Das kinderfressende System: Wie ganze Generationen von ihrem Potential abgeschnitten werden und wie einfach es ist, etwas dagegen zu tun!
Von Simon Below
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Über dieses E-Book
Durch eine gelungene Mischung aus wissenschaftlichen Fakten, beruflichen und privaten Erfahrungen, Gesellschafts- und Systemkritik und viel Herz für unsere Kinder führt Simon Below uns in die innere Auseinandersetzung über die wirkliche Bedeutung unseres Daseins. Mit dem vorliegenden Buch "Das kinderfressende System" hat er sich ein hohes Ziel gesetzt. Er regt uns zum Umdenken an, bevor das System auf Kosten unserer Kinder und deren Kinder kollabiert. Er sagt uns nicht, was wir tun sollen, sondern legt uns nahe, nachzudenken, uns zu besinnen auf das, was Kindheit, Aufwachsen und Leben für uns ausmacht und was wir schließlich an unsere Kinder weitergeben. Er plädiert dafür, einzulenken, neu zu denken, eine Veränderung zu schaffen: eine Veränderung, die unsere Kinder und die nachfolgenden Generationen dringend brauchen, um gesund aufwachsen zu können.
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Buchvorschau
Das kinderfressende System - Simon Below
Kapitel 1 – Kernkompetenzen des Menschen
Eine der Schlüsselfragen unserer modernen Gesellschaft lautet: Was müssen wir unseren Kindern mit an die Hand geben, um sie als für die Zukunft gerüstet betrachten zu können? Welche Fähigkeiten sind dies? Reichen die klassischen Schulfächer dafür wirklich aus?
Oft wird die menschliche Entwicklung am Bildungsbegriff festgemacht, daher soll im Folgenden zunächst beleuchtet werden, wie Bildung definiert wird und was diese mit dem Menschen anstellen soll.
„Der wahre Zweck des Menschen ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen². Dies ist die klassische Sichtweise auf Bildung, die sich während der Aufklärung in Deutschland herausgebildet hat. Demnach ist ein zentraler Punkt von Bildung die Entfaltung aller Möglichkeiten eines Individuums, und zwar harmonisch in allen Bereichen, nicht nur die kognitiven Möglichkeiten betreffend, sondern im „Zusammenhang von Kopf, Herz und Hand
³. Darin ist demnach auch die Entwicklung emotionaler und motorischer Fähigkeiten eingeschlossen. Ein Vertreter der gegenwärtigen Sozialwissenschaft, Günter J. Friesenhahn, sieht (2014) „Bildung als Zusammenspiel von unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten, z.B. auf kognitiver, sozial-emotionaler und handwerklich gestalterischer Ebene"⁴. Bildung umfasst demnach kognitive Kompetenzen, also Kulturtechniken, die es dem Individuum ermöglichen, sich den Wissensbestand einer Gesellschaft zu eigen zu machen; soziale Kompetenzen, die es dem Einzelnen ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben und der Gestaltung der Gesellschaft teilzunehmen und innerhalb der Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen; emotionale Kompetenzen, die es dem Menschen erlauben, mit sich und seinen Emotionen und Gedanken umzugehen sowie praktische Kompetenzen, mit deren Hilfe der Mensch sich mit der stofflichen Welt auseinandersetzen kann⁵. Bildung bezieht sich demnach auf Fähigkeiten, die es in jedem Individuum zu fördern gilt, sie beschreibt einen Prozess, der in jedem Menschen selbst entstehen muss. Menschen sind hier Subjekt, Menschen können nicht gebildet werden, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten müssen sie selbst ausbilden, und an diesem Anspruch an Bildung muss sich das Bildungswesen orientieren⁶. Das Wiedergeben auswendig gelernter Inhalte beispielsweise wird dem grundlegenden Verständnis von Bildung nicht gerecht. Deutlich wird dies auch in Definitionsversuchen aus den 50er-Jahren. So schrieb Theodor Litt, Bildung ist „diejenige Verfassung des Menschen, die ihn in den Stand setzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung zu bringen⁷. Und Erich Weniger ergänzte, Bildung ist „der Zustand, in dem man Verantwortung übernehmen und zugleich dort, wo man sich sachverständig weiß, Vertrauen schenken kann
⁸. Beide Ansätze beziehen sich auf Fähigkeiten des Menschen, welche jeder Mensch aus sich selbst heraus entwickeln muss, und gehen in keiner Weise auf schulisch erworbenes Wissen ein. Auch im Rahmen der Kultusministerversammlung 1973 wurde eine Reihe von Zielen formuliert, und nur noch selten umformuliert, die die Befähigung zu einem selbstständigen Leben in den Vordergrund stellen. Diese Ziele fungierten als ein Auftrag an die Schulen, also an die Instanzen, die Bildung allgemein zugänglich machen sollen.
„Die Schule soll:
• Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln,
• zu selbstständigem, kritischem Urteil, eigenverantwortlichem Handeln und schöpferischer Tätigkeit befähigen,
• zur Freiheit und Demokratie erziehen,
• zu Toleranz, Achtung vor der Würde des anderen Menschen und Respekt vor anderen Überzeugungen erziehen,
• friedliche Gesinnung im Geist der Völkerverständigung wecken,
• ethische Normen sowie kulturelle und religiöse Normen verständlich machen,
• die Bereitschaft zu sozialem Handeln und zu politischer Verantwortung wecken,
• zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten in der Gesellschaft befähigen,
• über die Bedingungen der Arbeitswelt orientieren"⁹.
Der Begriff „Erziehung" ist hier als Bildungsauftrag zu verstehen; es könnte auch davon gesprochen werden, dass die Schule die Ausbildung dieser Fähigkeiten ermöglichen sollte.
Im elften Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren Frauen und Jugend aus dem Jahre 2002 ist folgender Auftrag an das Bildungswesen formuliert: Bildung „muss vielmehr zur Aneignung reflexiver und sozialer Kompetenzen beitragen, die es ermöglichen, wohlbegründet, verantwortlich zu handeln"¹⁰.
Das Verständnis von Bildung, sowohl zur Zeit der Aufklärung wie auch heute, beinhaltet „die Bemühungen,,das Zusammenleben der Menschen zu verfeinern‘ und,sich den Anforderungen der Zeit in einem positiven Sinn anzupassen‘"¹¹.
Bildung gibt die Grundlagen, um Kompetenzen auszubilden, die Menschen dazu befähigen, mit sich selbst, der Gesellschaft, in der sie leben und Kulturtechniken wie Sprache, Lesen, Rechnen etc. zurechtzukommen.
Der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig hat folgende Charaktereigenschaften bzw. Fähigkeiten für gebildete Menschen dargelegt:
• „Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit
• Die Wahrnehmung von Glück
• Der Wille und die Fähigkeit sich zu verständigen
• Ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz
• Wachheit für letzte oder unentscheidbare Fragen
• Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica [der Republik, der Bürgerschaft, Anm. d. Verf.]"¹²
Aus den obigen Ausführung zur Bildung können Fähigkeiten herausgestellt werden, die Grundkomponenten zur Aneignung von Bildung darstellen. Auch Resilienz (Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse) fördernde Faktoren wie Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, Soziale Kompetenz, Umgang mit Stress und Problemlösefähigkeiten spielen hier eine Rolle.
Bax erstellte eine „Liste von Zielen, die als eine Orientierung für die Gestaltung von Bildungsmaßnahmen dienen kann […]:
• Fähigkeiten der Lebens- und Alltagsbewältigung
• Verantwortungsbewusstsein, Kompromiss- und Friedensfähigkeit
• Kreativität und Selbstbeherrschung"¹³.
Für einen Menschen, der in der Lage ist, sein Leben selbst zu bewältigen und zu gestalten – der also fähig ist, Selbstständigkeit zu erreichen – werden Schwierigkeiten im Lebensalltag überwindbar. Er erlebt dadurch ein höheres Maß an Freiheit, wirkliche Freiheit (nach Hayek: Zustand, in dem ein Mensch nicht dem willkürlichen Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer unterworfen ist), wie sie bereits zu Reformzeiten als Grundvoraussetzung für Bildung angesehen wurde. Maria Montessori führte in ihrer Konzeption aus: „Niemand kann frei sein, wenn er nicht unabhängig ist. Das Kind muß durch seine Betätigung zur Selbständigkeit gelangen. Bis das Kind drei Jahre alt geworden ist, sollte es sich in großem Maße frei und unabhängig haben machen können¹⁴. Freiheit bedeutet hier, dass ein Kind seine Bedürfnisse ausdrücken kann und zum Großteil selbst in der Lage ist, seine Bedürfnisse zu erfüllen, d.h. es ist in der Lage zu wissen, was es gerne essen möchte, aber nicht den Kühlschrank zu füllen. Das Erkennen der eigenen Wirksamkeit, die Wahrnehmung des eigenen Selbst und der eigenen Individualität sind demzufolge ein wichtiger Schritt, die Selbstständigkeit zu erfahren. Wird diese Selbstständigkeit mit Vernunft in Handlung gebracht, geschieht Bildung, denn „durch selbsttätige, vernunftgeleitete Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt werden Bildungsprozesse in Gang gesetzt
¹⁵.
Diese Betrachtungen von Bildung und des Bildungsbegriffes zeigen deutlich, dass eine Diskussion über Fähigkeiten geführt werden muss und nicht eine Diskussion über einzelne Bildungsinhalte. Die moderne Forschung geht der Frage nach, welche Fähigkeiten dies sind. Eine Strömung innerhalb dieser Diskussion geht davon aus, dass es bestimmte Werte und Verhaltensweisen gibt, die eindeutig mit nachhaltiger (erhaltender und nicht zerstörerischer) Entwicklung verbunden sind und die durch Experten identifiziert werden können. Dementsprechend müsste das Ziel nachhaltiger Entwicklung sein, ein Bewusstsein für Zusammenhänge zu schaffen und die entsprechenden Werte zu vermitteln.
Einer zweiten Strömung liegt ein ganzheitlicherer Ansatz zu Grunde. Dieser beinhaltet, bei Menschen die Fähigkeit zu fördern, selbst über ihre Entwicklung nachzudenken (oder vielleicht besser vorauszudenken?) und Antworten zu bewerten. Hier ist die eigene menschliche Entwicklung also eher ein gesellschaftlicher Lernprozess, bei dem eben nicht einzelne Experten vorgeben können, was die passende Antwort auf die Frage nach nachhaltiger Entwicklung ist; es geht um die Frage, welche Schlüsselkompetenzen unsere Kinder erlernen sollten, um die in der Zukunft auftretenden Probleme meistern zu können, denn die Antworten von heute zählen dann nicht mehr¹⁶. Einigkeit, um welche Kompetenzen es sich hier handelt, herrscht kaum, in Deutschland wird jedoch häufig auf das Konzept der Gestaltungskompetenz Bezug genommen: „Gestaltungskompetenz bezeichnet die Fähigkeit, Probleme nicht nachhaltiger Entwicklungen erkennen und Wissen über nachhaltige Entwicklung wirksam anwenden zu können¹⁷. Die Gestaltungskompetenz wird dabei in mehrere Teilkompetenzen aufgegliedert: „Kompetenz zur Perspektivübernahme, Kompetenz zur Antizipation, Kompetenz zur Disziplinen übergreifenden Erkenntnisgewinnung, Kompetenz zum Umgang mit unvollständigen und überkomplexen Informationen, Kompetenz zur Kooperation, Kompetenz zur Bewältigung individueller Entscheidungsdilemmata, Kompetenz zur Partizipation, Kompetenz zur Motivation, Kompetenz zur Reflexion auf Leitbilder, Kompetenz zum moralischen Handeln, Kompetenz zum eigenständigen Handeln, Kompetenz zur Unterstützung anderer
¹⁸.
Länderübergreifend werden die Kompetenz zum vernetzten Denken und Umgang mit Komplexität und das vorausschauende und kritische Denken als Schlüsselkompetenzen genannt, die „Individuen für das Verstehen zentraler Probleme der Weltgesellschaft und deren nachhaltigen Gestaltung benötigen¹⁹. Für die Bildung von morgen, welche heute begonnen werden muss, ist demnach die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen von Nöten, die „zu einer aktiven Gestaltung des Prozesses einer nachhaltigen Entwicklung befähigen
²⁰. Dies führt zurück zu der Frage, ob diese Eigenschaften und Fähigkeiten tagtäglich tatsächlich gefördert werden, egal ob im Bildungssystem oder im Elternhaus. Doch soll zunächst einmal aus den vorangegangenen Darstellungen zusammengefasst und gruppiert werden, um welche Fähigkeiten es sich handelt, die eine menschliche Existenz ausmachen – oder besser, welche Fähigkeiten es einem Kind ermöglichen, sich zu einem Erwachsenen zu entwickeln, der in der Lage ist, sich zu erkennen, sein Leben zu gestalten und damit seines Glückes eigener Schmied zu werden.
Bindungsrelevante Eigenschaften (siehe Kapitel 2 und 3)
• Der Wille und die Fähigkeit, sich zu verständigen
• Kompetenz zum eigenständigen Handeln
• Kompetenz zur Motivation
• Kompetenz zur Partizipation
• Kompetenz zur Kooperation
Eigenschaften, die eine Ethik voraussetzen (siehe Kapitel 4)
• Verantwortungsbewusstsein, Kompromiss- und Friedensfähigkeit
• Kompetenz zur Bewältigung individueller Entscheidungsdilemmata
• Kompetenz zum moralischen Handeln
• Kompetenz zur Unterstützung anderer
• Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit
Eigenschaften, die Kreativität voraussetzen (siehe Kapitel 5)
• Kreativität
• Kompetenz zum Umgang mit unvollständigen und überkomplexen Informationen
• kritisches Denken
Eigenschaften, die Emotionsregulierung voraussetzen (siehe Kapitel 6)
• Kompetenz zur Perspektivübernahme
• Selbstbeherrschung
• Kompetenz zur Antizipation
• Kompetenz zur Reflexion auf Leitbilder
• Kompetenz zur Unterstützung anderer
• Die Wahrnehmung von Glück
Eigenschaften, die eine gesunde Psyche erfordern (siehe Kapitel 8)
• Selbstverantwortung und Verantwortung in der Gesellschaft
• Kompetenz zur Disziplinen übergreifenden Erkenntnisgewinnung
• Kompetenz zum Umgang mit unvollständigen und überkomplexen Informationen
• Fähigkeiten der Lebens- und Alltagsbewältigung
• Ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz
Am Beispiel der Fähigkeit zu kritischem Denken soll aufgezeigt werden, wie es geschehen kann, dass eine so grundlegende Eigenschaft verschwinden kann:
In seinem Buch „the intuitiv parent" beschreibt Stephen Camarata eine Studie von Richard Arum und Josipa Roksa. In dieser Studie, durchgeführt an 2400 Studenten an 24 verschiedenen Universitäten über einen Zeitraum von einem Jahr, wurde offenbar, dass kritisches Denken praktisch aus dem Alltag der Studenten verschwunden war, verglichen mit Generationen vor ihnen²¹ (man denke nur an die studentischen Bewegungen der 60er Jahre). Camarata erklärt dies u.a. durch die Folgen der Versuche an Kindern mit Bildungs-DVDs, wie sie speziell durch Disney vertrieben wurden (Baby Genius etc.). Diese DVDs sollten einen Vorteil bieten, also Kindern einen Vorsprung gegenüber anderen verschaffen. Das Ergebnis war nun der Verlust einer grundlegenden menschlichen Eigenschaft, nämlich der Fähigkeit, kritisch zu denken, da Kinder nicht mehr im Umgang mit be-greifbaren Dingen, mit Lebendigem und mit Menschen geschult wurden, sondern im Umgang mit einem DVD-Player und den vorgefertigten Inhalten, die am Bildschirm sichtbar wurden, die keine Antwort geben können, nicht widersprechen und keine Kritik üben, die also nicht mit den Menschen in eine wechselseitige Interaktion treten (können). Die Studenten der Studie zeigten, dass sie zwar lernfähig waren, aber unfähig waren, sich mit den ihnen vorgelegten Inhalten kritisch auseinanderzustetzen. Für die Jura Professoren war dies besonders kritisch, da ihre Studenten zwar Gesetzte wiedergeben konnten, aber den Inhalt der gleichen nicht mehr kritisch