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KerleKulte: Inszenierung von Männlichkeit
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KerleKulte: Inszenierung von Männlichkeit
eBook834 Seiten9 Stunden

KerleKulte: Inszenierung von Männlichkeit

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Über dieses E-Book

"Steh deinen Mann!" - "Benimm dich mal wie ein richtiger Junge!" - "Sei ein Kerl!"
- Immer wieder sieht sich das angeblich starke Geschlecht gezwungen, die eigene Geschlechtsidentität nachweisen zu müssen.

Nur: Worin besteht Maskulinität eigentlich? Und: Wie stellt man(n) sie auf Dauer sicher? Wodurch bleibt der Kerl ein Kerl? Was muss er dafür tun, Männlichkeit bzw. Mannhaftig- keit zugesprochen zu bekommen?

Studierende der Sozialen Arbeit an der Hoch- schule Esslingen wollten es genau wissen. Über ein 3D4 Jahr hinweg schwärmten sie aus, um die Kulte der Kerle zu entdecken:

im Fitnessstudio, in der Kaserne, im Kloster, im Knast und anderswo.

Ergebnis ihrer Recherche ist dieses Buch voller O-Töne aus dem wahren Jungen- und Männerleben - mit einer Einführung ins Thema von Prof. Dr. Kurt Möller.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum3. Apr. 2012
ISBN9783943612370
KerleKulte: Inszenierung von Männlichkeit

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    Buchvorschau

    KerleKulte - Hirnkost

    Originalausgabe

    © 2012 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage Januar 2012

    Projektgruppe Mannopoly:

    Thomas Fixemer, Isabel Gasafi, Franziska Geib, Kristina Glasmann, Nancy Grosshans, Andrea Günther,

    Ina Jännsch, Eva Kolb, Sandra Kutschke, Kurt Möller, Bettina Pfister, Stefanie Schösser, Ann-Katrin Schröder,

    Nils Schuhmacher, Barbara Schweitzer und Tamara Werner.

    Herausgeber:

    Archiv der Jugendkulturen e. V.

    Fidicinstraße 3, D – 10965 Berlin

    Tel.: 030 / 694 29 34; Fax: 030 / 691 30 16

    E-Mail: archiv@jugendkulturen.de

    Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

    Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)

    Privatkunden, Mailorder und E-Book: www.jugendkulturen.de

    Lektorat: Klaus Farin

    Umschlaggestaltung und Layout: Conny Agel

    unter Verwendung eines Fotos von Barbara Schweitzer

    Druck: werbeproduktion bucher

    ISBN (Buch): 978-3-940213-70-9

    ISBN (E-Book): 978-3-943612-37-0

    Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

    Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

    Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

    Inhalt

    Wann IST der Mann …

    Wie bleibt der Kerl ein Kerl?

    AUFM KIEZ

    „Wir sind halt einfach Jungs von der Straße."

    „Dass ein Mann für seine Familie sorgt, ist das Wichtigste."

    „Ehre ist, wenn man nach den Regeln spielt."

    „What the fuck is Männlichkeit?!"

    SÜDBAHNHOF

    „Berührungsängste haben wir kaum noch welche."

    Junggesellenabschied – Erinnerungen eines Überlebenden

    CORPORALIENMARKT

    „Ich könnte mir ein Leben ohne Muskeln nicht vorstellen."

    „Früher hat man gesagt: ‚… ein Wohlstandsbauch‘, heute sagt man: ‚So ’n Aso!‘"

    „Wir machen Sachen, die 99 Prozent der Menschheit nicht machen."

    „Als Model werde ich gesellschaftlich höher angesehen als wenn ich sag: ‚Ich arbeite beim Edeka als Regaleinräumer.‘"

    GEFÄNGNIS

    „Die Schwächsten sind die, die sich nicht durchsetzen können."

    „Entweder werd ich kaputtgehauen oder er wird kaputtgehauen."

    „Wenn man abends in seiner Zelle ist, dann weint man viel heimlich …"

    ST. MANNFRIED

    „Auch als Mönch kann ich mein Mannsein leben."

    „Jesus ist ein Mann Gottes, und ein Mann Gottes ist auch ein echter Kerl!"

    „Ein echter Kerl ist für mich kein Waschlappen. Der kann zupacken, der kann einen Nagel in eine Wand reinschlagen."

    „Es gibt Verbindungsstudenten, die sind stereotyp und die vollen Spasten. Es gibt aber auch andere, die voll normal sind."

    KASERNE AM WESTBAHNHOF

    „Beim Militär wird man ein Stück zum Mann."

    „Irgendwas unterscheidet Soldaten von anderen Männern."

    „Wenn man 24 Stunden Kerle um sich hat, verhält man sich schon anders."

    VERGNÜGUNGS- UND KULTURVIERTEL

    „Wirklich mal Gefühle zeigen können, aber auch mal ein bisschen Macho sein."

    „Komm, hol das Lasso raus!" – Auf dem Cannstatter Wasen

    „Ich möchte auf den großen Bühnen der Welt tanzen."

    „Du könntest sogar in einem rosa Röckchen neben der Tür stehen, das würde dir keiner krummnehmen."

    FREI BIKEN / FREI ROCKEN

    „Du allein und die Maschine"

    „Die femininen Männer sind nicht so unser Ideal."

    „Frauen machen sich immer Gedanken. Männer sind kompromissloser. Die machen einfach, und wenn’s daneben geht, war’s halt Pech!"

    „HipHop ist ein sehr krasses Posergeschäft."

    „Sie ziehen sich die Kleider aus und springen nackig auf mich drauf."

    ARTHEMIS-VIERTEL

    „Alleine, dass man Mann ist, ist schon eine nützliche Eigenschaft."

    „Jeder Mann ist auf seine Art und Weise männlich."

    „Mauern ist halt Männersache. Aber Pflege und alles, was mit Pflanzen zu tun hat …"

    „In Anwesenheit von Frauen ist man irgendwie anders Mann."

    SPORTGELÄNDE AM NORDBAHNHOF

    „Durchsetzungsvermögen sollte das höchste Ziel sein."

    „Ein gut gebauter Körper ist schon ein Männlichkeitsfaktor."

    „Wasserball ist manchmal wirklich wie Feindberührung. Wie wenn man ’ne Schlacht schlägt."

    „Frauen hängen einem an den Lippen und schmeißen sich ran."

    „Frauen stehen auf Gentlemen."

    „Wir sind keine asozialen Deppen."

    SILICON HILL

    „Hier ist es nicht so anonym. Man kann die Leute anschauen, mit denen man spielt …"

    „Die Weiber wissen doch, dass Jungs Pornos schauen. Das gehört halt mit dazu."

    „Welchen Kerl reizt keine gut aussehende, nackte Frau?"

    „Porno gehört einfach zur Männlichkeit."

    GEHE IN DAS GEFÄNGNIS …

    „Moshpit – das ist so ähnlich wie Pogen, bloß viel härter."

    „Deutsche Männer sind verklemmt, eigennützig, geizig und egoistisch."

    „Kinder, Arbeit, Haus. Das ist mein Traum."

    VOR DEM STADTTOR

    „Wenn man nur den Gedanken hat: ‚Ich geh jetzt raus und erschieße Tiere‘, dann ist man fehl am Platz!"

    „Der Mann ist eher draußen bei den Maschinen und Viechern."

    „Die Hasen verdienen sich ihr Essen selber."

    „Ich wäre mir total blöd vorgekommen, wenn ich so einen Baum von ihr als Frau bekommen hätte."

    POLIZEI- UND FEUERWACHE AM HAUPTBAHNHOF

    „Wenn man in einer Gruppe den Ton angeben will, muss man ein Alphatier sein."

    „Es kommt nicht immer darauf an, dass ich den ‚harten Max‘ raushängen lass …"

    „Ich will mir irgendwann das Hochzeitsportrait meiner Großeltern auf den Rücken stechen lassen …"

    CHRISTOPHER STREET VILLAGE

    „‚Ach übrigens, ich bin schwul.‘ –‚Ach, du auch. Schön. Dann können wir ja ’ne Gruppe aufmachen.‘"

    „Viele Leute sehen homosexuelle Männer nicht als Männer …"

    „Ich glaube nicht, dass ich schwul sein könnte, nur weil mein Vater schwul ist."

    „Als ich noch in der Rolle als Frau leben musste, hatte ich immer das Gefühl, dass ich nicht ich selbst bin."

    Wann IST der Mann …

    … ein Mann? – Keine Bange, liebe Leser und Leserinnen! Wir werden uns hüten, die altbekannte und längst abgenudelte Grönemeyer-Frage in diesem Buch zum x-tausendsten Mal zu wälzen. An Floskeln, die in die Jahre gekommen sind, wollen wir uns nicht abarbeiten. Uns interessiert etwas anderes, nämlich: Wie BLEIBT der Mann ein Mann?

    „Blöde Frage, werden manche von Ihnen denken: Wenn einer von Geburt an männlich ist, dann bleibt er es doch auch ein Leben lang – vorausgesetzt, er lässt sich nicht „umoperieren. Er sieht doch mit 60 zwischen den Beinen ungefähr noch so aus wie mit 6 und mit 16. Und auch sein Vorname ändert sich nicht – selbst wenn aus dem Tobi im Laufe der Zeit ein Tobias wird. Also: Was soll’s?

    Ja, genau: Was soll’s? Unsere Frage soll natürlich auf was anderes zielen. Nicht so sehr auf die primären Geschlechtsmerkmale des homo sapiens maskulinus, sondern darauf, wie männliche Menschen es schaffen, als männliche Menschen anerkannt zu werden. „Ach so!, sagen die Kritiker unserer „blöden Fragestellung von oben – und gucken dennoch etwas sparsam aus der Wäsche.

    Nix kapiert? Na gut, dann versuchen wir mal, uns verständlicher zu machen. Also: Männlichkeit ist bekanntlich etwas, was einem in erster Linie aufgrund der biologischen Ausstattung des Körpers zugeschrieben wird – oder eben nicht, wenn definitionsgemäße Körpermerkmale fehlen. Wird einem aber Maskulinität zugeschrieben, steht also etwa in der Rubrik „Geschlecht im Kinderausweis oder später dann im Perso „männlich, dann hat dies ja nicht automatisch zur Folge, dass einem in jeder Lebensphase und in jeder Situation auch garantiert wird, als männlich „rüberzukommen. Anders ausgedrückt: Männlichkeit besitzt man als Kerl in den Augen der anderen nicht ein für allemal. „Heulsuse!, „Du Baby!, „Schwule Sau!, „Memme!" – jeder Junge und jeder Mann kennt Situationen, in denen einem in solcher oder ähnlicher Weise das Männlichsein abgesprochen wird. Will man Männlichkeit gleichwohl für sich reklamieren – und welcher kleine oder große Bursche will das nicht? –, muss sie immer wieder unter Beweis gestellt werden. Im Soziologenchinesisch: Männlichkeit muss (re)produziert, also immer neu hergestellt und wiederhergestellt werden.

    Dies ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Und wie immer, wenn man glaubt, etwas einigermaßen sicher festgestellt zu haben, eröffnen sich wie Werbebanner im Internet – klack, klack, klack – schon wieder neue Fragen. Zu ihnen gehören die folgenden drei:

    1. „Muss" Maskulinität tatsächlich (re)produziert werden? Oder anders gefragt: Wer oder was zwingt einen eigentlich dazu?

    2. Das, was da (wieder)hergestellt wird, ist das wirklich „Männlichkeit"? Oder handelt es sich nicht eher um den Anschein von Männlichkeit, um das Bild, das man(n) nach außen glaubt, abgeben zu sollen? Geht es in diesem Sinne vielleicht eher um Mannhaftigkeit? Oder gar um verschiedene Formen von Mannhaftigkeit, also um Mannhaftigkeiten?

    3. Wie wird dann aber im Einzelfall die wie auch immer im Einzelnen beschaffene oder ersehnte Mannhaftigkeit kontinuierlich zu sichern gesucht? An welchen Orten und in welchen sozialen Kontexten passiert das Ganze? Welche Rollen spielen dabei Inszenierungen der eigenen Person und von bestimmten Situationen? Welche Bedeutung erhalten in diesem Zusammenhang die zum Einsatz kommenden Symboliken, also etwa Sprechweisen, bevorzugte Musikstile und -stücke, Körperdesigns, Sexualitätsverständnisse, Ess- und Trinkgewohnheiten, Sportvorlieben, Verhaltensstile etc.?

    Das sind die Fragen, die uns bewegen.

    Und sie bewegen uns im wörtlichen Sinne. Sie veranlassen uns nämlich dazu, auszuschwärmen und jene Szenen und Orte aufzusuchen, wo Kerle dafür sorgen, dass sie Kerle bleiben: Muckibuden, Sportarenen, Musikszenen, Knast, Kaserne, Kirche, Straße u. a. m. Wir sind aber auch da, wo konventionelle Männlichkeit bewusst reflektiert wird und sich infrage stellt, etwa bei Linksautonomen, Männern in Frauenberufen oder in der schwulen Coming-out-Gruppe.

    Mannopoly – so nennen wir das „ernste Spiel, das wir dabei treiben: Wir begeben uns in die „Stadt der (jungen) Männer, treiben diverse Typen in verschiedenen Vierteln auf, treffen sie dort auf unterschiedlichen Wegen, Straßen und Plätzen an und kommen ins Gespräch mit ihnen. Sie erzählen von ihrem Leben, von ihren Interessen, Vorstellungen, Wünschen und Sehnsüchten. Wie viel davon die Realität wiedergibt, wie oft auch mal geflunkert wird – wer weiß das schon so genau? So oder so – was geschildert wird, sind die Dinge, die sie berühren und bewegen, wenn es um die eigene Mannhaftigkeit geht. Ein großer Dank geht deshalb an unsere Gesprächspartner für die Bereitschaft und die Offenherzigkeit, mit der sie sich geäußert haben. Hätte dieses Buch eine Widmung, sie bekämen sie.

    Lust bekommen, unseren Unterhaltungen mit den Herren der Schöpfung ein wenig zu lauschen? Ja? Dann mal etwas weiterblättern! Auf den nächsten Seiten wird die Neugier gestillt – wieder neu entfacht – gestillt – neu entfacht …

    Esslingen, im November 2011

    Projektgruppe Mannopoly

    KURT MÖLLER

    Wie bleibt der Kerl ein Kerl?

    ZUR REPRODUKTION VON MANNHAFTIGKEIT

    Vieles liegt im Dunkeln in Bezug auf Geschlechterfragen, aber eines ist gewiss: Wir leben in einem „System der Zweigeschlechtlichkeit" (Hagemann-White 1984). Das heißt wir gehen im Allgemeinen davon aus, dass es zwei Geschlechter gibt: das weibliche und das männliche.

    So selbstverständlich den meisten von uns diese bipolare Anlage der Geschlechterordnung auch erscheint, sie ist alles andere als unhinterfragbar. Ab und an deuten dies schon unsere Alltagseindrücke an: Da gibt es in unseren Augen „männliche Frauen und irgendwie „weiblich wirkende Männer. Da sprechen wir gelegentlich von „Mannweibern und „weibischen Jungs. Da wissen wir von der Existenz von sog. „Zwittern oder „Hermaphroditen, also um Intersexualität. Da haben wir mitbekommen, dass der eine oder die andere das Geschlecht gewechselt hat, also transsexuell oder transidentitär ist, weil er oder sie sich von der Natur mit einem „falschen Körper ausgestattet fühlt (vgl. dazu das Interview mit Dominik und den dort befindlichen Informationskasten in diesem Band). Da sehen wir TV-Berichte über ein „Drittes Geschlecht, das beispielsweise in Indien existieren soll. Da hören wir von Frauen, die „eigentlich" Männer sein sollen – wie die südafrikanische Läuferin Caster Semenya, die bei der Leichtathletik-WM in Berlin 2009 Gold gewann, danach gesperrt wurde und ab Sommer 2010 dann doch nach etlichen medizinischen Tests die uneingeschränkte Erlaubnis bekam, als Frau bei Wettkämpfen anzutreten. Da erfahren wir von Männern, die als Frauen leben – wie z. B. der (oder die?) vielleicht weltbekannteste MännerforscherIn unserer Zeit: Robert W., inzwischen Raewyn Connell, auf den/die wir noch zurückkommen werden. Wir kriegen so etwas mit – und der Otto-Normal-Verbraucher und/oder das Lieschen Müller in uns sind verunsichert: Wie? Was denn jetzt? Mann oder Frau? Welches Geschlecht? Ziemlich offensichtlich ist die Chose komplizierter als wir denken.

    GESCHLECHT – EIN UNWORT?

    Schauen wir einmal in die Entwicklungsgeschichte der gängigen Verständnisse von Geschlecht und Geschlechtlichkeit, wird die Angelegenheit nicht simpler. Es zeigt sich nämlich, dass die deutliche Trennung von zwei Gruppierungen innerhalb der Menschheit durch die Scheidelinie zwischen „männlich und „weiblich nicht immer so existiert hat, wie wir sie gegenwärtig kennen. Vielmehr offenbart sich, dass die Kategorie „Geschlecht ihre wesentliche Ordnungsfunktion für unser Denken und für die Organisation unserer sozialen Beziehungen erst mit dem Bedeutungszuwachs des Bürgertums im Laufe des 17. und vor allem 18. Jahrhunderts erhalten hat (vgl. Horlacher 2010). Vorher wurde zwar durchaus schon gedanklich und praktisch nach Geschlecht sortiert, aber vorherrschend war doch eher ein „Ein-Geschlecht-Modell. Hinter ihm stand die Annahme, dass Männer und Frauen im Grunde körperlich gleich oder doch zumindest sehr ähnlich, Frauen aber gleichsam unvollständige Männer seien, bei denen etwa der Penis als Vagina in den Körper gestülpt sei. Dementsprechend galten Männer als die perfekteren Menschen – ein Umstand, der ja auch biblisch zu belegen gesucht wurde: „Denn der Mann ist des Weibes Haupt […]– so heißt es im Brief an die Epheser (5, 23-4). „Und der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes Willen, sondern das Weib um des Mannes willen (Korinther 11, 7-10). Schließlich ist nach der christlichen Schöpfungsgeschichte ja auch das erste weibliche menschliche Wesen dieser Welt, Eva, aus der Rippe Adams geformt worden. Denn: „Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei" (Genesis 2, 18). Die sich darin ausdrückende Geringschätzung und Nachordnung des Weiblichen gegenüber dem Männlichen ist durchaus etwas, was sich im Laufe der Jahrhunderte in den Bildern vom Geschlechterverhältnis erhalten hat. Sie wurde aber bis hinein in die Neuzeit im Kern nicht von der prinzipiellen Unterschiedlichkeit der biologischen Ausstattung abgeleitet. Erst als mit der bürgerlichen Gesellschaft eine Aufteilung der Lebenssphäre in die Teilbereiche der Privatheit und der Öffentlichkeit entstand, setzte sich die Vorstellung von gegensätzlichen Wesenseigenschaften und damit verbundenen Aufgabengebieten der Geschlechter gesellschaftlich breit durch. Während als quasi-natürliche Zuordnung dem weiblichen Geschlecht die Zuständigkeit für das Private und die dort zu betreibende Pflege des Sozio-Emotionalen zugeordnet würde, galt es als quasinatürliche Bestimmung des Mannes, hinaus ins feindliche Leben aufzubrechen.

    Die Frau, ein unvollständiger Mann?

    So betrachtet ist das, was wir als „männlich und als „weiblich bezeichnen, viel weniger etwas, was mit den Differenzen des Organismus zu tun hat, als etwas, was auf sozialen Definitionsprozessen und Übereinkünften aufruht. Anders formuliert: Wir haben nicht unbedingt eine bestimmte Geschlechtlichkeit, wir konstruieren sie. Sicher: Bestimmte biologische Merkmale legen uns nahe, den einen Typus von Menschen als „weiblich, den anderen als „männlich wahrzunehmen und entsprechend zu benennen. Doch was sind diese bestimmten biologischen Kennzeichen? Nehmen wir die Differenzierung nach dem Kriterium des Besitzes von inneren und äußeren Geschlechtsorganen vor? Richten wir uns nach der jeweiligen Ausbildung von Gonaden, also von Geschlechtsdrüsen wie Hoden und Eierstöcke? Sehen wir die Chromosomenpaare, also XX für weiblich und XY für männlich, als ausschlaggebend? Oder orientieren wir uns bei unserer Einteilung in die beiden Hälften der Menschheit an der Gewichtung von Hormonen, also an Androgenen einerseits und Estrogenen bzw. Gestagenen andererseits? Diese Fragen stellen sich spätestens dann, wenn die Geschlechtszuordnungen entlang dieser Kriterien nicht zusammenfallen. Dies ist bei manchen Menschen der Fall.

    Aber eigentlich müssen noch viel grundsätzlichere Fragen an unsere dualistische Sortierungspraxis gestellt werden. Dazu gehören Fragen wie: Warum sind für uns diese biologischen Unterschiede überhaupt so bedeutsam, dass wir an ihnen entlang ganz grundsätzlich Gruppierungen von Menschen bestimmen? Wieso ist eigentlich „Geschlecht" als Kriterium der Herstellung einer sozialen Ordnung so relevant? Warum unterscheiden wir nicht ähnlich basal und folgenreich Menschen mit z. B. kurzen und langen Armen, breiten oder schmalen Nasen oder großen und kleinen Schädeldurchmessern?

    Und was spricht eigentlich dagegen, ganz andere Kriterien zur Definition von „Geschlecht" – wenn wir denn an einer solchen Kategorie überhaupt festhalten wollen – zu bemühen? Ist das psychische Geschlecht, also das Selbstverständnis, männlich oder weiblich zu sein (oder u. U. auch irgendetwas dazwischen), nicht auch ernst zu nehmen – wie etwa bei Dominik in diesem Band?

    Na gut, so könnte man einwenden, die organischen Geschlechtsunterschiede sind nun einmal auffälliger und vielleicht für die Menschen auch bedeutsamer als die Länge von Gliedmaßen, die Form von Nasen, die Größe von Köpfen oder auch das von der einzelnen Person „nach innen" gefühlte Geschlecht. Dies etwa deshalb, weil über ihren Gebrauch das Zeugen bzw. Gebären von (eigenen) Kindern, ja letztlich der Erhalt des Lebens der gesamten Gattung verläuft. Das jeweils andere Geschlecht erscheint vielleicht auch aus diesem Grunde (den meisten) besonders attraktiv, so dass die Differenzierung zwischen deren Angehörigen und den eigenen Geschlechtsgenoss_innen sinnhaft erscheint. Nur: Wenn aus dieser Bedeutung heraus fundamentale Unterschiede zwischen Menschen gerade über biologische Geschlechtszuordnungen vorgenommen werden, die menschliche Spezies also dualistisch in einen männlichen und einen weiblichen Part eingeteilt wird, dann fragt sich doch, ob wir nicht besser Geschlechtsidentität entlang der sexuellen Orientierung festmachen sollten.

    In diesem Fall hätten wir allein auf der Seite des Geschlechterverhältnisses, die wir üblicherweise als „männlich" bezeichnen, das Geschlecht derjenigen, die mit Frauen schlafen, derjenigen, die mit Männern schlafen, derjenigen, die sowohl mit Männern als auch Frauen schlafen, derjenigen, die asexuell sind, derjenigen, die sich ihrer sexuellen Orientierung und vielleicht auch ihrer diesbezüglichen Identität nicht sicher sind, derjenigen, die Sex mit sich selber haben, usw. Und wir hätten solche, bei denen diese Begierden nicht unbedingt biographisch und alltagspraktisch durchgängig sind: Solche etwa, die in einer bestimmten Lebensphase oder bei bestimmten Gelegenheiten dieses oder jenes sexuelle Begehren in sich spüren, solche, die diesem Begehren Taten folgen lassen, und solche, die darauf freiwillig oder gezwungenermaßen verzichten, solche, die ein bestimmtes sexuelles Begehren (etwa ein homosexuelles) umsetzen, sich selbst aber als eigentlich anders sexuell orientiert (also etwa heterosexuell) einstufen. Es ergäbe sich also ein ganz breites Spektrum der Geschlechterordnung.

    Was nun soll also unserer Definitionsgrundlage sein? Alle vier Kriterien zusammen, also biologische, soziale, psychische und die sexuelle Orientierung betreffende? Oder doch lieber ein, zwei oder drei von den genannten vier? Wobei wir mal, um schneller zu einem Ergebnis zu kommen, großzügig auf die Frage verzichten könnten, welche der biologischen Zuordnungsaspekte letztlich „ziehen und wie im Falle der Bevorzugung von sexueller Orientierung als definitorischem Prüfstein die dann entstehenden einzelnen „Geschlechter voneinander abzugrenzen sind und ob dies überhaupt nötig ist.

    Sehen wir solche Ordnungs- und Benennungsprobleme, dann wird deutlich: Geschlecht ist mindestens genauso sehr gender wie sex. Will sagen: Das, was wir als ein bestimmtes „Geschlecht" bezeichnen, ist nicht zwangsweise biologisch festgelegt (sex), sondern wird sozial hergestellt und auf dieser Grundlage psychisch erlebt (gender). Die neuere sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung bezeichnet den Prozess dieser Herstellung als doing gender. Das heißt, das (soziale) Geschlecht wird erst durch eine bestimmte Praxis, also durch ein bestimmtes Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Strukturieren, Bewerten, Tätigsein und Anerkanntwerden produziert. Wenn dies richtig ist, bedeutet es aber auch, dass Männlichkeit erst im Prozess eines doing masculinity hergestellt wird.

    Männlichkeit besteht vor diesem Hintergrund nicht aus einer bestimmten Substanz, einer Essenz oder einem „Wesen", das einem nun einmal zukommt oder nicht. Alles eine Frage der Gene? Schwanz – ja oder nein? Hauptsache testosterongesteuert? Von wegen! Männlichkeit hat keinen Bestand, wenn wir sie nicht herstellen.

    MASKULINITÄT – EIN PRODUKT

    Die Frage, was „männlich ist, lässt sich also nur dann Antworten zuführen, wenn man herauszufinden versucht, wie das „Männliche zustande kommt, genauer: wie die Menschen es produzieren – durch ihre Deutungen, durch ihr Handeln, letztlich durch sämtliche Praxen ihres ganzen Lebens.

    In der Alltagssprache zeigt sich die dunkle Ahnung, die wir davon haben. Wir sprechen z. B. davon, dass diese oder jene – meist dann flegelhaften – Jungs mal wieder „ihre Männlichkeit beweisen müssen, dass sie darüber streiten, wer von ihnen ein „echter Kerl ist, dass die kleinen „Sandkastenrocker schon ab und zu den „Macker raushängen lassen, dass irgendwelche Knaben sich „als Machos aufspielen, dass ein Mann zeigen will, dass er ein „richtiger Mann ist, und/oder zu demonstrieren hat, dass er „sein eigener Herr" ist. In Ausdrucksweisen wie diesen wird deutlich, wovon wir schon in unserem Alltagsverständnis im Kern ausgehen: Männlichkeit kommt einem nicht einfach zu, Männlichkeit muss belegt und kontinuierlich reproduziert werden.

    Jeder Junge, jeder Mann weiß davon ein Lied zu singen, die jüngere sozialwissenschaftliche Männerforschung weiß auch warum. Oder sagen wir: Sie hat wenigstens interessante Thesen dazu.

    Die substanzvollsten, ertragreichsten und zurzeit konsensfähigsten kommen von jenem oben bereits erwähnten australischen Männerforscher, der mittlerweile unter einem weiblichen Vornamen publiziert: Robert W., heute: Raewyn Connell (vgl. v. a. 1999). Er/sie stellt nicht nur fest, dass Männlichkeit sozial konstruiert wird, also dementsprechend dann auch in verschiedenen historischen Zeiträumen sowie in unterschiedlichen Sozialräumen und Kulturen jeweils andere Inhalte bekommen und Formen annehmen kann. Der Ansatz erkennt auch, dass das doing masculinity, wie wir es bei uns, d. h. hier vor allem in den westlich geprägten, kapitalistischen Gesellschaften, praktizieren, hierarchische Verhältnisse aufbaut. Dies gleich in zweierlei Richtungen: Zum einen ist es für das Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht verantwortlich, also für das, was gemeinhin „patriarchale Verhältnisse" genannt wird. Zum anderen sorgt es für Binnendifferenzierungen innerhalb des männlichen Geschlechts. Letztere führen dazu, dass sich Männlichkeit als Phänomen erweist, das in seinen Ausdrucksformen nur im Plural denkbar ist. Nach Connell gibt es eine Vielzahl von Männlichkeiten. Im Einzelnen sind danach zu unterscheiden:

    1. HEGEMONIALE MÄNNLICHKEIT:

    Sie ist vornehmlich durch drei Faktoren gekennzeichnet:

    - Heterosexualität,

    - die Zuschreibung von Rationalität und

    - die Einnahme von Entscheidungsmacht in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen (Politik, Unternehmen, höhere Verwaltung, Finanzwesen u. ä. m.).

    Hegemoniale Maskulinität bildet das zentrale kulturelle Leitbild in (eben deshalb auch so bezeichneten) männlich hegemonialisierten Gesellschaften. An ihm richtet man(n) sich aus. An ihm wird man(n) gemessen.

    2. KOMPLIZENHAFTE MÄNNLICHKEIT:

    Diese Art von Männlichkeit findet sich bei Männern, die sozusagen nicht an der Front der Auseinandersetzungen um geschlechterhierarchische Positionen kämpfen, dennoch aber eine „patriarchale Dividende einstreichen können. Sie sind nämlich Parteigänger, eben „Komplizen, derjenigen, die gleichsam mehr oder minder im Vollbild hegemoniale Männlichkeit repräsentieren und deren Vorherrschaft sichern – gegenüber Frauen wie gegenüber anderen Männlichkeiten.

    3. UNTERGEORDNETE MÄNNLICHKEIT:

    In diese Rubrik fallen Angehörige des männlichen Geschlechts, die keine oder kaum Chancen haben, die beiden anderen Männlichkeitsformen zu praktizieren. Dazu zählen z. B. männliche Kinder und Jugendliche oder auch Homosexuelle, die wegen der ihr zugeschriebenen symbolischen Nähe zum Weiblichen aus dem Kreis der Legitimierten ausgestoßen und teilweise auch direkt an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden.

    4. MARGINALISIERTE MÄNNLICHKEIT:

    Damit ist eine Männlichkeit gemeint, die sich am Rande oder auf der untersten Stufe der geschlechtshierarchischen Gesellschaft befindet: Wohnsitzlose (vgl. die Interviews von Murat, John u. a. in diesem Band), Erwerbslose, ökonomisch hoffnungslos Abgehängte, Asylsuchende, Männer mit einer diskriminierten Hautfarbe oder Herkunft (vgl. das Interview mit Juan in diesem Band), Inhaftierte etc.

    5. PROTESTIERENDE MÄNNLICHKEIT:

    Sie stellt eine Unterkategorie von marginalisierter Männlichkeit dar. Der Begriff gruppiert – zumeist junge – Männer, die gegen ihre Marginalisierung aufbegehren, dabei aber keine sozial legitimierten Mittel einsetzen. Hier finden sich diejenigen, die männliche Hegemonie auf eine nicht (mehr) zeitgemäße Weise interpretieren, phantasieren und/oder anstreben (vgl. das Interview mit Lobo und Billy the Kid, John sowie Gefängnisinsassen in diesem Band).

    Der Anachronismus des zuletzt genannten Typus ergibt sich daraus, dass das Muster der hegemonialen Maskulinität im Laufe der Jahrhunderte einen Wandel durchgemacht hat. Das alte Muster der „interpersonalen Dominanz wurde abgelöst durch eine Durchsetzungsweise von Herrschaft, die sich auf Wissen, Expertenschaft, Verhandlungsgeschick und Einnahme von Positionen institutioneller und politisch-ökonomischer Macht stützt. Salopp formuliert: Nicht mehr die Fähigkeit zum meist körperlich ausgetragenen, „fairen Kampf „Mann gegen Mann garantiert gesellschaftlichen Erfolg, sondern die Leistung und Durchsetzungskraft, die auf den genannten modernisierten Mitteln des Ausweises von hegemonialer Maskulinität beruht. Körperkraft, physische Geschicklichkeit, Gewaltfähigkeit, Schnelligkeit u. ä. Dinge bleiben allenfalls noch als symbolische Werte von Maskulinität bestehen und fristen ein Leben in speziellen Sphären, vor allem in denen von Sport (vgl. etwa die Interviews mit Sven Stehlig, den „Tough Guys und die auf dem Sportgelände am Nordbahnhof gesammelten Männergespräche in diesem Band) und Medien (vgl. z. B. die Interviews zum Pornokonsum männlicher Jugendlicher, aber auch die mit Incendium oder Fathead). Hier allerdings entfalten sie auch eine nicht zu unterschätzende symbolische Macht, die nicht allein die „Muskelspiele, Positions„kämpfe und Pöstchen„gerangel der wirklich Mächtigen umflort, sondern diesen auch ein Äußeres abverlangt, das Sportlichkeit, Fitness, Belastbarkeit, Durchsetzungswillen, Dynamik und Erfolgsverwöhntheit ausstrahlt. Nicht selten wird in den höheren Etagen der Gesellschaft eine solche Aura mit Hilfe eines „personal trainers antrainiert.

    Im Übrigen führt die historisch bedingte Ablösung von Durchsetzungsfähigkeit über maskuline Physis auch dazu, dass hegemoniale Männlichkeit auch von Frauen (re)präsentiert werden kann – jedenfalls so lange sie sich an die Regularien der Männergesellschaft halten. Wie hieß es z. B. von Maggie Thatcher, der früheren Premierministerin von Großbritannien gelegentlich? Sie trägt zwar eine Handtasche, ist aber der einzige Mann in der Regierung. Nicht nur im Kabarett ist Ähnliches manchmal auch über Angela Merkel zu hören.

    Wenn also auch Frauen – je nach sozialer Position – Trägerinnen des Systems maskuliner Hegemonie sein können, wenn Kinder und Jugendliche zunächst einmal untergeordnete Männlichkeit repräsentieren, dann aber in andere Männlichkeitsformen, etwa auch die der hegemonialen Männlichkeit, hineinwachsen können, und wenn selbst Marginalisierte in gewisser Weise männliche Herrschaft ausüben können, dann wird klar: Die benannten fünf Männlichkeitstypen sind keine Schubladen, in die man Jungen und Männer ein für allemal hineinstecken kann. Es handelt sich vielmehr um Ausdrucksformen von Männlichkeit, die bei einzelnen Personen auch u. U. parallel, nur teilweise oder ineinander übergehend auftreten können.

    Versucht man das Leitmuster der hegemonialen Männlichkeit noch näher inhaltlich zu bestimmen, dann lassen sich die Ergebnisse der kulturanthropologischen Studien Gilmores (1991) anführen. Seine Vergleichsstudien, die zahlreiche ganz unterschiedliche Gesellschaftsformationen einbeziehen – von der westlichen Industriegesellschaft bis hin zu so genannten „Naturvölkern" –, erbringen den Befund: Kulturübergreifend werden in männlich beherrschten Gesellschaften Angehörigen des männlichen Geschlechts im Wesentlichen drei Funktionen zugewiesen – und zwar von Männern und Frauen:

    - Erzeugen,

    - Beschützen und

    - Versorgen (besser: Besorgen).

    Dies meint: Männer sind für das Zeugen des Nachwuchses zuständig. Sie übernehmen den Schutz der eigenen sozialen Einheit (z. B. der Familie und Sippe oder des Clans und der Nation) nach außen. Und sie haben die Mittel des Unterhalts für sich selbst, aber auch für ihre eigene soziale Einheit – bei uns i. d. R. die Familie – heranzuschaffen. Entsprechend wichtig sind ihnen, durchaus aber auch zumeist den mit ihnen partnerschaftlich oder verwandtschaftlich liierten Frauen, heterosexuelle Potenz, Beschützereigenschaften wie z. B. Wehrhaftigkeit und ökonomischer Erfolg, der sich daran bemisst, wie gut es ihnen gelingt, für Wohlstand bei den „Ihrigen" zu sorgen. Es scheint fast, als wirkten diese archaischen Männlichkeitsmuster auch in unserer heutigen Gesellschaft weiter fort (vgl. z. B. die Interviews mit Pornokonsumenten, Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleuten, aber auch mit den drei Generationen in der Landwirtschaft und Dennis in diesem Band).

    Freilich fragt sich, wieso Jungen und Männer – viele Frauen, z. B. Mütter, übrigens auch – sich mit dem männlichen Hegemonialsystem auch dann arrangieren, wenn sie nur nachrangig, nur sehr wenig oder gar nicht in den Genuss seiner Vorteile kommen. Wieso orientieren sie sich überhaupt an hegemonialer Männlichkeit als Leitbild? Offenbar handelt es sich bei dieser Art von Herrschaft um eine Sonderform, nämlich um eine solche, die mit sich bringt, dass die Beherrschten selbst willig die Herrschaft akzeptieren.¹ Wie aber kann solche Zustimmung zustande kommen? Wie baut sie sich im Verlaufe des Lebens auf? Die Antwort lautet: Sie entsteht durch Habitualisierung. Was heißt das?

    MANNHAFTIGKEIT – EIN HABITUS

    „Der hat einen bestimmten Habitus – so formulieren wir manchmal auch in unseren alltäglichen Gesprächen. Wir meinen damit: Da tritt jemand in spezifischer Weise auf, da drückt sich in ihm aus, was er fühlt und denkt, ja was er für einer ist – oder wenigstens was er nach außen hin für ein Bild von seiner Person abgeben will. Habitus ist aber auch ein sozialwissenschaftlicher Terminus. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der diesen Begriff am weitesten ausgearbeitet hat und am prononciertesten vertritt, versteht darunter die inkorporierten – also in den Körper eingeschriebenen –, vorreflexiven, unbewussten Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Urteils- und Handlungsschemata, die einen gesellschaftlichen Orientierungssinn für das individuelle und kollektive Handeln abgeben (vgl. Bourdieu 1979, 169 sowie 1987, 728). Habitualisierung ist der Prozess der Herstellung des jeweiligen Habitus, also die menschliche Praxis, in der er als „einverleibte, zur Natur gewordene(n) und damit als solche vergessene(n) Geschichte (Bourdieu 1993, 105), sozusagen als „fleischliches Gedächtnis von Darstellungen" (Hirschauer 1993, 60) der Persönlichkeit, entsteht.

    Bourdieu spricht zwar davon, dass das Geschlecht „eine ganz fundamentale Dimension des Habitus (Bourdieu 1997a, 222) ist, arbeitet aber die Kategorie des geschlechtlichen bzw. des männlichen Habitus nicht näher aus. An dieser Stelle setzt Michael Meuser (2010) an, wenn er den „geschlechtlichen Habitus als „ein generierendes [also etwas Hervorbringendes; Anm. K.M.] Prinzip vorstellt, das zu unterschiedlichen Ausdrucksformen führen kann. Danach haben das weibliche und das männliche Geschlecht jeweils einen bestimmten Habitus, dem sie als Leitfigur und Maßstab folgen. An Connell anschließend bezeichnet Meuser hegemoniale Männlichkeit als „Kern des männlichen Habitus „als Erzeugungsprinzip eines vom männlichen Habitus generierten doing gender bzw. „doing masculinity. […] Der männliche Habitus kann sich folglich in einer Vielzahl von Formen äußern … (ebd., 118).

    Die „Art eines Mannes": wehrhaft, streitbar, tapfer und entschlossen

    Der männliche Habitus – darin sind sich Männlichkeits- und Jugendforschung im Wesentlichen einig – wird nicht nur innerhalb der Familie – hier vor allem vom Vater auf den Sohn – übertragen. Vor allem auch in geschlechtshomogenen Gruppen, in denen es in besonderem Maße zu Verhandlungen von Männlichkeit kommt, wird er erworben, stabilisiert und weitergegeben. Darüber hinaus lassen sich weitere Orte der Reproduktion von Formen hegemonialer Männlichkeit immer dort finden, wo Alltagspraxen an diesem für „ideal gehaltenen Typus von Männlichkeit ausgerichtet werden – man denke etwa an „Muckibuden, Stammtische, Fußballplätze, Boxgyms etc., aber auch an Praktiken wie das Duellieren und Mensurschlagen (hierzu Degenhardt in diesem Band sowie Frevert 1991) oder das Kampftrinken bzw. den exzessiven Alkoholkonsum als Vehikel männlicher Geselligkeit überhaupt (vgl. hierzu die Reportagen zum Junggesellenabschied und zum Volksfest in diesem Band sowie Elias 1989, 125ff.). Alles, was mit Homosexualität zu tun haben könnte, wird dort im Allgemeinen gemieden, mit Abwertungen belegt oder gar verfolgt – ein Umstand, der eben wesentlich damit zusammenhängt, dass „hegemoniale Männlichkeit per definitionem als heterosexuelle Männlichkeit begriffen wird (vgl. z. B. die Funktion des rosa Tütüs im Eishockey-Team von René, aber auch zahlreiche Passagen in anderen Interviews innerhalb dieses Bands). Frauen und Mädchen tauchen als Gesprächgegenstand zwar immer mal wieder gerne auf, werden aber als reale Personen innerhalb der männerdominierten Szenerien selbst weniger gern gesehen oder sogar ausgegrenzt. Dies hängt damit zusammen, dass hier die Rangkämpfe unter Jungen bzw. Männern um Plätze im System hegemonialer Maskulinität stattfinden. Bei den „ernsten Spielen des Wettbewerbs (Bourdieu 1997b, 203) aber lässt man sich nicht gerne beobachten. Man(n) könnte ja sein Gesicht verlieren. Das Wissen um die kompetitive Funktion solcher Jungen- und Männergruppen, ihrer Rituale und Arenen des Wettstreits sowie die stillschweigende Übereinkunft, hier „unter Männern zu agieren, bilden auch das Bindemittel der Kerle untereinander und dienen zugleich der Abgrenzung gegenüber dem anderen Geschlecht. Mädchen und Frauen fungieren allenfalls dann als beliebte Zuschauerinnen, wenn ihnen die Funktion von „schmeichelnden Spiegeln (Virginia Wolf) zukommen kann, die dem Mann bzw. Jungen jeweils „das vergrößerte Bild seiner selbst zurückwerfen" (Bourdieu 1997b, 203) sollen, das glorreiche Mannsbild also (vgl. dazu auch z. B. den Kommentar des Steelers-Pressesprechers zum Interview mit René).

    Das, was hier angestrebt wird, ist so betrachtet weniger der Nachweis von Männlichkeit überhaupt als die Demonstration einer bestimmten Ausprägung von Männlichkeit, nämlich von Mannhaftigkeit. „Mannhaft zu sein, bedeutet nach dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm, nach „Erscheinung, „Alter, „Kraft, „Gesinnung und „Thaten die „Art eines Mannes" (vgl. http://woerterbuchnetz.de/Projekte/WBB2009/DWB/wbgui_py?lemid=GM01148) zu haben. Vor allem Ritter und edle Schildknechte wurden mit diesem Adjektiv ausgezeichnet. Neben einem „männlichen Aussehen und Auftreten und einer gewissen Reife werden dementsprechend vor allem bestimmte Eigenschaften mit ihm verbunden: Wehrhaftigkeit, Streitbarkeit, Tapferkeit und Entschlossenheit. Der Begriff wird lt. Duden aber auch als Synonym für u. a. unerschrocken, kühn, beherzt, mutig, heldenhaft, schneidig und wacker benutzt. In einem allgemeineren Sinn steht er auch für Standfestigkeit, Tatkräftigkeit, Rechtschaffenheit, Unbeirrbarkeit, Unbeugsamkeit und Verlässlichkeit. Aber auch Opferbereitschaft, Selbstdisziplin, das Ertragen von Schmerzen und ggf. das Zahlen eines hohen Preises für ein als richtig erachtetes Verhalten werden mit dem Terminus in Verbindung gebracht. Der griechische Philosoph Aristoteles versteht darunter schon in der Antike das „Innehalten der rechten Mitte zwischen Furchtsamkeit und Verwegenheit auf dem Wege des „Streben(s) nach dem wirklich Wertvollen, nämlich nach Ehre, und aus der Scheu vor der Schande" (Nikomanische Ethik, Drittes Buch, Kap. 11).

    Mannhaftigkeit ist also gemäß dieser Begriffstradition in erster Linie belegbar über den Besitz von bzw. das Streben nach Eigenschaften, die mit dem Männlichsein verknüpft werden, sie ist keine Frage von Biologie. Insofern diese Eigenschaften als vorteilhaft betrachtet bzw. idealisiert und deshalb dann auch erwartet werden, gewinnen sie den Rang von Werten und Normen, denen man(n) nach Möglichkeit zu entsprechen hat. In einer Zeit, in der die Stellenangebote für Ritter und Knappen versiegt sind, deren Bedeutung auch im allgemeinen gesellschaftlichen Verkehr abnimmt und kriegerische Kampfhandlungen im pazifizierten Alltag zunehmend seltener werden, gehen allerdings in wachsendem Maße die Chancen dafür verloren, sich mannhaft zeigen zu können.

    Was tun in Zeiten, in denen die Stellenangebote für Ritter versiegt sind?

    Wenn aber das kulturelle Leitmuster nach wie vor die hegemoniale Männlichkeit ist, darüber die Kernnormen von Mannhaftigkeit weiterhin Geltung beanspruchen und auf Seiten von Jungen und Männern der Eindruck bestehen bleibt, dass sie eingefordert werden, was liegt dann näher, als Gelegenheiten zu kreieren, sich als mannhaft in Szene setzen zu können? Für denjenigen, der dabei wahrgenommene Erwartungen wie die nach Entschlossenheit, Standfestigkeit, Tatkräftigkeit, Verlässlichkeit u. Ä. m. nicht im Rahmen modernisierter Formen hegemonialer Männlichkeit erfüllen kann, weil er z. B. keinen Zugang zu ihnen hat, liegt es dann nahe, ihnen bei Konkurrenzkämpfen zu entsprechen, die ernsthafte Auseinandersetzungen gleichsam simulieren. Ihr Spektrum reicht von Schlägereien unter Jugendlichen über die Faszination von medialer Gewalt bis hin zu ihrer Sublimierung im Bereich des Sports, des maskulinistisch getönten Körperdesigns, des (nicht nur) HipHop-internen „Dissens", des bis an die Grenzen des Erträglichen reichenden sportlichen Wettstreits (vgl. die TV-Sendungen Elton vs. Simon oder Jackass) oder der gesellig-wettbewerblichen Alkoholvernichtung. Vor allen Dingen dort, wo Gewalt im Spiel ist, siedelt die „protestierende Männlichkeit. Aktionsfelder und Inszenierungsweisen wie die genannten haben für sie den „Vorteil, zum einen an die Körpergebundenheit des konventionellen Mannhaftigkeitsbegriffs andocken zu können, und zum anderen eben dadurch gekennzeichnete Kampfhandlungen bzw. die Wappnung dafür zu ermöglichen. Sie laufen daher erwartbar kaum Gefahr, als „unmännlich tituliert und abgewertet zu werden. Ganz im Gegenteil: Sie knüpfen an die über Jahrtausende tradierte Vorstellung an, dass rigoroser Körpereinsatz und Gewalt nahezu ausnahmslos exklusive Durchsetzungsmittel des männlichen Geschlechts sind. Auch dort, wo sie als „überzogen bewertet werden und etwa in Brutalität ausarten, wird ihnen eines mit Sicherheit nicht abgesprochen: mit Männlichkeit assoziiert zu sein oder doch zumindest eine Zuspitzung letztlich „typisch männlichen Verhaltens darzustellen. Wer also für sich darauf setzt, in solcher Weise sicherzustellen, als „ganzer Kerl angesehen zu werden, kann davon ausgehen, dass sein Verhalten womöglich nicht unbedingt auf breite soziale Akzeptanz trifft, ja vielleicht sogar zur Zielscheibe strafrechtlicher Verfolgung wird, ihm aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Anerkennung als „männlich bzw. „mannhaft verwehrt wird – erst recht nicht in den Milieus, in denen Jungen bzw. Männer den gleichen Habitus pflegen. Hier wird nämlich der Begriff der „Ehre", der schon im Mannhaftigkeits-Verständnis von Aristoteles die zentrale Zielsetzung entsprechenden Verhaltens markiert, in spezifischer Weise über- und umgesetzt: als strikte Befolgung überlieferter geschlechtsspezifischer Normen. Insofern erfüllt solches Gehabe seine Funktion im hier beschriebenen Sinne besonders in Lebensphasen, in denen die Entwicklung männlicher Identität verunsichert ist und klare, unbezweifelbare Orientierungspunkte gefragt sind, vor allem also in der Adoleszenz (vgl. zu diesem Komplex exemplarisch Möller 2008, 2010).

    Allerdings finden sich auch Habitualisierungen von Mannhaftigkeit, die weniger Wert auf die Demonstration von Körperkraft, Gewaltfähigkeit und damit vermischter Ehrabsicherung zu legen scheinen oder sogar ganz auf sie verzichten. Eine Reihe von Hinweisen liegt dazu vor, dass sie in den nachwachsenden Generationen sogar zunehmen (vgl. Winter/Neubauer 1999, Böhnisch 2004, Möller 2009, Volz/Zulehner 2009). Sie konzentrieren sich auf solche Teilaspekte von Mannhaftigkeit – etwa auf Tatkräftigkeit, Rechtschaffenheit und Entschlossenheit –, die auch auf Feldern gefragt sind, in denen physische Kraftprotzereien und gewaltförmige Durchsetzung nicht opportun sind. Es handelt sich im Wesentlichen um Bereiche, die in der modernen Leistungsgesellschaft im Zentrum stehen: in erster Linie Wirtschaft, Bildung, Kultur, Öffentlichkeit und Politik. Sich hier über jeweils systemkonforme Verhaltensweisen „mannhaft zu zeigen, bietet auf der einen Seite den Vorteil, mehrheitlich gesamtgesellschaftliche Akzeptanz erhalten und der Erwartung entsprechen zu können, Kontrolle über das eigene Leben, soziale Integration, sinnliches Erleben und Sinnerfahrung mittels Leistung zu erzielen, sei es Arbeits- und Lernleistung, kulturelle Produktivität, bürger(gesell) schaftliches Engagement oder politische Beteiligung. Auf der anderen Seite kann sich als nachteilig für diese Art von Mannhaftigkeitsbezeugungen herausstellen, dass sie über Leistungen angezielt werden, die seit längerem bereits auch von Angehörigen des weiblichen Geschlechts erbracht werden und zugleich in Gesellschaftsfeldern angesiedelt sind, die keine eindeutig männlich dominierten Sphären (mehr) darstellen, sondern sich Mädchen und Frauen gegenüber geöffnet haben. Daher sind sie weniger deutlich als Mannhaftigkeitsnachweise sicht- und einsetzbar. „Das kann ja auch ein Mädchen, „Darin ist ’ne Frau genauso gut." – Aussagen wie diese vermögen sie hier viel leichter zu unterhöhlen als dort, wo Körperkraft und Gewalt ihre Stützpfeiler bilden. Dies gilt besonders für die Jugendphase, können doch in ihr Männlichkeitsdokumentationen wie Gilmore (1991) sie benennt, also Erzeugen, Beschützen und Ver- bzw. Besorgen von Unterhaltsmitteln, noch kaum im Sinne reifer männlicher Fürsorge über Vater- und Ernährerrollen, Positionen in Sicherheitsbehörden, Lenkungsstellen in Unternehmen und Politik u. Ä. erbracht werden (vgl. als gewissen Gegenpol das Interview mit den Soldaten und Polizisten sowie dem schon 32-jährigen Türsteher Walter in diesem Band).

    Für diejenigen Jungen und Männer, die dennoch bevorzugen, ihre Lebensgestaltung eher auf diesen Gebieten zu realisieren, gibt es im Umgang mit der gesellschaftlichen Erwartung, sich in das vorherrschende System der Zweigeschlechtlichkeit einordnen zu lassen, also sich als – werdender oder scheinbar „fertiger – Mann zu präsentieren, primär drei strategische Möglichkeiten: Entweder sie definieren die Bedeutungstraditionen von „Mannhaftigkeit so weit um, dass sie aus ihrem Interpretationshof zumindest für ihr eigenes Leben Kriterien wie physischen Kampf(eswillen) und Gewalt eliminieren. Sie setzen dann darauf, dass sie die Art, wie sie sich ansonsten geben, schon genügend Männlichkeit bzw. Mannhaftigkeit signalisiert: Verantwortung für sich und andere übernehmen, Hilfe leisten, standfest für Menschenrechte eintreten, unbeirrbar seinen Interessen nachgehen, selbst dann, wenn von Teilen der Umwelt mit ihnen Effeminierung verbunden wird u. Ä. m. (vgl. z. B. die Interviews mit den männlichen Erziehern, dem Knochenmarkspender Marco, dem Musicaldarsteller Felix sowie den Balletttänzern Philipp und Lukas, dem Jazzdancer Manu sowie vielen anderen in diesem Band). Oder sie fahren eine zweite Strategie: In ergänzender Abwandlung der Erstgenannten reklamieren sie Bereiche traditioneller Mannhaftigkeit für sich, die gewaltdistanziert sind, aber dennoch sehr deutlich an Männlichkeitstraditionen anschließen (vgl. z. B. die Interviews zum Maibaumaufstellen und zum Junggesellenabschied sowie mit Daniel – Jagen, Schützen, Schießen, Retten, – oder Dennis – Tiere züchten und Angeln – in diesem Band). Andere Vertreter dieser Strategie drücken ihre Mannhaftigkeit über symbolische Momente aus, die zwar u. U. Körpereinsatz und auch Kampf beinhalten, diese inhaltlich aber als spielerisch-ernste Streitigkeiten um Reviere und deren Kontrolle inszenieren (vgl. das Ultra-Interview in diesem Band) oder ganz anders mit Bedeutungen aufladen (vgl. etwa die Interviews mit Kampfsportlern bzw. -künstlern). Wiederum andere gehen einfach ironisierend damit um, sofern sie nicht schlicht nur auf mediales Miterleben und Bewundern setzen (vgl. das Interview mit Firat & Co. in diesem Band). Manche lehnen es auch grundsätzlich ab, sich besonders männlich zu gerieren, wobei freilich offen bleibt, wie weit diese Absicht sich durchhalten lässt: „What the fuck is Männlichkeit!?" – Diese dritte Strategie findet sich jedenfalls explizit bei den von uns interviewten Linksautonomen. Darüber hinaus ist sie aber auch bei einer Reihe von anderen Gesprächspartnern als eine Art von Teilstrategie (vgl. etwa das Interview mit Bruder Sebastian in diesem Band), als selbstreflexives Moment (vgl. z. B. das Interview mit den angehenden Sozialpädagogen in diesem Band), als metrosexuelle Attitüde (vgl. das Emo-Interview in diesem Band) oder als die eine Seite einer Ambivalenz zu registrieren, die zwischen Relevanzabschwächung von und Festhalten an habitueller Mannhaftigkeit schwankt (vgl. z. B. die Interviews mit Incendium und Fathead in diesem Band).

    Auch die in diesem Band zur Sprache kommenden Homosexuellen sind davon nicht ausgenommen. Wie die meisten homosexuellen Männer (vgl. Taywaditep 2001) entsprechen sie keineswegs dem weit verbreiteten „Tunten-Klischee; sie verweisen auf ihr männliches Identitätsempfinden, oft auch expressis verbis als „Kerl (vgl. z. B. das Gespräch in der Weissenburg in diesem Band). Wie bei fast allen anderen jungen Männern wird auch bei ihnen mit dem Ausdruck „Kerl allerdings weniger oder gar nicht seine abwertende Bedeutung von „böser Bube und „gefährlicher Bursche oder Grobschlächtigkeit assoziiert als vielmehr vor allem auf einen semantischen Aspekt Bezug genommen, der aus der etymologischen Herkunft des Begriffs stammt: Mit „kerle wurde im Mittelalter ein Mann bezeichnet, der nicht dem Ritterstand angehörte und dennoch zu den „Freien" zählte, also nicht versklavt, leibeigen oder hörig war, sondern über Freizügigkeit und Rechtsfähigkeit verfügte. Sich nicht schüchtern zurückzuziehen, ja, sich selbstbewusst zu geben, Vertrauen in sich zu setzen und sich notfalls Freiheit zu erkämpfen, ist das, was in diesem Kontext an Orientierungen formuliert wird.

    Ob hetero- oder homosexuell, das Wort „Kerl wird von Jungen und Männern (auch in diesem Band) allerdings zusätzlich zu den Mannhaftigkeitskriterien, die von Aristoteles abgeleitet werden können, oft auch mit einer sexuellen Konnotation benutzt, die ihm auch vom aktuellen Duden zugeschrieben wird: Ein Kerl ist danach ein sexuelles Prachtexemplar, wenigstens aber jemand, der verspricht, auch sexuell „seinen Mann stehen zu können. Hatte Aristoteles noch „Heftigkeit und „Leidenschaftlichkeit von „Mannhaftigkeit" abgesetzt, so sind diese Grenzen inzwischen in einer sexuell liberalisierten Gesellschaft eingerissen. Sexuelle Attraktion wird offener kommunizierbar.

    Wie immer auch die sexuelle Orientierung sein mag und wie anstrengend auch eventuell stattfindende geschlechtsinterne Rangkämpfe gelegentlich sein mögen: Ab und zu nur unter Männern bzw. Jungs zu sein, wird auch als ein Stück Freiheit erlebt. Hier darf man unkorrekt aussehen (vgl. das Interview mit den Bubenjungschärlern), kerlemäßig, mithin frei, reden und auftreten (vgl. z. B. das Interview mit Fathead). Hier fühlt man(n) sich intuitiv verstanden. Weibliche Kontrollen greifen hier nicht. Männerspezifische Interessen können unbeobachtet mit wechselseitiger Verstärkung der Kerle untereinander verfolgt (vgl. die Interviews mit Pornokonsumenten und Bikern) und extensiver betrieben werden als wären Mädchen und Frauen auch dabei (vgl. etwa den Bericht von der LAN-Party in diesem Band). Mehr noch: Ein bestimmter Typus von Lebensfreude wird hier exklusiv erlebbar.

    FAZIT

    Kerle wollen Kerle bleiben – oder werden. Was ein Kerl ist, bestimmen sie allerdings nicht selber. Sie sind in ihrer Selbstwahrnehmung nicht unabhängig von Fremdwahrnehmung. Mehr oder minder sind sie darauf angewiesen, Kerlsein attestiert zu bekommen – von Mädchen und Frauen, aber eigentlich mehr noch von anderen Männern bzw. Jungen. Die Orientierung am Leitmuster hegemonialer Männlichkeit ist dabei entscheidend. Sie bildet die Grundlage des männlichen Habitus und seiner biografischen Entwicklung. Zentrale Ausdrucksform dieses Habitus und Zielpunkt seiner Habitualisierung ist „Mannhaftigkeit. Darunter wird ein Ensemble von als „männlich verstandenen persönlichen Eigenschaften verstanden, dessen Kernbestandteile weit zurück reichende historische Verwurzelungen haben und entsprechend fest in (geschlechts)kulturellen Traditionen verankert sind. Auch wenn die Entwicklung des Habitus unbewusst und vorreflexiv verläuft, so ist doch der Habitus selbst bzw. seine Ausdrucksform der „Mannhaftigkeit" nicht eine gänzlich unentrinnbare Zwangsgestalt. Die Interviews dieses Bandes legen Zeugnis davon ab, dass auch Habituelles thematisierbar ist. Dies heißt nicht, dass es ohne weiteres abzulegen ist oder abgelegt werden will. Es bedeutet jedoch, dass Variationen habitueller Überlieferungen denk- und lebbar werden und auch teilweise Ablösungen von ihnen erfolgen, ohne Männlichkeit als Geschlechtsempfinden und -dokument gänzlich infrage stellen und aufgeben zu müssen: Kerle können Kerle bleiben. Kerle dürfen Kerle bleiben.

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    ¹ Genau deshalb – und nicht, weil Fremdworte besser klingen – ist hier übrigens von Hegemonialität die Rede. Wir beziehen uns mit diesem Begriff auf ein Verständnis von Herrschaft, das der italienische Philosoph Antonio Gramsci entwickelt hat.

    „Wir sind halt einfach Jungs von der Straße."

    BILLY THE KID (20), ABGEBROCHENE SCHREINERLEHRE, HARTZ IV-EMPFÄNGER, AUF AUSBILDUNGSSUCHE LOBO (23), GELERNTER KAROSSERIEBAUER, MOMENTAN REGALEINRÄUMER IM EINZELHANDEL, KNASTERFAHREN

    Als ich zu dem Gespräch mit euch fuhr, habe ich an der Uni gesagt, ich interviewe linke Skins. So kenne ich euch ja von früher. Stimmt das eigentlich noch so?

    Billy the Kid: Also bei mir kann man das jetzt nicht unbedingt sagen. Ich würde mich nicht subkulturell als „Skinhead" betiteln. Ich bin jetzt schon seit acht Jahren in der Szene, also Punk-Rock, Skinheads, alles was da dazugehört. Ich hab aber ’nen großen Wandel mitgemacht: vom kleinen Straßenpunker zum Skinhead. Und hab dann auch ’ne Zeit lang nur noch Hardcore gehört. Ich hab halt immer wieder neue Sachen ausprobiert. Aber alles immer im kleinen Kreis der Linken. Und das wird sich auch nicht ändern. Aber ich selbst hab mich halt verändert. Allein vom Aussehen her bin ich jetzt nicht mehr so. Ich zieh keine Stiefel mehr an und so. Das ist nicht mehr mein Ding. Ich bin eigentlich nur noch sportlich angezogen.

    Was war der Grund, dass du dich da so durchgearbeitet hast?

    Billy the Kid: Weiß nicht. Ich bin mit zwölf zu den Punks gekommen, und da war das natürlich das Größte. Die Straßenpunks hab ich immer angeguckt und gedacht: „So will ich auch rumlaufen." Bis ich das dann eben irgendwann mal selbst gemacht hab. Und dann hat man immer Neues entdeckt, je tiefer man da reingekommen ist, je mehr man auf Konzerte gefahren ist und so weiter.

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