.

    Schwanger war sie trotzdem geworden, auch ohne Hochzeit. Wie das wohl gewesen war, damals? Sie hatte ja trotzdem immer arbeiten müssen.

    Ich betrachtete ihr Bild und hätte sie gerne befragt. Über das Kinderkriegen. Die Liebe. Das Leben überhaupt.

    Schließlich fasste ich einen Entschluss. Stand auf und schaltete den Computer an. Setzte mich davor und begann zu schreiben. Vielleicht war es ja so gewesen…

    Pommern 1909

    Martha

    Mit einem Seufzer stand Martha Borchart vom Melkschemel auf. Reckte sich und rieb sich den schmerzenden Rücken. Im Stall roch es nach warmem Tier und staubigem Stroh.

    Martha streckte sich noch einmal, dann schob sie mit beiden Händen die Starke zur Seite. Die Kuh schnob laut und schlug nachlässig mit dem Schwanz. Martha nahm den vollen Eimer mit der schäumenden Milch, hängte den Schemel an den Haken und verließ den Stall. Draußen wurde es langsam hell. Es war ein frischer, klarer Morgen, der schon ganz leicht nach Sommerabschied und Herbstkühle roch. September. In ein paar Wochen würden sie wieder den halben Tag in Dunkelheit und Kälte verbringen. Mit eisigen Händen morgens beim Füttern und Melken. Aber noch war es nicht soweit. Noch war Sommer. Auch wenn die Sonnenblumen schon die schweren Köpfe hängen ließen, und die Hagebutten an den Rosensträuchern sich rot färbten.

    In der Küche verströmte der Ofen noch einen kleinen Rest Wärme vom letzten Abend. Martha stellte die Milch in die Speisekammer, dann ging sie zum Tisch und schlug den Kalender auf. Holte einen Stift aus der Schürzentasche und strich einen Tag aus. So. Es war gut zu sehen, dass die Zeit verging.

    Die Tage auf dem kleinen Hof waren alle gleich. Sie dauerten von morgens um fünf bis abends um zehn. Im Sommer. Im Winter gingen sie früher zu Bett, um Kerzen zu sparen. Und Petroleum. Jeden Morgen als erstes in den Stall, die Tiere versorgen. Die beiden Pferde, die Kühe und das Schwein. Dann der Haushalt. Kochen, Putzen und die Wäsche.

    Die Hühner und der Gemüsegarten. Und dann die Arbeit auf dem Feld. Die machte der Vater. Aber natürlich musste Martha mithelfen. Er war ja nicht mehr der Jüngste. Sie sprachen nicht viel miteinander, der Vater und sie.

    Manchmal ging Martha am Samstag zum Tanzen in den Krug. Wenn Gustav keine Lust hatte und Tilly nicht allein gehen wollte.

    So war es auf dem Borchart-Hof, seit die Mutter gestorben war. Aber Martha wollte nicht darüber nachdenken. Es nützte ja auch nichts.

    Wenn sie aus dem Küchenfenster sah, lag vor ihr der Hofplatz, rechts die Scheune, dahinter der Gemüsegarten. Ein paar Hühner stolzierten herum und scharrten in dem trockenen Sand nach Würmern. Es war bald Mittag, und über dem Hof lag eine schläfrige Ruhe. Martha wärmte Wasser auf dem Herd und goss es dann in die große weiße Emailleschüssel. Die war am Rand schon ein bisschen angeschlagen. Stellte das Geschirr bereit und machte sich an den Abwasch. Die Kartoffelsuppe stand schon auf dem Herd. Draußen hörte sie eine Stimme. Das war die Anna Gehrke, von nebenan. Die redete immer so laut, dass man sie bis Kleinmöllen hören konnte. Vorsichtig schaute Martha aus dem Fenster. Sie wollte nicht, dass die Nachbarin sie sah. Die wurde man sonst nicht wieder los. Ja, da standen sie, die Gehrke und der Vater. Die Frau hielt eine Schüssel im Arm, hatte wohl Eier geholt. Sie redete und redete, während der Vater auf seine Füße schaute. Und die Worte der Nachbarin ohne Widerstand über sich ergehen ließ. Übers Wetter, die Gesundheit und die Familie. Das waren die Themen.

    „Ja, meine Astrid, die kriegt ja nu auch ihr drittes. Und so fleißig isse, na, deine ja auch. Da kannste von Glück sagen. Nicht so eine, die den Männern nachläuft, nich. War ja auch nicht so einfach, so ohne Mutter, nur mit 'em Vadder, nich. Aber was soll’s. Wohlwollend klopfte sie dem Vater auf die Schulter. „Glück im Unglück, sag ich immer, Glück im Unglück. Dann beugte sie sich neugierig vor.

    „Und, hat sie denn nu schon was in Aussicht?" Überrascht schaute der Vater auf.

    „Was?"

    „Na, 'n Mann, mein ich. Wird ja langsam Zeit. Wie alt isse jetzt? Dreißig? Da muss sie sich aber ranhalten." Wieder klopfte sie dem Vater auf die Schulter.

    „Na, nichts für ungut. Nu muss ich aber los." Sie wandte sich zum Gehen, ließ den Vater auf dem Hofplatz stehen mit den Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern. Martha sah, wie er den Kopf schüttelte. Dann wandte er sich um und ging langsam aufs Haus zu.

    Schnell sprang Martha vom Fenster zurück, beugte sich hastig über die Abwaschschüssel. Der Vater sollte nicht wissen, dass sie gelauscht hatte. Sie wollte ihm keinen Kummer machen. Er hatte es ja schwer genug. Aber die Worte der alten Gehrke taten weh, wie Dornenranken auf der bloßen Haut. Sie hätte ja schon gerne geheiratet. Aber wen? Es hatte sie ja nie jemand gewollt. Dazu war der Hof auch zu klein. Und sie hatte auch nie jemanden gefunden, den sie wirklich gewollt hätte. Es wäre ja auch gar nicht gegangen. Denn wer hätte sich um den Vater gekümmert, wenn sie weggezogen wäre? Der Vater hatte sie auf dem Hof gebraucht. Und sie war geblieben. Aber wenn sie ganz ehrlich war, fühlte sie sich mehr und mehr zu dem Leben hier verurteilt. Mit der Arbeit konnte sie die Gedanken auf Abstand halten. Sie wollte sie nicht hören, denn sie nützten nichts. Nicht die von der Schuld und nicht die, die ihr etwas anderes versprachen. Einen Mann, Kinder, etwas Eigenes. Aber sie waren trotzdem da. Immer. Vor allem nachts, wenn sie nicht schlafen konnte.

    Ich träume…

    Ich bin in der Kirche, vorne, an der ersten Bank. Es ist kalt und düster. Vor dem Altar stehen die Särge. Ein großer und einige kleine. Fünf oder sechs. In dem großen liegt die Mutter. Und in den kleinen ihre Fehlgeburten. Es sind so viele. Der Vater steht daneben und schaut mich an. Ganz streng sieht er aus. Und böse. „Das ist alles deine Schuld", sagt er.

    Obwohl er das noch nie zu mir gesagt hat.

    Am Samstag kam Tilly vorbei. Fragte, ob Martha wohl noch ein bisschen Zucker übrig hätte, für den Sonntagskuchen. Aber das war nur ein Vorwand. Mit der Zuckerschüssel in der Hand saß sie auf der alten Bank und sah zu, wie Martha die Hühner fütterte. Warf einen kritischen Blick auf die Fenster und den Gemüsegarten. Ob denn auch alles gut in Schuss war. Tilly wusste gerne Bescheid. Über alles.

    „Kommste denn mit heute abend?", fragte sie. Martha schaute auf.

    „Wohin?"

    „Na, zum Tanzen. Is doch Samstag heute."

    „Ach nee, ich glaub nich. Hab noch so viel zu tun." Tilly sah enttäuscht aus.

    „Och, Martha, das sagste immer. Is doch alles in Ordnung hier. Musst dir doch auch mal was gönnen."

    „Aber ich hab doch überhaupt niemanden zum Tanzen."

    „Ach Schnack! Tilly schnalzte missbilligend mit der Zunge, „da sind doch wohl genügend flotte Kerle, will ich meinen. Und Gustav kommt diesmal auch mit, hat er gesagt.

    „Ach, ich weiß nich…"

    „Nee, also jetzt ist gut. Du kommst mit. Musst doch auch mal raus." Tilly stand auf und nahm ihre Zuckerschüssel in den Arm.

    „Wir holen dich dann ab."

    Martha stand da und schaute ihrer Cousine hinterher. Manchmal war es, als würde Tilly sie einfach überrollen. Sie musste natürlich mitgehen. Sie konnte auch ‚Nein‘ sagen, wenn Tilly und Gustav vor der Tür ständen. Aber eigentlich hatte sie ja auch Lust. Zumindest ein bisschen. Einmal an gar nichts denken. Nur die Musik hören. Tanzen. Leicht sein.

    Und während Martha ihre übliche Runde machte, der Stall, der Garten, das Haus, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie setzte den Suppentopf aufs Feuer und ging in die Kammer. Löste den festgeflochtenen Zopf und begann, ihre Haare auszukämmen. Strähne um Strähne, Strich um Strich. Wie Sonnenstrahlen floss das Haar über ihren Rücken. Lang und dick und glänzend. Ihre Haare waren ihr ganzer Stolz. Auch wenn sie das nie gesagt hätte. Es war ja sonst nichts Besonderes an ihr. Ein breites, gutmütiges Gesicht, eine kräftige Gestalt. Rote Wangen hatte sie, immerhin. Nach dem Bürsten flocht sie die Haare zu einem dicken Zopf, den sie sich wie eine Krone um den Kopf legte. Jetzt konnte sie zum Tanzen gehen.

    Der Dorfkrug war bereits gut gefüllt, als Martha mit Tilly und Gustav den Saal betrat. Die mitreißenden Klänge von Akkordeon und Geige schlugen ihnen entgegen. Dazu ein lautes, rhythmisches

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