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Ein Ganzer Mann: Entwicklung und Zukunft der Männlichkeit. Eine integrale Perspektive.
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eBook379 Seiten4 Stunden

Ein Ganzer Mann: Entwicklung und Zukunft der Männlichkeit. Eine integrale Perspektive.

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Über dieses E-Book

Wann ist der Mann ein Mann? Macho, Held, Patriarch - die Rollenmodelle von gestern kommen heute nicht mehr gut an. Der Softie als Gegenentwurf kann auch nicht wirklich überzeugen - die Männlichkeit ist in der Krise.
Kein Wunder, denn es gibt nicht nur eine Männlichkeit. Ein Streifzug durch die kulturelle Evolution zeigt: Von der Steinzeit bis in die Postmoderne entfaltet sich eine ganze Stufenfolge von Männlichkeits-Bildern, die auch heute noch in jedem Mann lebendig sind - der Naturbursche genauso wie der harte Kämpfer, der Ehrenmann ebenso wie der Macher oder der Feingeist.
Und die alten Mannsbilder haben längst nicht ausgedient. Nehmen wir das Beste aus allen Epochen zusammen, dann wird ein zukunftsfähiger Männertyp sichtbar: Ein Ganzer Mann, der geerdete Körperlichkeit mit modernem Intellekt verbindet, gesunde Aggression mit Einfühlungsvermögen und Verantwortlichkeit.
Das Buch macht verständlich, warum der Mann heute so orientierungslos dasteht, und entwirft die Grundlagen für ein Persönlichkeitswachstum hin zum Ganzen Mann.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Feb. 2019
ISBN9783734544651
Ein Ganzer Mann: Entwicklung und Zukunft der Männlichkeit. Eine integrale Perspektive.

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    Buchvorschau

    Ein Ganzer Mann - Raymond Fismer

    Teil I: Die Landkarte

    Männer lieben Theorie. Sie wollen die Dinge einordnen und verstehen können.² Nicht nur deshalb werde ich zunächst den theoretischen Rahmen umreißen, auf dem die Darstellung dieses Buches basiert. Ein theoretischer Rahmen verbessert tatsächlich die Wahrnehmung der Realität. Mit einem Reiseführer in der Hand sieht man Dinge in einem fremden Land, die einem ohne dem entgangen wären.

    Allerdings muss dieser Einsicht die Antithese auf den Fuß folgen: niemals darf man eine Landkarte für das Land selber halten. Jedes Einordnen und Verstehen muss durch eigene Erfahrung und Lebenspraxis ergänzt werden, sonst bleibt alle Theorie fruchtlos.Deshalb werden wir uns im Laufe des Buches Schritt für Schritt vom abstrakten Rahmen näher an die konkrete Realität heran arbeiten.

    Schrecken wir zum Auftakt nicht davor zurück, einen Blick auf die großen Zusammenhänge zu werfen und grundsätzliche Fragen zu stellen.

    1. Bewusstsein ist Geist und Materie, Kultur und Gesellschaft

    Wenn wir von männlicher Geschlechtsidentität reden, dürfte schon in der Einleitung klar geworden sein, dass damit nicht (nur) ein biologisches Phänomen gemeint ist, sondern ein Phänomen im Bewusstsein. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau sind zwar zunächst genau wie bei den Tieren biologisch bestimmt, aber entscheidend für den Menschen ist, was sein Bewusstsein aus diesen Unterschieden macht: welche Werte, welche Gefühle, welche Denkweisen, welche soziale Stellung damit verbunden werden.

    Wir haben es also mit dem Studium eines Bewusstseinsphänomens zu tun.

    Was ist Bewusstsein? Um uns dieser großen, letztlich wohl unlösbaren Frage zu nähern, versuchen wir zunächst eine Bestimmung, in welchem Raum sich das Phänomen abspielt. Bewusstsein wird wahrgenommen im Inneren, beim Blick des Bewusstseins auf sich selber. Selbst-Bewusstsein nennen wir diese reflexive Funktion, mit der wir unseres eigenen Ichs gewahr werden. Das spielt sich in der Welt des Geistigen ab. Andererseits ist aber unstrittig, dass Bewusstsein (jedenfalls das menschliche, von dem wir hier reden) an die biologischen Strukturen unseres Nervensystems gebunden ist, insbesondere an das Gehirn. Wird das Gehirn schwer geschädigt, verschwindet auch das Bewusstsein. Und historisch entstand das Bewusstsein des Menschen erst mit der Evolution seines Gehirns. Hier befinden wir uns in der Welt des Materiellen.

    Bewusstsein ist Geist, Bewusstsein ist Materie: Die Diskussion um die Natur des Bewusstseins, die gerade in den letzten Jahren mit dem Fortschritt der Gehirnforschung großen Aufschwung genommen hat, sieht diese beiden Aussagen meist als Gegensatz, und bemüht sich dann, die Verbindung dazwischen aufzuspüren: wie die materiellen Vorgänge im Gehirn sich im Geiste widerspiegeln können, oder umgekehrt, wie unser Denken die Hirnfunktionen beeinflussen kann.

    Wir wollen stattdessen einen übergeordneten, einen integralen Standpunkt einnehmen, und Bewusstsein grundsätzlich als ein Phänomen betrachten, das sowohl in der Welt der Materie als auch in der Welt des Geistes existiert; in der Ich-Perspektive genauso wie in der Es-Perspektive. Mehr noch, es existiert auch immer in der Wir-Perspektive. Denn kein menschliches Bewusstsein ist isoliert für sich vorstellbar, es funktioniert immer im Kontext von Gesellschaft und Kultur. Am deutlichsten wird dies, wenn man sich klar macht, wie stark all unser Denken an Sprache gebunden ist. Wir denken, erinnern und äußern uns in den Begriffen der Sprache. Und Sprache existiert nur im zwischenmenschlichen Konsens.

    Wir können uns leicht ein anschauliches Bild für diese Vorstellung von der Ganzheitlichkeit des Bewusstseins machen. Nimmt man die beiden Gegensatzpaare innen – außen und individuell – kollektiv und ordnet sie in einem zweidimensionalen Diagramm an, so erhält man ein Achsenkreuz mit vier Quadranten (s. Abbildung 1), das den Raum des Bewusstseins aufspannt: links oben gibt es den Bereich der individuellen Innenwelt, rechts oben die materielle Außenwelt, die körperliche Existenz. Entsprechend ist unten links der Bereich des kollektiven Inneren, unten rechts der der äußeren Kollektive.

    Um Bewusstsein vollständig erfassen zu können, und den Fallstricken des Entweder-Oder zu entrinnen, muss man begreifen, dass es sich immer in allen vier Quadranten abspielt. Links oben findet sich all das, was ich in meinem Bewusstsein selber wahrnehme; also Denken, Fühlen, Bilder, Erinnerungen, Träume…. Dies ist die Form, wie jeder von uns alltäglich sein Bewusstsein erlebt: als Selbst-Bewusstsein, in Reflexion. Dazu kommt der riesige Raum des Unbewussten; diesen erschlossen zu haben, ist ein bleibendes Verdienst der modernen westlichen Tiefenpsychologie. Links oben ist der Bereich der Innenwelt, des Ideellen. Hierhin schauen Philosophen, Spirituelle und Psychologen, wenn sie von Bewusstsein reden.

    Rechts oben dagegen betrachten wir die körperliche Grundlage des Bewusstseins: Denken als neurophysiologischen Prozess des Gehirns. Durch elektrische Impulse, Neurotransmitter und Hormonausschüttungen verbinden sich die Neuronen zu einem gewaltigen Netzwerk. Und nicht nur die Nervenzellen - letztlich ist das Bewusstsein eine Funktion des menschlichen Organismus als Ganzem, wir fühlen mit dem ganzen Körper und erinnern uns in jeder Zelle. Dieser Körper ist aufgebaut aus Organen, diese aus Zellen, und diese bestehen aus Molekülen, schließlich aus Atomen, aus Elementarteilchen… Der rechte obere Quadrant spannt die ganze Welt unserer (individuellen) materiellen Existenz auf. Dies ist der Bereich, den die Naturwissenschaft beschreibt, wenn sie von Bewusstsein redet.

    Abbildung 1: Bewusstsein in vier Quadranten

    Rechts unten dagegen ist der Bereich der kollektiven Strukturen der Außenwelt. Allein ist der Mensch nicht lebensfähig, sondern immer und überall organisiert er sein Leben in Gemeinschaften, in gesellschaftlichen Strukturen, in ökonomischen Produktionssystemen. Dies fängt an bei den kleinsten oder urtümlichen Formen wie der Familie, der Sippe, und entfaltete sich durch die Geschichte der Menschheit zu all den Stufen von Gesellschaftsformationen, wie Jäger- und Sammlerinnen-Gesellschaften, Ackerbau- und Viehzüchter-Kulturen, Sklavenhaltergesellschaften, Feudalsystemen, bis hin zu unseren modernen Industrie- und Informationsgesellschaften. Die jeweilige Form der Lebens-Verhältnisse prägt tiefgreifend das menschliche Bewusstsein; Karl Marx brachte das auf die prägnante Formel „Das Sein bestimmt das Bewusstsein".

    Das kollektive Bewusstsein, das eine Gesellschaft herausbildet, findet sich schließlich im Quadranten links unten. Dies umfasst grundlegend die Sprache, ohne sie ist uns zumindest ein höheres Denken kaum vorstellbar. Sprache existiert im zwischenmenschlichen Raum, die Laute gewinnen ihre Bedeutung erst durch (stillschweigende) Vereinbarung unter den Menschen eines Sprachkreises. Aber auch komplexere geistige Strukturen wie überlieferte Metaphern und Bilder, Traditionen, Sitten und Gebräuche, ganze Wertesysteme gewinnen nur Bedeutung im kollektiven geistigen Raum. Alle ideellen Kulturgüter wie Dichtung, Musik, Philosophie, Wissenschaft und Religion gehören hierher. Der postmodernen Geisteswissenschaft kommt der Verdienst zu, den bewusstseinsprägenden Einfluss dieses Quadranten herausgestellt zu haben. Sie entlarvte viele der als ewig oder naturgegeben betrachteten Bewusstseinsformen als historisch bedingt, gesellschaftlich geprägt und somit änderbar.

    Vereinfacht können wir die vier Quadranten bezeichnen als Geist, Körper, Gesellschaft und Kultur. Oder noch anders: Links oben ist der Bereich des Ich, links unten der des Wir, während rechts die Welt des Es (im Singular wie im Plural) angeordnet ist.

    Ein kleiner Exkurs zum Verständnis des „Geistigen"

    Viele moderne, materialistisch eingestellte Männer haben Probleme mit diesem Begriff. Man stellt sich darunter etwas Geisterhaftes, Irreales vor, etwas das außerhalb dieser Welt ist; Geister, Gespenster eben³. Und da alles, was man wahrnimmt, doch offenbar Teil der realen materiellen Welt ist, ist das Geistige nirgends sichtbar, also unrealistische Fantasterei. Dieser Vorstellung hing ich auch lange Zeit an (gerade für einen Physiker nichts Ungewöhnliches).

    Bis mir irgendwann klar wurde, dass mich das Geistige ganz alltäglich umgibt. Fangen wir an in der Hochburg des Materialistischen, beim Berechenbaren: bei den Zahlen. Ist eine Zahl ein materielles Ding, ein Gegenstand der empirischen äußeren Welt, den ich anfassen, vorzeigen, messen kann? Offenbar nicht, die Zahl existiert nur in unseren Gedanken. Bei näherem Hinsehen erweist sich die ganze Mathematik, dieser Inbegriff des rational-materiellen Denkens, als die Geisteswissenschaft par excellence.

    Sie operiert mit reinen Geistes-Produkten. (Natürlich hat sie ein äußeres Korrelat: wenn ich die fünf Bücher auf meinem Schreibtisch ansehe und „fünf denke, so gibt es da draußen tatsächlich so etwas wie „fünf Bücher. Aber die Zahl als Abstraktum existiert nur in meinem Denken.)

    Schauen wir uns weiter um. Wie schon gesagt, geschieht das meiste Denken in der Form der Sprache. Sprache ist ein rein geistiges, ein intersubjektives, kulturelles Geschehen. Denn das physische Wort, der Klang, die Luftschwingung, wird erst zu Sprache, indem wir ihm im Geist Bedeutung geben. Sogar die Gegenstände der äußeren, physischen Welt bekommen für uns erst dadurch Bedeutung, dass sie uns als Sinneseindrücke und als Gedanken entgegentreten. Hier könnte man einwenden, dass der Sinneseindruck ja eine physiologische Reaktion der Nerven sei. Aber da gilt das Gleiche wie für die Sprache: Nicht die neuronale Reaktion wirkt in unseren Gedanken, sondern das geistige Bild, die Empfindung, die assoziationsreiche Erinnerung, die sie hervorrufen.

    Tatsächlich lebt unser Bewusstsein also permanent in einer geistigen Welt. Es ist ganz einfach: der Blick nach innen zeigt geistige Objekte, der Blick nach außen materielle Objekte. Wenn man das so simpel akzeptiert, wie es ist, und nicht länger Geister isoliert von der äußeren Welt sucht, so wird das Bild der vier Quadranten selbstverständlich: links = innen, rechts = außen.

    Und Bewusstsein ist eine Ganzheit, die niemals in nur einem Teilbereich, einem Quadranten zu verstehen ist; immer ist Innen an Außen gekoppelt, und Einzeln mit dem Kollektiv verwoben, und umgekehrt. Jeder Gedanke innen hat sein Korrelat in neurophysiologischen Reaktionen des Nervensystems und stützt sich auf kollektive geistige wie materielle Voraussetzungen. Umgekehrt gewinnt jede Gehirnfunktion nur dann die Qualität von Bewusstsein, wenn ihr innere (wahrnehmbare oder unbewusste) geistige Prozesse entsprechen.

    In dieser integralen Sichtweise löst sich der unlösbar scheinende Bewusstseins-Streit von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft in Nichts auf. Oder noch besser: die produktiven Beiträge beider Seiten finden ihre Würdigung, sie müssen nicht mehr als Argumente gegeneinander ins Feld geführt werden, sondern können sich gegenseitig ergänzen, als Bausteine zum ganzheitlichen Verständnis beitragen.

    Der hier skizzierte theoretische Rahmen basiert auf den Schriften des amerikanischen Philosophen Ken Wilber, einem der umfassendsten Denker unserer Zeit. Eine große Stärke des integralen Ansatzes, wie er von Wilber, und mittlerweile einer wachsenden Zahl weiterer Autoren, entwickelt wurde, liegt in seinem integrierenden Charakter: zwischen einander widersprechenden Theorien sucht er nicht danach, die eine oder die andere zu widerlegen, sondern er spürt das Gemeinsame, das größere verbindende Gedankennetz dahinter auf. So wird der gesamte Schatz des Wissens, den die Menschheit in ihrer langen Geschichte und in vielen unterschiedlichen Kulturen erworben hat, integriert in eine Landkarte des Bewusstseins, die den zeitgemäßen Stand widerspiegelt.

    Was bedeutet das nun für die Erforschung des Bewusstseins von Geschlechtsidentität? Männlichkeit ist nicht alleine als biologisches Phänomen (rechts oben), als Ausdruck von Genen und Hormonen, zu begreifen. Genauso wenig reicht es, sie alleine psychologisch (links oben) verstehen zu wollen, oder sie auf kulturelle Rollenfestschreibungen (links unten) oder patriarchale Herrschaftsverhältnisse (rechts unten) zu reduzieren. Und doch sind die Beiträge all dieser Erkenntniszweige notwendig, um ein ganzheitliches Bild vom Mannsein zu gewinnen.

    2  Das ist bereits ein typisches Beispiel eines Allgemeinplatzes über Männlichkeit, der sich gut und einleuchtend anhört. Er impliziert, dass diese Eigenschaft schon immer und überall für Männer gegolten habe. Genau so etwas zu hinterfragen, wird unsere Aufgabe in den nächsten Kapiteln sein.

    3  Diese Vorstellung wird leider auch von vielen Vertretern einer idealistischen, geistigen Weltsicht geteilt oder zumindest bestärkt. Sie reden oft von „anderen Welten, von „geistigen Mächten, die außerhalb der Wirkungsgesetze der materiellen Welt stehen; oder gar von Engeln, Geistwesen, Gottheiten. Das ist eine mythologische, nicht mehr zeitgemäße Auffassung vom Geistigen.

    2. Bewusstsein entwickelt sich

    Neben der Integration von Geist, Materie, Kultur und Gesellschaft ist es eine grundlegende Erkenntnis des integralen Ansatzes, dass Bewusstsein einer Evolution unterliegt, sich in der Zeit entfaltet. Bewusstsein heute ist ein anderes als Bewusstsein vor zehntausend Jahren. Das heutige Bewusstsein ist ein höher entwickeltes.

    In Zeiten, wo die Gleichwertigkeit aller Kulturen und Menschen eingefordert wird, erscheint so eine Aussage schnell als nicht „political correct. Sie erfordert deshalb eine genauere Betrachtung. Was bedeutet „höher entwickelt? Wir haben gelernt, vorsichtig zu sein mit Hierarchisierungen von Menschen; und das aus gutem Grund, die Ideen vom Übermenschen und der überlegenen Rasse und die aus ihnen folgenden Wahnsinnstaten sind noch kein Jahrhundert alt. Wenn wir also von höherer Entwicklung des Bewusstseins sprechen, müssen wir sehr genau hinschauen, um was es sich handelt.

    Man darf nicht dem Irrtum verfallen, unsere Vorfahren wären „dümmer" gewesen als wir Heutigen. Schon Steinzeitmenschen haben in ihrem rauen alltäglichen Überlebenskampf Kenntnisse und Kulturleistungen hervorgebracht, über die wir heute staunen können. Man schaue sich in einem Museum die filigrane Bearbeitung der Steinwerkzeuge an, oder male sich aus, welche Gerissenheit und Erfahrung nötig sind zur erfolgreichen Jagd auf Großwild wie Mammuts, Büffel oder Wale. Die Steinzeitmenschen waren es, die sich als anpassungsfähigste aller Tierarten über die gesamte Erde ausbreiteten, sich erfolgreich in so unterschiedlichen Lebensräumen einrichteten wie der Arktis, dem tropischen Regenwald oder der Steppe. Um geringere Intelligenz geht es nicht. Die biologische Evolution, die die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns hervorgebracht hat, spielt in Zeiträumen von Hunderttausenden von Jahren; der Steinzeitmensch (wie auch sein Gehirn) war biologisch gesehen mit uns identisch.

    Aber die Intelligenz, das Bewusstsein war anderer Art. Es war von seiner Struktur her einfacher, und hat sich seitdem hin zu höherer Komplexität entwickelt. Wir werden noch genauer sehen, was „höhere Komplexität des Bewusstseins" bedeutet. Zunächst einmal gilt es anzuerkennen, dass sich die Art des Bewusstseins systematisch gewandelt hat.

    Über die Kultur von Steinzeit-Menschen ist wenig Verlässliches bekannt; richten wir unseren Blick daher lieber auf geschichtliche Epochen, aus denen genauere Zeugnisse vorliegen. Selbst in historischen Zeiträumen kann man in verschiedensten Gebieten der Kultur feststellen, wie sich das Denken im Laufe der Zeit geändert hat. Aber da unser Blick normalerweise höchstens unsere eigene Lebensspanne umfasst, sind wir geneigt, diese Änderungen zu übersehen, und der Einfachheit halber anzunehmen, alle Menschen hätten schon immer so gedacht wie wir selber.⁴

    Zwei konkrete Beispiele mögen hier zur Illustration genügen. Sie haben unmittelbar nichts mit dem Thema Männlichkeit zu tun, aber beide zeigen nachvollziehbar auf, dass sich die Art des Bewusstseins geändert hat.

    Die Entwicklung der Perspektive in der Malerei⁵

    Die Malerei erlebte mit der Erfindung der Perspektive im Italien des 15. Jahrhunderts eine Revolution. Ohne Zweifel gibt es auch in der Geschichte davor schon viele gemalte Kunstwerke, die mit großem Geschick gestaltet sind und einen tiefen Eindruck beim Betrachter hinterlassen. Aber egal ob man sich Höhlenmalereien, ägyptische Papyri, griechische Vasenbilder, chinesische Tuschezeichnungen oder mittelalterliche Gemälde anschaut, unserem modernen Blick fällt immer wieder auf, dass in allen die korrekte räumliche Perspektive fehlt, die wir so gewohnt sind. Wenn räumliche Gegenstände abgebildet sind, erscheinen sie seltsam verzerrt.

    Konnten die Maler es nicht besser? Dem widerspricht, dass sie ansonsten sehr kunstvoll und detailreich zu arbeiten wussten. Bei genauerer Betrachtung kommen viele Kunsthistoriker zu dem Schluss, dass die früheren Künstler keine Perspektive malten, da es in ihrer Wahrnehmung keine Perspektive gab. Sie hatten keinen Begriff eines Raumes, der unabhängig von den Objekten existiert, so wie er uns heute selbstverständlich ist. So selbstverständlich, dass es uns sehr schwer fällt, uns eine Weltwahrnehmung ohne Räumlichkeit überhaupt vorzustellen. Erst die Moderne hat den leeren Raum erfunden.⁶

    Die Veränderung des Gottes-Begriffes ⁷

    Zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt machten sich die Menschen Vorstellungen vom Göttlichen. Wie wir wissen, nahmen diese Vorstellungen höchst unterschiedliche Gestalten an. Die jeweils vorherrschenden Gottesbegriffe waren aber keineswegs willkürlich, sondern sie machten auf der ganzen Welt eine ähnliche Entwicklung durch: vom Vielen zum Einen, vom Konkreten zum Abstrakten. Im Animismus ist die ganze Welt von Geistern beseelt, die in jedem Fels, in jedem Baum und in jedem Tier wirken. Die Hochkulturen der Welt entwickeln ein Pantheon von vielen menschenähnlichen, aber weit in den Himmel entrückten Göttern. Mit dem Fortschreiten der Entwicklung entstehen monotheistische Religionen, die vielen Götter werden ersetzt durch den einen Gott. Schließlich wird Spiritualität noch abstrakter, hinter dem persönlichen Gott erfährt die Mystik das unnennbare Eine.

    4  Erst in den letzten Jahrzehnten nimmt die Evolution der Gesellschaft solch eine Geschwindigkeit auf, dass schon in der Spanne eines Menschenlebens deutliche Entwicklungen wahrzunehmen sind. Denken Sie etwa an die unglaubliche Entfaltung der Computertechnik, des Internets oder des Verkehrs in den letzten paar Jahrzehnten. Deshalb wird Evolution für uns Heutige konkret und begreifbar.

    5  Genaueres hierzu findet man beispielsweise ausgeführt bei Jean Gebser.

    6  Auch in der späten Antike gab es bereits Ansätze zur Perspektive, beispielsweise in spätrömischen Mosaiken. Aber dieser frühe Ansatz von modernem Bewusstsein ging mit dem Römischen Reich unter..

    7  Ausführlich und auf wunderbar anschauliche Art dargestellt in Küstenmacher/Haberer/Küstenmacher „GOTT 9.0".

    3. Das integrale Modell

    Diese und ähnliche Beispiele sollten klar gemacht haben, um was es geht: Die Art zu denken, die Form der Weltaneignung unterliegt historischen Wandlungen. Zahllose detaillierte Untersuchungen aus der Kulturgeschichte, der Philosophie und Entwicklungspsychologie belegen dies mittlerweile. Betrachtet man diese Studien in ihrer Summe, so fällt zweierlei auf:

    Linien der Bewusstseinsentwicklung

    Zum einen gibt es nicht nur eine Art von Bewusstsein, das sich entfaltet. Man muss genauer von vielen Linien des Bewusstseins sprechen, von vielerlei Intelligenzen⁸: es gibt die kognitive Intelligenz, aber auch die emotionale Intelligenz, soziale Kompetenz, kinästhetische Intelligenz, Moral, Ich-Identität, musische Kompetenzen, … Jede dieser Erscheinungsformen von Bewusstsein entwickelt sich auf ihre eigene Art.

    Jeder Mensch verfügt damit über ein ganzes Spektrum unterschiedlich ausgeprägter Linien von Bewusstsein. Und die Entwicklung in diesen Bewusstseins-Linien kann durchaus ungleichzeitig verlaufen. Jeder hat von Menschen gehört, die intellektuell genial sind, aber emotional zurückgeblieben; vom begabten Künstler, der in Alltagsdingen lebensunpraktisch ist; oder vom hoch entwickelten spirituellen Meister, dessen moralisches Handeln zweifelhaft ist.

    Der Linie der kognitiven Entwicklung (die wir gemeinhin als „Intelligenz" bezeichnen) scheint bei der Entfaltung des Bewusstseins eine Leitrolle zuzukommen. Sie vermittelt uns die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven auf die Welt einzunehmen. Und ohne ein angemessenes Erkennen können sich die meisten anderen Entwicklungslinien schlecht entfalten.

    Die Differenzierung des Bewusstseins in viele Intelligenzen, viele Linien bedeutet für unser Thema: die Entfaltung der (männlichen) Geschlechtsidentität ist eine von vielen Entwicklungslinien des menschlichen Bewusstseins. Das Bewusstsein eines jeden Mannes ist zugleich auch immer bestimmt durch seinen Entwicklungsstand von Intelligenz, von sozialer Kompetenz, von Emotionalität, von musischer Kreativität, usw. Jeder Mann ist nicht nur Mann, sondern immer auch Mensch in vielerlei Hinsicht. Allerdings besitzt die Geschlechtsidentität eine stark prägende Kraft auf die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit.

    Stufen des Bewusstseins

    Zum anderen gibt es nicht nur eine Andersartigkeit von Bewusstsein, sondern es lassen sich deutlich Abfolgen verschiedener Stufen von Bewusstsein erkennen. Die Evolution hat eine Richtung. Verschiedene Forscher, Gelehrte und Weise beschreiben unterschiedlichste Modelle von Stufen des Bewusstseins; diese finden wir in den spirituellen Traditionen ebenso wie in der modernen Psychologie, Pädagogik oder Ethnologie. Jede Linie des Bewusstseins hat ihre eigene Struktur der Entwicklung.

    Ein sehr einfaches Modell benennt die drei Stufen egozentrisch, ethnozentrisch und weltzentrisch. Ähnlich verfährt die Stufentheorie des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg: sie unterscheidet präkonventionelles, konventionelles und postkonventionelles Denken.⁹

    Jean Gebser, ein Pionier der evolutionären Bewusstseinsforschung in der Moderne, unterscheidet fünf Stufen: archaisch, magisch, mythisch, modern und integralaperspektivisch.

    Unter Pädagogen sehr bekannt ist das entwicklungspsychologische Modell der Entfaltung der kognitiven Intelligenz nach Jean Piaget. Er unterscheidet die sensomotorische, die prä-operationale, die konkret-operationale und die formal-operationale Stufe der Kindheitsentwicklung.

    Auch die alten spirituellen Traditionen haben vielfach ähnliche Stufensysteme der Entwicklung aufgezeigt. Das yogische System der sieben Chakren beispielsweise lässt sich auch als Stufensystem der Entwicklung des Geistes auffassen.

    Die Aufzählung solcher Evolutionsmodelle aus verschiedensten Wissensgebieten ließe sich lange fortsetzen; Ken Wilber hat in „Integrale Psychologie" über einhundert davon systematisch verglichen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich Anzahl und Bezeichnung der Stufen, aber aus einer integrierenden Sichtweise zeigen sie alle eine gemeinsame Struktur auf: Entwicklung vollzieht sich in gesetzmäßig aufeinanderfolgenden Stufen, und typischerweise schreitet sie vom Einfacheren zum Komplexeren, vom Begrenzten zum Umfassenden fort. So ist es möglich, allgemeine Schemata der Evolution des Bewusstseins als Ganzes aufzustellen, die für alle Linien sinnvoll anwendbar sind. Das Wesentliche, das zu beschreibende Phänomen ist die Evolution des Bewusstseins; die verschiedenen Namen und Unterteilungen sind lediglich verschiedene Maßstäbe, mit denen das Phänomen gemessen und beschrieben wird. Es ist so, als ob verschiedene Wanderer einen Berg erklimmen, und der eine die Höhe in Metern, der andere in Fuß und der Dritte in Faden angibt – die tatsächliche Höhe ist jedes Mal die gleiche.

    Nicht zufällig wird der Evolutionsbegriff, der uns als „Evolution der Arten" aus der Biologie vertraut ist, auch für die Entfaltung des Bewusstseins gebraucht. Die Evolution des Geistigen ist ja eine Fortführung der Evolution des Körperlichen. Wo die Menschwerdung nach Jahrmillionen ein Bewusstsein im eigentlichen Sinne herausgebildet hat, verlagert sich die weitere Evolution unserer Art ins Innere und erfährt dabei eine dramatische Beschleunigung.

    Das Fortschreiten der Evolution von einer Stufe zur nächsten geschieht durch Überwinden und Einschließen, Transzendieren und Integrieren. Stößt das Bewusstsein in einer Entwicklungsstufe zunehmend an Begrenzungen, so kann es unter bestimmten Bedingungen einen Entwicklungssprung machen, das bisherige Denken mit seinen Einschränkungen hinter sich lassen und eine neue Stufe der Komplexität annehmen. Typischerweise bedeutet dies eine Erweiterung der Perspektive: das, womit man vorher identifiziert war, wird nun von einer höheren Warte aus überschaubar, in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Was vorher Subjekt war, wird nun zum Objekt des erweiterten Subjektsiii. Dabei wird das bisherige Denken transzendiert, aber es verschwindet nicht, hat nicht ausgedient, landet nicht auf dem Müllhaufen: sondern es lebt weiter als die Grundstruktur, als das Fundament, auf dem die neue Denkstruktur aufbaut.

    Philosophisch entspricht die Entfaltung der Evolution dem dialektischen Drei schritt bei Hegel: jede These führt zur Herausbildung ihrer Antithese, und der Widerspruch zwischen beiden führt in einem qualitativen Sprung zur Synthese, in der das Alte aufgehoben ist im doppelten Sinne: überwunden und aufgenommen, transzendiert und integriert.¹⁰

    Versteht man Evolution richtig in diesem Sinne, so kann man sich vor dem Irrtum der Überheblichkeit schützen, dem arroganten Irrglauben, man hätte in der Weiterentwicklung die früheren Stufen hinter sich gelassen. Nein, sie sind alle noch da, sie bilden das feste und notwendige Fundament, auf dem die komplexere Bewusstseinsform ruht. Nur ist etwas hinzugekommen, aber nicht einfach ein Mehr, sondern ein Höher, der Umschlag von Quantität in Qualität.

    Ein paar Beispiele hierzu: Dem abstrakten Operieren mit Zahlen geht das konkrete Wahrnehmen von Gegenständen und ihrer Identität und Unterschiedlichkeit voraus; das Wahrnehmen bleibt aber beim Zählen bestehen. Jeder abstrakten Malerei, die diesen Namen zu Recht trägt, geht die Fähigkeit zum gegenständlichen Malen voraus; nur so kann von etwas abstrahiert werden. Das macht den Unterschied zwischen einem Kinderbild und einem Picasso aus.

    Noch in einer weiteren Hinsicht ist die Evolution des Bewusstseins der biologischen Evolution vergleichbar. Der allmählichen Entwicklung der Arten, der Herausbildung und Veränderung des Genotyps, geht parallel die Entfaltung eines jeden individuellen Lebewesens, die Herausbildung des Phänotyps von der befruchteten Eizelle bis zum erwachsenen Individuum. In seiner Embryonalentwicklung durchläuft jeder Mensch Entwicklungsschritte, die an seine stammesgeschichtliche Evolution erinnern. So entwickelt der Embryo im Laufe seiner Entwicklung Kiemenbogen und einen deutlich ausgeprägten Schwanz am Ende des Rückgrats, genauso wie alle Wirbeltiere; und ab dem 4. Monat trägt er zeitweise eine Behaarung (Lanugo) am ganzen Körper, so wie fast alle anderen Säugetiere.

    Vergleichbares gibt es bei

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