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Kerl sein.: Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen
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eBook512 Seiten5 Stunden

Kerl sein.: Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen

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Über dieses E-Book

Ein "echter" Kerl sein - wohl eine der häufigsten Erwartungen, mit denen sich Jungen konfrontiert sehen. Und sicherlich auch eine Wunschvorstellung bei vielen von ihnen.
Bloß: Was ist überhaupt ein Kerl, ein "echter" zumal? Ein cooler Checker, der weiß, wo's langgeht? Ein kerniger Typ, der Eier hat? Einer, der kräftig austeilen, aber auch ordentlich einstecken kann? Jemand, der sich durchsetzt - wenn's sein muss: um jeden Preis? Oder verhält es sich ganz anders? Muss man(n) ein Frauenversteher sein? Sind Gefühl und Härte gefragt?
Jugendszenen halten Angebote, manchmal auch Kopiervorlagen für Männlichkeitsvorstellungen und -praxen bereit. Straßenkulturen, rechte Szenen, Autonome , aber auch Emos, Transgender und weitere Jugend- und Populärkulturen bieten Antworten auf Fragen wie die oben genannten. In welcher Gestalt sie dies jeweils tun und für wen sie Attraktivität entfalten, beschreiben und analysieren die Beiträge dieses Buches.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum20. Juni 2014
ISBN9783943774382
Kerl sein.: Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen

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    Buchvorschau

    Kerl sein. - Hirnkost

    Anmerkungen

    1

    EINFÜHRUNG

    Lothar Böhnisch

    CLIQUEN MACHEN MÄNNER.

    JUNGEN IM KONTEXT VON CLIQUEN UND JUGEND(SUB)KULTUREN

    Gleichaltrigengruppen — Peers — sind aus psychoanalytischer, soziologischer und pädagogischer Gesamtsicht alterstypische Medien der Regulation, mit denen Triebdynamik kanalisiert, soziale Differenzierung entwickelt, Rollen erprobt und Übergangssituationen bewältigt werden. In ihnen symbolisieren sich die Ablösung von der Herkunftsfamilie (das Nicht-mehr) und der unstrukturierte und deshalb normdiffuse Übergang in das spätere Erwachsenenalter (das von sich weggeschobene Noch-nicht) gleichermaßen.¹ In den Peers wird aber nicht nur Jugend ausgelebt, sondern auch — damit verbunden — Geschlechtsidentität (weiter)entwickelt und inszeniert. Dies hat bei Jungen eine weitreichendere Bedeutung als bei Mädchen. Denn hier sind sie nach einer langen von Frauen dominierten und abhängigen Kindheitsperiode „endlich und nun kulturell selbständig „unter Männern. Jungenfreundschaften über Cliquen sind nicht nur jugendkulturelle Experimentierräume, sondern auch Orte der Suche nach männlicher Identität.²

    Die Dynamik von Idolisierung und Abwertung

    Das Aufwachsen von Jungen in unserer Gesellschaft ist durch die Suche nach männlicher Geschlechtsidentität im Bindungs-/Ablösungsverhältnis zur Mutter und in dem — mit ihm konkurrierenden und zugleich suchenden — Verlangen nach dem „männlichen Vater (oder einer vergleichbaren männlichen Bezugsperson) bestimmt. Dies unterscheidet sie in der frühen kindlichen Phase von den Mädchen, die sich auf der Suche nach Geschlechtsidentität nicht von der Mutter lösen müssen und bei denen der Geschlechtskonflikt erst in der Pubertät in der Dramatik der Ablösung von der Mutter Gestalt gewinnt. Für den Jungen aber beginnt der Ablösungsprozess von der Mutter schon im frühkindlichen Alter von drei bis fünf Jahren zu einer Zeit, in der sich das autobiografische Gedächtnis entwickelt hat und der Junge erkennen kann, dass er körperlich nicht der Mutter, sondern dem Vater oder anderen männlichen Bezugspersonen gleicht. Für den Jungen ist es aber meist schwer, über den Vater — oder eine ähnlich nahe männliche Bezugsperson — die Alltagsidentifikation zu bekommen, die er braucht, um in ein ganzheitliches, Stärken und Schwächen gleichermaßen verkörperndes Mann-Sein hineinwachsen zu können. Die Väter sind ja meist unter der Woche außer Haus. Die alltägliche Beziehungsarbeit obliegt so der Mutter, die sich dem Jungen in ihren Stärken und Schwächen zeigt. Die Schwächen des Vaters und seine alltäglichen Nöte des Mannseins, des Ausgesetzt-Seins und der Verletzungen im Beruf werden dagegen für den Jungen kaum sichtbar. Das heißt nicht, dass die Väter nicht engagiert sind. Aber die meisten sind nur am Wochenende verfügbar, und dann machen sie mit den Kindern „etwas los; der Vater bringt die Events. So wird auch in unseren Vorstudien zur repräsentativen Südtiroler Männerstudie deutlich, dass der Großteil der Väter zeitlich enorm an die Arbeit gebunden ist und dass sie es oft bedauern, z. B. keine längere Elternzeit nehmen zu können. Der Junge erhält aufgrund dessen oft ein einseitiges Vaterbild, das durch die ’starken’ Männerbilder, die er mit zunehmendem Alter über die Medien wahrnimmt, noch verfestigt wird. Dies führt bei ihm zwangsläufig zur Idolisierung des Mannseins und zur Abwertung des Gefühlsmäßigen, Schwachen, „Weiblichen", da er ja die eigenen weiblichen Gefühlsanteile, die er seit der frühkindlichen Verschmelzung mit der Mutter in sich trägt, immer weniger ausleben kann. Neuere Väterstudien zeigen zwar, dass sich eine höhere Beziehungsund damit alltägliche Vorbildqualität entwickelt, wenn Väter zeitlich und emotional intensiver in der familialen Sphäre der Söhne auftauchen. Freilich hat sich dabei noch nicht viel Grundlegendes an der Struktur väterlicher Familienarbeit geändert. Dazu bräuchte es auch gesellschaftliche Vorgaben der Anerkennung und Förderung männlicher Hausarbeit. Gerade die Feminisierung der Erwerbsarbeit lässt in diesem Zusammenhang ambivalente Folgen erwarten. Indem das Normalarbeitsverhältnis erodiert, prekäre Arbeitsverhältnisse auch die Männer stärker erreichen, werden sich viele erst an die traditionelle Erwerbsarbeit klammern, wenn die alternativen Bereiche der Hausarbeit keine anerkannte Männerrolle versprechen. Deshalb ist es schon in der Kindheit für den Jungen wichtig, eine Mutter zu erleben, die sowohl dem Vater als auch dem Jungen gegenüber anerkannte Selbständigkeit über die Familie hinaus verkörpert und damit signalisiert, dass sie dem Jungen auch soziale Rollenbilder anbieten kann. Ist die Mutter dagegen eher abhängig und von daher mit schwachem Selbstwertgefühl ausgestattet, kann sich bei ihr die unbewusste Tendenz verstärken, den Sohn als männlich stark erleben zu wollen. Die Mutter bleibt also weiterhin eine zentrale Figur im Prozess der Entwicklung von Männlichkeit. Gleichzeitig hängt es aber vor allem vom Vater bzw. der vom Jungen gesuchten männlichen Bezugsperson ab, inwieweit er sich gegenüber dem Jungen so öffnen kann, dass dieser erfährt und spürt, dass zum Mannwerden nicht nur Inszenierung von Stärke, sondern auch Erleben und Durchleben von Schwächen gehören.

    Wie sich im Kindesalter das Mannwerden je unterschiedlich biografisch entwickelt, hängt aber nicht nur von der jeweiligen Mutter-Vater-Konstellation ab, sondern auch von den ersten gesellschaftlichen Erfahrungen, die Jungen in ihrer Umwelt machen. Diese Erweiterung ist wichtig, da es ja keineswegs an den Eltern allein liegt, in welches Geschlechterrollenverhalten Kinder hineinwachsen, und manche Eltern sich wundern, warum ihre Kinder, trotz elterlicher Versuche einer geschlechtsemanzipativen Erziehung, traditionelle Geschlechterrollenstereotype übernehmen. Hier spielen die früh von den Kindern konsumierten Medien und deren Geschlechterbilder schon eine wichtige Rolle. Schließlich fällt ins Gewicht, dass die Jungen im Kindergarten und in der Grundschule kaum auf männliche Erzieher/Kindergärtner oder Lehrer treffen und somit auch wieder Vorbilder des Mannseins fehlen. Dies ist die Kehrseite des — hier nur bedingten — Vorteils, dass sie dort weibliche Zuwendung erfahren.

    Entstehung, Entwicklung und Dynamik von Jungencliquen

    Die Jungenclique entwickelt sich im Kindergarten vor den Augen meist überraschter ErzieherInnen, die den Gender-Mechanismus, der dieser Gruppendynamik kleiner Jungen innewohnt, nicht durchschauen. Dabei liegen die Gründe auf der Hand: Jungen im frühen Kindesalter streben in unserer Kultur nach der (unbewussten) Ablösung von der Mutter und nach männlicher Geschlechtsidentifikation. In den meisten unserer Kindergärten aber finden sie keine Männer als Erzieher. Deshalb wenden sie sich den gleichaltrigen kleinen Männern zu und finden sich in Gruppen, die sich über Abgrenzung, schon kleine Abwertungen von Mädchen und die Idolisierung des männlich Starken bilden. Dabei mögen die einzelnen Jungen für sich gar nicht so abgrenzend und abwertend sein. Es ist die Gruppe und ihre Dynamik, in der Dinge getan werden, die die einzelnen Jungen allein gar nicht tun würden. Aber die Angst, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, nicht dazuzugehören, lässt sie mitmachen. In kritischen Konstellationen, vor allem im Jugendalter, kann sich dieser gruppendynamische Mechanismus von Idolisierung des Männlichen und Abwertung des Weiblichen immer wieder neu aufschaukeln. So zusammengeschweißte Cliquen sind habituelle und affektuelle „Gesinnungsgenossenschaften".³ Gerade im jugendlichen Pubertätsalter zwischen 13 und 16 Jahren steht die Ablösung von den Eltern und die betonte Hinwendung zur Gleichaltrigenkultur im Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses. „Abgrenzungen junger Männer bewegen sich zwischen heftigen und konfliktreichen Trennungen von den Eltern, oft verbunden mit deren Entwertung, und Bemühungen, an der kindlichen Nähe zu ihnen festzuhalten, nicht selten oszillieren sie zwischen den beiden Polen.⁴ Diese innerpsychische fluide Konstellation spiegelt sich auch im äußeren Sozialverhalten: Bereits Jugendstudien der 1990er Jahre (z. B. Deutsche Shell AG 1997 und 2000) machen deutlich, dass zwar die jugendkultur- und cliquenzentrierte Orientierung in der Jugendpopulation verbreitet ist, aber gleichzeitig eine bemerkenswerte Nähe zu den Eltern bleibt, die sich in den 2000er Jahren — als jugendüberdauerndes Wohnen bei den Eltern — verstärkt hat. Wenn auch die Freizeitorientierung überwiegend jugendzentriert abläuft, so zeigen sich in anderen sozialen und kulturellen Einstellungen der Jugendlichen deutliche Affinitäten zu den Eltern.⁵ Die Gleichaltrigenkultur ist deshalb auch nicht prinzipiell gegen die Eltern gerichtet. Sie hat aber dort ihre zentrale, elternabgewandte Bedeutung, wo es um die soziokulturelle Eigenständigkeit und die Formierung der Geschlechtsidentität geht. Hier fallen die männlich dominierten Cliquen auf, wenngleich auch Mädchen inzwischen schon ihre eigenen jugendkulturellen Gesellungsformen suchen. Man könnte formulieren, dass die Jungen im Kontext der Gesellungsform der männlichen Clique zum ersten Mal richtig „unter Männern sind und sich nur an (gleichaltrigen) „Männern orientieren können. Allerdings kommen — je nach bisherigen biografischen Bewältigungserfahrungen und entsprechenden sozialen Chancen — Jungen zusammen, die sich selbst noch nicht ihres Mannwerdens sicher sind. Das in der männlichen Sozialisation immer noch schwelende Homosexualitätstabu und der Ethnozentrismus der Gruppe können dann den Kreisel von Idolisierung des Männlichen und Abwertung des Weiblichen neu aktivieren. Deshalb kommt hier gerade der Jungenarbeit in der Jugendarbeit die Aufgabe zu, männliche Vorbildfunktionen anzubieten, Projekte zu entwickeln, in denen Jungen vermeintliche Schwächen als Stärken erfahren und in erweitertem Geschlechterrollenhandeln experimentieren können. Denn im Jugendalter als „zweiter Chance der männlichen Sozialisation wird auch für Jungen die Stärke von Gefühlen wieder spürbar.

    Clique und Raum verschmelzen gerade bei Jungen zu einer besonderen Aneignungskultur. Es ist die Wechselseitigkeit von räumlicher und interaktiver Vergewisserung und den daraus erwachsenden Praktiken, in den sich Jungen als Jungen bestätigen.⁶ Räume sind immer noch vor allem von Jungen besetzt, durch ihre demonstrativen Aktionen markiert. Mädchen sind auf Zwischenräume, Beziehungsnischen und wechselnde Orte verwiesen. Jungen kontrollieren Räume, ihr Verhalten ist Territorialverhalten. Männliche Dominanz drückt sich vor allem in verschiedenen Formen räumlicher Dominanz aus. Männliches Raumverhalten ist Kontrolle, Ausgrenzung, Zurückdrängung anderer Jungen, die nicht der Clique angehören, und vor allem auch räumliche Zurücksetzung von Mädchen. Die männliche Abwertung der Frau setzt ihre ersten Zeichen im räumlichen Jungenverhalten der „Anmache, aber auch in der räumlich demonstrierten „Beschützerpositur der Jungen. Allerdings täuscht oft der Eindruck der Zurücksetzung der Mädchen. Es ist ein Bild, das vom Eindruck der Dominanz der Jungen geprägt ist. Dass Mädchen hinter und abseits dieser männlichen Bühne eigene Wege suchen, gerät dabei meist aus dem Blick. Wenn Jungen in ihrem räumlichen Verhalten in der Tendenz territorial gebunden sind, so suchen Mädchen eher wechselnde Beziehungsorte, d.h. sie wechseln dann und wann die Orte, versichern sich, ob diese auch eine Qualität für sie haben, verlassen sie wieder. Deshalb muss man für das Raumverhalten von Mädchen, weil es durch das raumgreifende Dominanzverhalten der Jungen verdeckt ist, einen besonderen Blick entwickeln.

    „Gleichaltrigenbeziehungen sind für Jungen (und Mädchen) auch deshalb besonders wichtig, weil sie ein eigenes Übungsfeld in Ablösung von der Familie, der Abgrenzung zur Erwachsenengesellschaft und beim Erwerb sozialer Kompetenzen sind. Der Rückzug aus gemeinsamen Unternehmungen mit der Familie verläuft […] geschlechtsspezifisch: 13- bis 15-jährige Mädchen und Jungen geben noch zu gleichen Anteilen an, sich regelmäßig an Freizeitaktivitäten mit der Familie zu beteiligen. Von den 16- bis 17-jährigen Jungen hingegen unternimmt nur noch etwa die Hälfte regelmäßig etwas mit ihren Eltern oder Geschwistern — und damit deutlich weniger als die gleichaltrigen Mädchen".

    Gleichzeitig spielen die Mädchen, die in solchen Cliquen sind, meist eine bezeichnende Rolle: Bei den äußeren Aktivitäten der Gruppe, im äußeren Machtgefüge, spielen sie eine untergeordnete Rolle. Die Jungen lassen an ihnen ihr männliches Überlegenheitsgefühl aus und werten sie immer wieder ab oder weisen sie zurück, demütigen sie. Im inneren Gefüge solcher Cliquen spielen Mädchen dagegen eine sehr dominante Rolle, sie tragen vor allem zum Zusammenhalt der Clique bei, sie vermitteln bei Streitigkeiten und Konflikten nach innen und außen, und sie sind es auch — und das ist in Jugendcliquen immer gefürchtet — , welche durch das Einfädeln einer Partnerbeziehung einzelne Jugendliche aus der Clique herausbrechen: Mit der festen Freundin scheint der Junge für die Clique verloren.

    So ist die Jungenclique kein echter Haltepunkt in der Findung männlicher Identität und selbstbestimmter Verhältnisse zu Frauen, sondern kann zu einem weiteren Kristallisationspunkt des männlichen Dilemmas im Lebenslauf werden. Viele Jungen haben auch hier wieder keine Beziehung zu sich selbst, keine Ruhe auf der Suche nach Männlichkeit, keine Gewissheit im Verhältnis zu Mädchen und Frauen gefunden. Im Gegenteil: Es spielen sich hier oft Verhaltensmuster gegenüber Mädchen ein, die dann auch im späteren Leben im Verhältnis zu Frauen immer wiederkehren. Jungen spüren, wie sie sich nach Emotionalität und Bindung sehnen, wollen sich Mädchen entsprechend nähern, sind aber nicht imstande, dieses Gefühl in entsprechendes soziales Verhalten umzusetzen, da ihnen dies seit der Kindheit immer wieder manifest oder latent verwehrt wurde. Sie fühlen weiblich, nähern sich den Mädchen aber männlich, mit Imponiergesten oder einer verbalen bis hin zur körperlichen Anmache, auf die heute viele selbstbewusste Mädchen nicht mehr reagieren. So kann sich ein missverständliches „Umwegverhalten Mädchen gegenüber entwickeln. Um eigene Schwächen und Unsicherheiten zu verbergen, „verstecken sich Jungen nicht selten hinter Verhaltensweisen, die Bedürfnisse nicht direkt, sondern über einen Umweg ausdrücken. Diese werden als „symbolisch bezeichnet, weil das Gegenüber die Aufgabe erhält, die jeweilige Strategie zu entschlüsseln. Strategisches Verhalten äußert sich vor allem im Umgang mit Mädchen: Die Annäherung an Mädchen läuft häufig über Anmache (positives Moment: Zuneigung zu Mädchen, Suche von Nähe und Geborgenheit; negatives Moment: Der Junge muss vor anderen, insbesondere vor der Clique, seinen Mann stehen; er darf sich nicht dem Mädchen „unterwerfen). Oft wird dieses Verhalten von Mädchen „gefördert" und unterstützt, z. B. durch Kichern oder das Zulassen solcher Annäherungen. Strategisches Jungenverhalten ist also ambivalentes Verhalten. Jungen lassen ihre innere männliche Hilflosigkeit nicht nur in frauenabwertenden Abstraktionen und Projektionen aufgehen, sondern senden durchaus empathische Signale nach außen, die aber in der Regel missachtet oder nicht als solche entschlüsselt werden. Strategisches Verhalten ist meist ritualisiert, dies gibt dem Jungen Sicherheit: Er muss sich nicht offenbaren, sich nicht stellen, so kann man vor der Clique das Gesicht wahren. Jungen, die nicht in einer festen Gleichaltrigengruppe sind, werden dennoch über die Ausstrahlung der Gleichaltrigenkultur entsprechend beeinflusst. Allerdings sind sie der permanenten Gruppenkontrolle und ihrem Konformitätsdruck nicht so stark ausgesetzt. Jungen, die gern viel mit Mädchen zusammen sind, sind offener für ein anderes als das gängige männliche Verhalten.

    Maskulinzentrierte und jugendkulturzentrierte Cliquen

    Die Gleichaltrigengruppe kann dort problematische Wirkungen zeigen, wo sie zum alleinigen Fixpunkt männlicher Identitätsfindung bei Jungen wird. Angesichts der Problematik der Suche nach männlicher Geschlechtsidentität im Kindesalter ist es kein Wunder, dass später viele Jungen die männlich dominierte Peergroup geradezu suchen, um endlich unter sich zu sein und sich „an Männern im Alltag orientieren zu können. In dieser männlichen Gleichaltrigenkultur fallen Jungen auf, die aus dem sozialisatorischen Verstrickungszusammenhang von latenter Frauenabwertung und Idolisierung des Männlichen nicht herausgekommen sind und sich zwangsläufig in der ethnozentristischen Dynamik der männlich dominierten Gleichaltrigengruppe weiter maskulin aufladen. Dies kommt in der jugendsoziologischen Literatur zu delinquenten und gewalttätigen Jugendgruppen immer wieder zum Ausdruck, wobei jedoch das Geschlechtstypische dieser Vorgänge meist nicht explizit herausgearbeitet ist. Dass manche Jungen — vor allem jene, die von ihrem Herkunftsmilieu keine Kompetenzen zur Bewältigung des männlichen Geschlechterdilemmas mitbekommen haben — auf solche Frauen abwertende, männerbündische Gruppenstrukturen geradezu „angewiesen sind, relativiert erheblich den pädagogischen Wert der (männlich dominierten) Peergroup. Deshalb dürfen Gleichaltrigenbeziehungen in kleineren Gruppen und Freundschaften, wie sie Mädchen traditionell favorisieren,⁸ die ja von ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation her nicht auf abwertende Gruppenbezüge „angewiesen" sind, in ihrem jugendkulturellen und pädagogischen Wert im Vergleich zu den Peergroups nicht länger vernachlässigt werden.

    Mädchen bevorzugen eher gemischtgeschlechtliche Gleichaltrigengruppen, die sich meist aus Schulklassen heraus entwickelt haben. „Weiterhin sind dies genauso durch Freundschaften verbundene Mädchencliquen und jene jugendkulturellen Szenen, in die sich Mädchen durch Adaption von äußeren stilistischen Merkmalen durch ihre offenen Strukturen und losen sozialen Beziehungen relativ einfach integrieren können […]. Der zeitweilige Ausschluss von Jungen ist nicht bewusst inszeniert, sondern entsteht quasi „naturwüchsig durch Praxen der Geschlechterseparation und der alltagstheoretischen Fraglosigkeit der Existenz von zwei unterschiedlichen — weiblichen und männlichen — Sozialräumen: Mädchen „wissen, dass sie im Gegensatz zu Jungen andere Gespräche führen, andere Interessen haben, sich anders geben".

    Allerdings ist diese männliche Peer-Dynamik, was das Verhältnis zu den Mädchen anbelangt, durchaus ambivalent: Die Jungen fühlen sich zu ihnen gleichermaßen hingezogen wie abgestoßen. Die frühkindliche Thematik von Bindung und Ablösung in der Beziehung zur Mutter scheint hier auf neuer Entwicklungsstufe und in einem anderen jugendkulturellen Beziehungsgefüge zum Thema zu werden. Aber nicht nur Frauenabwertung ist in der Gleichaltrigengruppe ambivalent. Die Idealisierung der männlichen Identität mittels Bildung männlicher „Idealtypen geht auch auf Kosten des Vaters, der nun oft nicht mehr der „richtige Mann ist. So kann heute angenommen werden, dass gerade maskulin auftretende Cliquen den Jungen eher ritualisierte NichtBewältigung bieten, als dass sie dort tatsächlich „selbstständiger", im Sinne der Fähigkeit des Rückbezuges auf das eigene Selbst, werden.

    Die ambivalente Haltung zur eigenen Mutter reaktualisiert sich für Jungen in dieser Altersphase auch in der Suche nach Erfahrungen mit Mädchen. Auf der einen Seite werden Mädchen mit ihren inzwischen (ähnlich einseitig) angeeigneten weiblichen Kompetenzen (Zuhören können, etwas erzählen, Konflikte schlichten, für ein angenehmes Klima sorgen) „gebraucht. Sie ziehen deshalb die Jungen stark an. Auf der anderen Seite aber werden sie als „Gegenstück im Sinne der Abwertungsfunktion gesucht: Ihre Fähigkeiten zählen und gelten nichts, werden abqualifiziert. Vor den Gleichaltrigen darf man sich — was die Spannungen erhöht — nicht als dem Mädchen „hörig darstellen, indem man sie nicht abwertet oder Rücksicht auf sie nimmt, weil sonst die männliche Ehre dadurch angekratzt wird, dass man „unterm Pantoffel steht.

    Die raumgreifende Jungenclique ist somit der soziale Ort, wo sich die Muster männlichen Bewältigungsverhaltens biografisch zum ersten Mal voll ausbilden können. Das männliche Prinzip „Außen wird räumlich erlebt, und damit korrespondiert das Prinzip der „Kontrolle, welches sich in den räumlich-territorialen Aneignungs- und Abgrenzungsmustern bzw. -ritualen darstellt. Dem entspricht im Binnenraum der Clique oft eine fast männerbündlerische Verbindung von Gemeinschaft und Konkurrenz. Michael Meuser sieht in diesen „Formen des Wettbewerbs eine „Strukturlogik: „Anerkennung als Mann erwirbt man dadurch, dass man sich dem Wettbewerb mit Geschlechtsgenossen stellt, wenn nötig bis zum „bitteren Ende. Im Durchhalten reift der Jugendliche zum Mann. Darin ähneln die Wettbewerbsspiele unter Peers in der modernen Gesellschaft den Initiationsritualen in Stammeskulturen […]. Zwar verläuft die geschlechtliche Initiation in modernen Gesellschaften weniger institutionalisiert und weniger unter Anleitung erwachsener Männer […], doch folgt auch die von den Peers selbst organisierte Aneignung einer erwachsenen Männlichkeit einer Logik, deren Regeln durch die Struktur dessen, was angeeignet wird, vorgegeben sind.¹⁰

    Wie maskulin das ausfällt, hängt von der Struktur der Gruppe ab, dem inneren Verhältnis von Kollektivität und Individualität. Jugendliche tun in der Gruppe oft Dinge, die sie als Einzelne nicht tun würden. Denn sie sind ja sozial auf die Gleichaltrigengruppe angewiesen, tun es für ihren Gruppenstatus und den Gruppenzusammenhalt, passen sich an, um nicht ausgeschlossen zu werden. In einer kollektiv-autoritär strukturierten Gruppe, in der Individualität zurückgewiesen ist, stehen daher die Mitglieder unter Druck, sich dem Gruppencode anzupassen, ihn zu aktivieren. Die Gruppendynamik schaukelt das weiter auf. Maskulinität als Gruppencode finden wir also vor allem bei kollektiv-autoritär strukturierten Gruppen, in denen sich Jungen und junge Männer finden, die sonst kaum Möglichkeiten haben, soziale und kulturelle Anerkennung (und damit Individualität) zu erlangen. Geschlecht und niedriger sozialer Status spielen hier zusammen. Der maskuline Code wird oft über Schwulenfeindlichkeit aktiviert, wie dies Stefan Wellgraf am Beispiel einer Hauptschule beschreibt: „Männliche Herrschaft muss beständig neu bestätigt und bewacht sowie gegen Lehrerinnen, Schülerinnen und schwächere Mitschüler aggressiv verteidigt werden. Scheinbar „schwules Verhalten von männlichen Jugendlichen mit migrantischer Herkunft wird gerade deswegen so vehement attackiert, weil es die behauptete machtvolle Überlegenheit auf der Seite der männlichen Schüler selbst in Frage stellt. Homophobie dient […] der Betonung und Durchsetzung von männlichen Dominanzansprüchen.¹¹

    Der Blick auf Jungen darf aber nicht gleich männlich fokussiert werden. Jungen sind vor allem auch Jugendliche. Und viele Jungen wollen erst einmal Jugendliche sein. Da spricht es dagegen, sich jetzt schon am gesellschaftlichen Lebensentwurf ’Mann’ zu orientieren. Diesen Tenor finden wir in einer Ende der 1990er Jahre erschienenen Jungenstudie, in der nicht Frauen abwertende und Männlichkeit idolisierende Machos auftreten, sondern sensible Jungen, die Beziehungen suchen, Mädchen akzeptieren, Empathie zeigen. Reinhard Winter und Gunter Neubauer, die Autoren dieser Studie, gaben sich dennoch überrascht: Sie hatten wohl erwartet, dass Abwertung und Idolisierung — so wie im männlichen Sozialisationsmodell beschrieben — bei den von ihnen befragten Jungen offen hervortreten, und wunderten sich, dass für die Jungen Männlichkeit nicht das zentrale Thema war. „Mann sein heißt erwachsen sein und das ist nicht attraktiv."¹² Eine Ausnahme machten aber doch die „ressourcenarmen", also sozial benachteiligten Jugendlichen, deren Einstellungen immer noch von maskuliner Dominanz geprägt waren.

    Die meisten der untersuchten Jugendlichen dieser Studie kamen aber nicht aus diesem Kreis. Für sie stand Maskulinität nicht im Vordergrund. Sie orientierten sich eher an der individuellen Beziehungs- und Persönlichkeitsthematik: „Die vielfach beschworenen und von den Schlüsselpersonen ständig zitierten Eigenschaften traditioneller beziehungsweise reduzierter Männlichkeit wurden von den befragten Jungen und männlichen Jugendlichen auf die Frage nach den Vorstellungen davon, was oder wie ein Mann sein sollte, nur ganz selten benannt. Vielmehr kreisten die Aussagen der Jungen um den Bereich der Persönlichkeitsentwicklung: „Für viele Jungen ist das Mann-Sein und Mannwerden eine sehr selbstverständliche Angelegenheit. Einige verweisen dabei darauf, dass sie das ‚schon herausfinden‘ oder sich erarbeiten, ‚verdienen‘ werden, so dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll wäre, sich darüber groß Gedanken zu machen. Für andere scheint es noch keine Anlässe gegeben zu haben, sich mit dem Thema zu befassen, es ist ihnen noch ‚zu weit weg‘.¹³

    Wenn allerdings in der Studie von gesellschaftlichen Bereichen die Rede ist, die jenseits der Jugendkultur liegen — zum Beispiel die Schule, die Berufsperspektive oder die kommunale Öffentlichkeit — , haben die Jungen auch durchaus männliche Rollenbilder im Kopf: „Überraschend oft wird auch die hohe Bedeutung von Verantwortungsübernahme und Verantwortlichkeit genannt. ‚Ein Mann sollte an die Zukunft denken und an die Familie.‘ […] An manchen Stellen tauchen dabei Erwartungen an die Männlichkeit auf, die mit spezifischen Schwierigkeiten in Verbindung gebracht werden (können). So wird mit Blick auf die Bedrohung zwischen untergehen und ausgeschlossen werden auf das Spannungsverhältnis zwischen ‚Sich-durchsetzen-Können‘ und ‚Sich-Integrieren‘ […] verwiesen. An einigen Stellen wird betont, dass sich Männer im Griff haben müssen, also über ausreichende Selbstkontrolle verfügen sollen — dies allerdings nicht in Bezug auf Übergriffe oder Gewalt, sondern eher als Präsentation in der Öffentlichkeit oder gegenüber Mädchen".¹⁴

    Auch bei diesen Jungen, die aktuell sehr stark durch die Jugendkultur geprägt sind, hat sich also bereits im Vorgriff auf einen männlichen Habitus eine Haltung ausgebildet, die sich auf das Erwachsenwerden bezieht, das ihnen ja bevorsteht. Hier zeigt sich, wie die Zweiseitigkeit der Jugendphase wirkt und was auch die Jugendforschung immer wieder betont: Dass Jugendliche zwar in der Jugendkultur leben, aber immer auch in der Spannung zum Erwachsenwerden stehen. Maskuline Antriebe sind jugendkulturell überformt, Männlichkeitsbilder entsprechend aus der Gegenwart „weggeschoben", aber dennoch wieder antizipiert. Dabei kommt es darauf an, ob die Jungen soziokulturell in der Lage sind, dieses Erwachsenwerden in jugendkultureller Unbefangenheit zu antizipieren, oder ob Bewältigungsprobleme dieser Erwachsenenwelt schon in die Jugendzeit hineinragen. Denn vor allem dort, wo die Schatten der Arbeitswelt auftauchen und sich schon — wie in der Bildungskonkurrenz in der Schule, bei der Suche nach einer Lehrstelle, beim Problem der Übernahme in einen Beruf, bei der Erfahrung von Arbeitslosigkeit in der Familie — andeuten, ahnen die Jungen, was ihnen als Männern einmal blüht. Jugendstudien, welche vor allem diese gesellschaftsbezogenen Segmente der Einstellungen von Jugendlichen ansprechen, haben dies deutlich gezeigt: Viele Jugendliche sind gespalten, sie möchten eigentlich ihre Jugendzeit ausleben, kommen aber nicht so richtig dazu, weil sie immer wieder und schon früh soziale Risiken und — da sie diese nicht kalkulieren können — Gefahren auf sich zukommen sehen. So stehen die Jungen heute mit einem Bein neben und mit dem anderen Bein schon mitten in der Gesellschaft. Deshalb ist auch ihre optimistische Gegenwartsorientierung so stark, denn sie dient dazu, diese Spaltung zu neutralisieren. So können zwar die Schatten der sozialen Risiken immer wieder vertrieben, Bedrohungen aber nicht aufgelöst werden. Setzt sich der Bewältigungsdruck gegenüber der jugendkulturellen Unbefangenheit durch, dann kommen auch wieder maskuline Orientierungen ins Spiel. Dies wird vor allem aus der Praxis der Jugendarbeit berichtet, die es mit jugendlichen Gruppen aus sozial benachteiligten Milieus zu tun hat.

    Das Homosexualitätstabu

    Maskulinzentrierte Cliquen fallen immer wieder durch ihre schwulenfeindliche Symbolkultur auf. Oft hat man das Gefühl, dass sie sich dagegen stemmen, dass alle Männer im Verlauf der Geschlechtssozialisation homoerotische Anteile besitzen und entwickeln. Diese Anteile — die seelisch-körperliche Sehnsucht nach dem Vater in der frühkindlichen Phase, die gemeinsame autoerotische Praxis, z. B. Onanie, zwischen Freunden in den Cliquen — dürfen nicht unterdrückt, sondern müssen gerade ausgelebt werden, auch um in eine heterosexuelle Identitätsbalance kommen zu können, in der man Maskulinität nicht nur über die Abwertung der Frau empfindet. Das Homosexualitätstabu stört und blockiert dieses notwendige Entwicklungssegment, führt dazu, dass Jungen Gefühle und körperliche Nähe untereinander verwehrt werden, dass sie es abspalten müssen, gerade weil sie sich danach sehnen. Insofern bleibt gerade im Jugendalter nicht nur der soziale Druck auf die innere Spannung von homoerotischen Anmutungen und heterosexuellen Vergewisserungen erhalten, sie wird auch durch das somatische Verwirrspiel der Pubertät aufgeladen. Für Jungen selbst ist die Homosexualität immer noch eine heikle Zone der Körperlichkeit. „Schwul ist heutzutage ein gängiges Schimpfwort unter männlichen Jugendlichen, vor allem in Cliquen. Das muss erst einmal nicht heißen, dass die Jungen, die es gebrauchen, Schwule diskriminieren wollen. Das Schimpfwort ist eine Folie: Alles, was die Jungen als blöd, nicht geil oder daneben empfinden, kann mit dem Wort „schwul belegt werden. Sogar Mädchen oder die Schule. Was viele Jugendliche so unbedarft und alltäglich aussprechen, kann aber für schwule Jungs, die sich in der Clique nicht outen können, immer wieder Ängste auslösen. Sie empfinden es als psychische Gewalt.

    „Schwul ist nicht mehr das Stigma, das alte Tabu, das es früher war. Dennoch ist Schwulenfeindlichkeit — nicht nur bei sozial benachteiligten Jungen — nicht verschwunden, sie taucht immer wieder dann auf, wenn die Jugendlichen mit ihrer eigenen Sexualität nicht zurechtkommen. In dem Schimpfwort „schwul ist also beides enthalten: zum einen die Angst davor, nicht als heterosexueller Mann zu funktionieren, gleichzeitig aber auch die Neugier auf verwehrte Sexualität. Hier wirkt wieder der Bewältigungsmechanismus der Abspaltung der eigenen Hilflosigkeit. „Schwul bleibt aber ein Ausdruck für „nicht normal, „nicht männlich, ist als tiefsitzender Abwertungsbegriff resistent, obwohl er gleichsam jugendkulturell auf der Kippe steht: Er wird einerseits unbefangen gebraucht und ist andererseits wieder mit Angst und Unsicherheit besetzt. Die Grundangst vieler männlicher Jugendlicher ist dabei, nicht als „richtiger Mann zu funktionieren. Wie es dann in solchen Jungen aussieht, wird kaum thematisiert. Was die Mehrheit als selbstverständlich betrachtet, ist ihr Drama, ihre Tragik: Homosexuelle Jungen werden von heterosexuellen Eltern erzogen. Das Coming-out wird so zum Scheidepunkt für das weitere Leben. Nirgends ist es so scharf und schmerzlich wie in unserer Gesellschaft. Es gibt auch andere Kulturen — z. B. in Ostasien — , da ist das Coming-out sanfter eingebettet und in den Religionen nicht so ausgegrenzt und stigmatisiert wie in der christlichen Kultur des Abendlandes. Deshalb gilt auch heute noch, trotz aller emanzipatorischen Fortschritte: Schwule Jungen und Männer sind einigermaßen nach außen toleriert, im inneren Mehrheitsempfinden aber immer noch ausgestoßen.

    Schwule Männer sind keine anderen Männer, sie entsprechen nur nicht der heterosexuellen Norm. Nur ihr Begehren ist anders gepolt.¹⁵ Dass dies zum sozialen Ausschluss führen kann, hängt aber nicht mit der Liebe, sondern mit der Norm zusammen. Denn Heterosexualität ist in unserer Gesellschaft mehr als nur eine Form der Liebe. Sie ist ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip, signalisiert Fortpflanzungsfähigkeit und strukturiert Familie — drei Kernprobleme moderner Gesellschaften. Seit diese Prinzipien in der Gesellschaft hochgehalten werden, müssen sich Homosexuelle rechtfertigen, sind entsprechend als „abweichend deklariert worden. Der Pranger ist heute nicht mehr öffentlich, er hat sich in den Alltag, ins Private verschoben: seelische Leiden, psychische Gewalt. Die meisten homosexuellen Jungen spüren ihre sexuelle Orientierung in der Pubertät, zu einer Zeit also, in der alles zusammenkommt, auf sie einstürmt. Push und Pull mit den Eltern, Suche nach der eigenen Männlichkeit, hingezogen zu Jungenfreundschaften und zu Cliquen. Alle Jungen in diesem Alter leben in der Schwebe, ein „richtiger Mann zu werden.

    Dieses Magnetfeld der Pubertät aber ist heterosexuell gepolt. Auch wenn es zwischen Jungen immer

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