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Freie Eltern - freie Kinder: Warum wir auf Vertrauen setzen können
Freie Eltern - freie Kinder: Warum wir auf Vertrauen setzen können
Freie Eltern - freie Kinder: Warum wir auf Vertrauen setzen können
eBook245 Seiten3 Stunden

Freie Eltern - freie Kinder: Warum wir auf Vertrauen setzen können

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Über dieses E-Book

Alle Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind, zudem nehmen allgemeine Leitmotive wie Beschleunigung und Leistung Kinder und Eltern immer stärker in die Pflicht. Die Frage "Tue ich genug für mein Kind?" treibt die Eltern um; daher binden viele ihre Kinder zu sehr an sich, managen sie rundum und engen sie ein, anstatt sie zu freier, selbstbewusster Entfaltung zu begleiten.
Deshalb richtet der Kinder-Psychologe Dr. Stephan Valentin sich kritisch, aber zugleich wertschätzend an Eltern, Großeltern und Pädagogen. Er möchte ihnen helfen, neue Wege in ihrer Erziehung zu finden und zu gehen. Und er ermutigt Eltern und andere Erziehende, auf Vertrauen zu setzen - damit das Kind das Ich finden und reif für sein Leben werden kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberKreuz Verlag
Erscheinungsdatum5. Feb. 2015
ISBN9783451802768
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    Buchvorschau

    Freie Eltern - freie Kinder - Stephan Valentin

    Stephan Valentin

    Freie Eltern – freie Kinder

    Warum wir auf Vertrauen setzen können

    Impressum

    © KREUZ VERLAG

    in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

    Alle Rechte vorbehalten

    www.kreuz-verlag.de

    Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

    E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (Buch) 978-3-451-61317-3

    ISBN (E-Book) 978-3-451-80276-8

    Inhalt

    Vorwort

    IWer ist Ihr Kind?

    Ihr Kind ist einmalig

    Ihr Kind ist, was man ihm gibt

    Ihr Kind ist, was es will

    Ihr Kind ist, was es sich zu werden vorstellen kann

    Ihr Kind ist, was ihm überliefert wird

    Ihr Kind ist, wer es ist

    Ein bisschen unabhängig gibt es nicht

    II Der Rahmen für Erziehung

    Prägende Erziehungsstile

    Allgemeine und eigene Werte weitergeben

    Wunschkind nach Maß

    Kultur als Ratgeber

    III Die Stellung des Kindes und seiner Eltern

    Eltern machen »große« Kinder

    Der Platz des Vaters

    Gute Eltern lieben alle ihre Kinder gleich. Oder?

    Single-Eltern: Alles selber machen?

    Verloren zwischen zwei Fronten

    IV Von Supermamas und Superpapas

    Eltern unter Erfolgszwang

    Wenn Eltern ihr Kind managen

    Das Nein des Kindes auf dem Weg zur Autonomie

    Vorbilder und Ideale

    Das Kind als Hoffnungsträger

    VFrei sein

    Die richtige Distanz finden – immer wieder

    Grenzen ausloten – immer wieder

    »Du wirst dir wehtun«

    Schafft mein Kind das?

    Nabelschnur Handy

    Glücklich mit Oma und Opa

    Freiräume für die ganze Familie

    Reif für das eigene Leben

    Nachwort

    Anmerkungen

    Literatur

    Vorwort

    Eltern sein, das ist wie Seiltanzen. Ständig muss man wie auf einem gespannten Seil laufen und mithilfe einer Balancierstange das Gleichgewicht halten, um nicht auf der einen oder der anderen Seite herunterzufallen. Eltern sein, das bedeutet auch, unterstützt zu werden. Von den Großeltern, Verwandten, ErzieherInnen, Lehrkräften, Freunden, um gemeinsam das Kind auf seinem Weg zu begleiten. Eltern sein, das heißt für sein Kind da zu sein und ihm ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, das ihm ermöglicht, die Welt zu entdecken. Eltern sein verlangt auch, zu wissen, wann man die Hand seines Kindes loslässt, damit es Fortschritte machen kann. Ja, Eltern sein ist immer auch ein Balanceakt zwischen Präsenz und Abwesenheit, zwischen elterlicher Präsenz, die dem Kind das Gefühl von innerer Sicherheit verleiht, und elterlicher Abwesenheit, die es wachsen lässt.

    In einer Zeit, in der in vielen Lebensbereichen ein gewisses Maß an hilfreicher Stabilität und Kontinuität immer seltener wird, scheint für Eltern der Seiltanz der Erziehung allerdings zunehmend zu einem Hochseilakt zu mutieren. Die Befürchtungen, vielleicht nicht die richtigen Entscheidungen für das Wohl des Kindes zu treffen, engen viele Eltern in ihrem Handeln ein. Ein Großteil der Eltern fühlt sich zudem in dieser Hinsicht von der Gesellschaft allein gelassen, die eigentlich eine Art Sicherheitsnetz für Familien bieten könnte.

    Die Tendenz, dass die Freiräume des Kindes und auch die seiner Eltern Zukunftsängsten zum Opfer fallen und verschwinden, nimmt immer mehr zu.

    Deshalb möchte ich mit diesem Buch Eltern in ihrer Rolle als Erzieher unterstützen. Ich werde Wege aufzeigen, die Eltern und ihre Kinder in ihrer Beziehung zueinander stärken. Das gegenseitige Vertrauen in der Familie ist dabei der Ausgangspunkt der Erziehung. Einer Erziehung, die Kindern die Freiräume lässt, die notwendig für das lebenslange und selbstständige Sammeln eigener Erfahrungen sind. Einer Erziehungshaltung, die auch die Eltern nicht einengt bis zur Selbstaufgabe. Einer Erziehung, die dem Kind den Rückhalt und die Sicherheit gibt, reif zu werden für das eigene Leben.

    Wir können auf Vertrauen setzen in der Erziehung, davon bin ich überzeugt. Wie diese Haltung Eltern und Kindern eine grundlegende Hilfe sein kann, werde ich in fünf Abschnitten aufzeigen: Im ersten Kapitel skizziere ich die wesentlichen Phasen, in denen ein Kind seine Persönlichkeit entwickelt: Es beantwortet die Fragen: »Wer ist Ihr Kind?« beziehungsweise »Wie wird es, wer es ist?« Anschließend gehe ich auf den allgemeinen, den größeren Rahmen ein, in dem die Erziehung stattfindet. Denn diese Einflüsse, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind, wirken unmittelbar in die Erziehung hinein. Im dritten Kapitel geht es um die für das Kind zentralen Beziehungen, die zu seinen Eltern – und umgekehrt um die Stellung der Eltern zu ihrem Kind. Danach werden im vierten Kapitel Supermamas und Superpapas betrachtet, denn an sich ist es der natürliche Wunsch aller Eltern, ihre Aufgabe wirklich gut, sehr gut zu bewältigen. Dabei – oft gerade dann, wenn man es besonders gut machen will – tun sich Fallen auf, durch die das angestrebte Gute ins Gegenteil verkehrt werden kann. Schließlich, im fünften Kapitel werde ich wesentliche Aspekte und Wege darstellen, wie »Frei sein« gelingen kann – für die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit und für die Kinder in ihrem Wachsen und Reifen.

    Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, aus der Lektüre Impulse mitnehmen, die Ihnen helfen, auf Vertrauen zu setzen und Freiräume für Ihr Kind und auch für sich zu wahren und vielleicht auszubauen, dann erfüllt sich das Anliegen, das ich mit diesem Buch habe. Ich freue mich, wenn Sie es mich wissen lassen; Anregungen und Kritik sind mir ebenfalls willkommen. Nutzen Sie dafür bitte meine Website: www.stephan-valentin.com

    Haben Sie eine gute Lektüre.

    Stephan Valentin

    Wer ist Ihr Kind?

    Für Eltern ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, wo ihr Kind in seiner Entwicklung steht und was für es zu welcher Zeit wichtig ist. In jedem der sechs großen Entwicklungsstadien richtet sich das Kind auf einen besonderen Aspekt aus. Der folgende Überblick zeigt, worin Eltern ihr Kind in diesen Schritten unterstützen können.

    Ihr Kind ist einmalig

    Jedes Kind ist einmalig – und das nicht nur in den stolzen Augen seiner Eltern. Sein Wesen, seine Eigenschaften und Fähigkeiten machen es zu einer einzigartigen Persönlichkeit, die unverwechselbar ist. Diese Einmaligkeit wird durch die Erbanlagen definiert, mit denen es auf die Welt kommt, und ganz besonders durch postnatale Einflüsse, wie zum Beispiel die Eltern-Kind Beziehung.

    Aber auch schon während der Schwangerschaft entwickelt sich jedes Kind durch das Zusammenspiel vieler Faktoren zu einem einmaligen Wesen. Wie verläuft die Schwangerschaft? Hat die Mutter einen gesunden Lebensstil? Welchen Stimulationen wird das Kind im Bauch der Mutter ausgesetzt? Es befindet sich nicht in einem Vakuum. Es begleitet seine Mutter und erlebt in gewisser Hinsicht mit, wie sie ihre Tage verbringt. So strampelt der werdende kleine Mensch ab der zwölften Schwangerschaftswoche mit, wenn Mama sich regelmäßig bewegt und Sport treibt. Wenn Mama zu Tisch ist, isst ihr Ungeborenes sozusagen mit. Durch eine ausgewogene Ernährung kann sie ihm eine ganze Palette verschiedener Geschmacksrichtungen anbieten, die nach der Geburt eine Basis für seine eigenen Präferenzen darstellen können. In einem Experiment aßen zum Beispiel Mütter zum Ende der Schwangerschaft sechs Wochen lang täglich einige Anisbonbons. Nach der Geburt reagierten die Babys positiv auf diesen Geschmack. Durch die Bauchwand nimmt das Ungeborene ab dem sechsten Monat Stimmen wahr; kommunizieren die Eltern mit ihm, indem sie mit ihm sprechen oder etwas vorsingen, beginnt es sehr früh zu spüren, dass es nicht allein auf der Welt ist. Mamas Bauch liebevoll berühren oder streicheln dient ebenfalls der Kontaktaufnahme. Das Ungeborene kann zum Beispiel auf einen leichten Druck auf den Bauch mit Bewegungen reagieren. Etwas, was zu einem Spiel werden kann. Legt man seine Hand an eine bestimmte Stelle auf den Bauch, wird das Ungeborene mit einem kleinen Tritt von innen darauf reagieren. Gerade dieses gegenseitige Sich-Wahrnehmen führt zu emotionsreichen Momenten.

    Werdende Eltern kommunizieren also nicht erst nach der Geburt mit ihrem Baby. Das Mutter-Vater-Kind-Trio formt sich bereits Monate zuvor und baut langsam eine Bindung auf. Durch das Vermitteln ihrer positiven Emotionen, insbesondere durch die Stimme und durch die Reaktionen des Ungeborenen auf die Signale seiner Eltern, kann schon während der Schwangerschaft der Grundstein für das gegenseitige Vertrauen in der Eltern-Kind-Beziehung gelegt werden. Die vorgeburtlichen Erfahrungen des Kindes werden Teil seiner individuellen Entwicklung sein, die es so einmalig macht. Und dabei ist es von Anfang an nicht allein.

    Das Leben und der Kontakt mit anderen Individuen nehmen, durch den Einfluss, den diese täglich aufeinander ausüben, einen großen Platz in der Individualität eines Menschen ein. Wir alle sind Teil von Gemeinschaften, im kleineren Sinne (Mitglied der Familie) wie im größeren (zum Beispiel als Teil eines Volks). Schon der Philosoph Aristoteles bezeichnete uns als ein soziales Wesen, das Gemeinschaften aufbaut und von ihnen geprägt wird. Menschen brauchen das Leben in der Gemeinschaft. Sie ist Teil unseres Daseins. Und es gibt sehr viele unterschiedliche Wege, Gemeinschaften zu erleben und auszuleben: Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Glaubensgemeinschaften, Vereinsmitglieder oder eine Nation … Von Anfang an sind wir auf den Anderen angewiesen. Jedes Kind, das in unsere Welt hineingeboren wird, steht zum Beispiel vom ersten Atemzug an vor einer großen Herausforderung. Es muss ihm gelingen, so klein und hilflos es noch ist, seine Eltern, insbesondere seine Mutter oder die Person, die es ernähren und liebevoll umsorgen wird, an sich zu binden, damit sein körperliches und emotionales Überleben gesichert ist. Sein angeborenes Bindungsverhalten hilft ihm dabei. Durch Weinen und Klammern gelingt es dem Säugling zum Beispiel, seine Mutter beziehungsweise seine Bezugsperson zu rufen und sie bei sich zu behalten. Babys lieben und brauchen die Nähe ihrer Eltern und suchen besonders den Körperkontakt zu ihnen. Sogar das Babylächeln schafft Nähe zu Mama, denn es aktiviert in ihrem Gehirn das Belohnungszentrum, ähnlich wie eine Droge. Kein Wunder, wenn nach einer schlaflosen Nacht alles mit einem Babylächeln vergessen ist! Und was macht man, wenn ein Baby so süß lächelt? Man bleibt bei ihm, nimmt es vielleicht auf den Arm und will es weiter zum Lächeln bringen. Babys erkennen schnell, dass ihr Lächeln Kontakt schafft und aufrechterhält. Forscher gehen übrigens davon aus, dass emotionale Gesichtsausdrücke eine genetische Ursache haben. Freude durch ein soziales Lächeln (Widerlächeln) zu zeigen gehöre dazu.

    Immer wieder wird das Baby erleben, dass es Fähigkeiten besitzt und nach und nach neue erlangen wird, um mit seinen Mitmenschen in Interaktion zu treten und eine Beziehung beziehungsweise eine Bindung aufzubauen und zu festigen. Emotionen sind in dieser Hinsicht ein wichtiger Baustein in der zwischenmenschlichen Beziehung. Wie Emotionen Beziehungen festigen können, dafür ist besonders die Gemeinschaft »Familie« mitverantwortlich. Hier wird das Baby seine ersten sozialen Erfahrungen machen und in der Eltern-Kind-Beziehung sowie durch die elterliche Erziehung lernen, welche Auswirkungen Emotionen auf den Mitmenschen, aber auch auf es selbst haben können. Mit seinen eigenen Emotionen umgehen zu können ermöglicht, in Harmonie mit seinen Mitmenschen zu leben. Und das ist nicht immer so einfach, denn Einmaligkeit kann anstrengend sein, wenn sie außer Rand und Band gerät. Kinder stellen das selbst schnell fest, wenn sie auf andere Kinder treffen, die genauso einmalig sind wie sie und glauben, nur ihre eigenen Emotionen und Bedürfnisse hätten Vorrang.

    »Ich bin einmalig« ist allerdings kein Freibrief für »Ich kann machen, was ich will«. Damit alle miteinander auskommen, ist es unabdingbar, sich anpassen zu können. Individuen, so einzig und unterschiedlich sie sind, benötigen eine gemeinsame Basis an sozialen Kompetenzen und Werten, die ein harmonisches Zusammenleben in der Gemeinschaft möglich machen. Als einmaliges Individuum sind wir nun mal auch Träger von Verantwortungen, Pflichten und Rechten. Nicht umsonst heißt es im Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt …«¹. Erst im gegenseitigen Respekt kann sich Einmaligkeit positiv entfalten und dennoch nicht als Grenze fungieren, die uns Individuen voneinander trennt.

    Doch auch wenn Gemeinschaft eine wichtige Funktion hat, so muss gewährleistet sein, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, sich zu einem eigenständigen Individuum mit seiner ihm eigenen Persönlichkeit zu entwickeln. Die Gemeinschaft sollte daher nicht das Kind verdecken, sondern versuchen, es mit seinen individuellen Fähigkeiten hervorzuheben, die wiederum die Gemeinschaft positiv bereichern können. Sie sollte aber auch nicht versuchen mit allen Mitteln eine »künstliche« Einmaligkeit zu schaffen und das Kind zu einer Einmaligkeit zu drängen, die nicht seinem Wesen entspricht und es im Grunde überfordert. Wird dieses Anliegen aber in der Realität respektiert?

    In der gegenwärtigen leistungsorientierten Gesellschaft versuchen zahlreiche Eltern immer früher, ihr Kind zu fördern, um es genau auf diesen Leistungsdruck vorzubereiten. Kein Wunder, wenn manche Kleinkinder keine Zeit mehr zum Spielen haben und sagen: »Ich bin beschäftigt!« Das aktuelle Leitmotiv der Kindererziehung scheint häufig »Fördern und fordern« zu sein. Dabei laufen Eltern Gefahr, ihr Kind zu einem Produkt zu machen. Die natürliche Einmaligkeit eines jeden Menschen wird in diesem Zusammenhang zunehmend unter Druck gesetzt, fortwährend Außerordentliches zu leisten. Die Einmaligkeit soll in Form einer großen Leistung, sei es im Sport, in den Sprachen oder in einer der Künste, nach außen hin sichtbar gemacht werden. Während diese Art »Einmaligkeitstraining« des Kindes beruhigend auf seine Eltern wirken kann, setzt sie das Kind unter einen enormen Druck: Es meint, erst durch eine über dem Durchschnitt liegende Leistung in den Augen der Eltern und der Gesellschaft existieren zu können. Das Kind hat nicht mehr die Möglichkeit, seine Einmaligkeit selbst im Laufe seiner Entwicklung zu entdecken. Sie wird ihm von klein auf anerzogen. Manche Volkshochschulen berichten mittlerweile, dass Eltern sogar schon Chinesischkurse für ihre Zweijährigen verlangen und empört reagieren, wenn ihrer Anfrage nicht nachgegeben wird. Viele Babys haben einen vollgepackten Tagesablauf in dem von Babymassage bis Lern-DVD oftmals nichts ausgelassen wird, um es auf sein späteres Leben vorzubereiten. Dabei wird nicht immer auf die reale Veranlagung beim Kind geachtet, sondern ein Ziel angestrebt, für das sich meistens die Eltern entschieden haben – lange bevor das Kind selbst in der Lage wäre, Entscheidungen zu treffen oder seine Talente zu erkennen. Wird aber auf diese Weise die Individualität eines Kindes respektiert? Kann es sich so frei entfalten? Handelt es sich nicht eher um das Umsetzen eines Wunschbildes, das den Eltern hauptsächlich von der Gesellschaft suggeriert wird. »In Zürich bekommen 60 % – mehr als die Hälfte! – der Grundschulkinder eine Therapie, obwohl sie gesund sind. Es fehlt ihnen nichts, nur Eltern und Lehrer wollen sie anders haben«², stellt Remo Largo, der renommierte Professor für Kinderheilkunde, fest. Daran erkennt man, welche Anforderungen auf den Schultern vieler Kinder lasten und welche verheerenden Signale von der Gesellschaft gesendet werden.

    In den letzten Jahren wurde zudem deutlich, dass es manchen Eltern schon von Anfang an, schon vor der Zeugung nicht reicht, wenn das Kind so geboren wird, wie es eben ist. Mediziner berichten von Eltern, die sich für eine Gen-Manipulation interessieren, um spezielle Wünsche wie das Aussehen ihres Kindes genau im Voraus zu planen. Bis jetzt wurden diese Bitten abgelehnt, aber US-Samenbanken berichten von einer erhöhten elterlichen Nachfrage nach intelligenten Nachkommen. Schon im Jahre 1979 hat Robert Klark Grahams Spermabank »Repository for Germinal Choice« bei San Diego damit angefangen, unter anderem Samenspenden von Nobelpreisträgern zu speichern, um die Zeugung von scharfsinnigen Kindern voranzutreiben. Innerhalb von zwei Jahrzehnten, bis 1999 die umstrittene Spermabank geschlossen wurde, sollen 215 »Superbabys« gezeugt worden sein. Allerdings ohne die Spenden der drei Nobelpreisträger, da sie zu alt waren und deren Sperma nicht besonders fruchtbar war. Von den Superbabys hat man bisher nichts mehr gehört. Vielleicht auch, weil die Eltern sie schützen möchten.

    Wenn auch bisher nur wenige Eltern solche extremen Wege gehen, ist doch eins sicher: Viele Eltern stehen wie ihre Kinder unter einem enormen gesellschaftlichen Druck. Es wird ihnen vermittelt, dass wünschenswert ist, einer von der Gesellschaft anerkannten Norm zu entsprechen. Manche Eltern greifen zu allen möglichen Mitteln, um den Anforderungen zu entsprechen. Wohl wissend, wer nicht in dieses gesellschaftliche Raster reinpasst, fällt durch. Von wem aber werden diese Kinder dann aufgefangen?

    Alle Kinder sind extrem unterschiedlich. Doch alle haben sie wohl etwas gemein – das Streben nach Individualität: »Ich möchte so sein, wie ich bin!« Gerade das macht sie einmalig, macht sie zu einem Individuum. »Du darfst so sein, wie du bist.« – Das ist die Basis für ein gesundes Selbstvertrauen und eine positive Selbstwahrnehmung. Das Kind begreift, dass es eigene Gedanken und Erinnerungen hat und haben darf. Wie jedes Kinder aber Individualität spürt und ausleben darf, das hängt besonders von zwei Menschen ab – von Mama und Papa. Eltern, die die

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