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Alles geht!: Durch die Wand laufen, in der Luft schweben und andere Kunststücke
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eBook592 Seiten8 Stunden

Alles geht!: Durch die Wand laufen, in der Luft schweben und andere Kunststücke

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Über dieses E-Book

Naturgesetze scheinen festzulegen, was Menschen tun dürfen. Nicht erlaubt scheint beispielsweise, in der Luft zu schweben, auf dem Wasser zu stehen oder durch Wände zu laufen. Richtig? Nein, falsch. Verstöße gegen Naturgesetze sind unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ein kurzes Vorwort erklärt dies mit einem einfachen Argument von Albert Einstein.

Dann folgt eine Geschichte, die unmöglich scheint und dennoch vor unseren Augen geschehen könnte: Paul, Paketbote mit abgebrochenem Physikstudium, stolpert in Rüdesheim am Rhein und bemerkt, dass er auf dem Wasser gehen kann. In der nahegelegenen Burg Reichenstein sucht er gemeinsam mit Physikprofessor Tom nach Erklärungen. Bald erweist sich die Erde als ein unbekannter Planet voller Merkwürdigkeiten, auf dem man, wie "Alice im Wunderland", selbst Kaninchenlöcher im Auge behalten sollte.

Der Autor ist Mathematiker und Professor am Institut für Modellierung und Systemanalyse der Hochschule Geisenheim.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Sept. 2021
ISBN9783347381391
Alles geht!: Durch die Wand laufen, in der Luft schweben und andere Kunststücke

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    Buchvorschau

    Alles geht! - Kai Velten

    Seht ihr den Mond dort stehen?

    Er ist nur halb zu sehen,

    und ist doch rund und schön.

    So sind wohl manche Sachen,

    die wir getrost belachen,

    weil unsre Augen sie nicht seh'n.¹

    Vorwort: Warum geht alles?

    Alles Vorstellbare und Unvorstellbare kann tatsächlich geschehen, jederzeit und überall und auch dort, wo wir selbst gerade sind. Um diese wenig bekannte, wissenschaftlich begründete Tatsache geht es hier, deren Konsequenzen manchen fantastischen Roman in den Schatten stellen.

    Das Buch erzählt eine Geschichte mit scheinbar unmöglichen Ereignissen, in der Menschen über das Wasser und durch Wände gehen, ohne Hilfsmittel fliegen und in höhere Dimensionen aufsteigen. Auf den ersten Blick ein Fantasieprodukt, das bestenfalls unterhaltsam und für einige kurzweilige Stunden zu gebrauchen ist. Jene merkwürdige Tatsache bedeutet aber, dass wir die Geschichte ernster nehmen sollten, denn sie könnte in der Realität geschehen, irgendwo auf dem blauen Planeten und vielleicht vor unseren eigenen Augen. Eine abwegig scheinende Behauptung, die leicht begründet werden kann, mit einem jahrhundertealten Argument, das neben vielen anderen auch von Albert Einstein verwendet wurde.

    Selbstverständlich spricht unsere gesamte bisherige Erfahrung dafür, dass wir nie etwas Vergleichbares erleben werden. Mit höchster und sogar allerhöchster Wahrscheinlichkeit wird unser Leben auch weiterhin im Rahmen der bekannten Naturgesetze verlaufen und kein Mensch wird jemals schweben, durch Wände gehen oder den Bewohnern höherer Dimensionen begegnen. Absolut sicher ist das allerdings nicht und genau darum geht es. Was unmöglich erscheint, ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. In diesem Sinne kann neben der kleinen Geschichte, die hier erzählt wird, auch noch alles andere geschehen, das wir uns vorstellen können und selbst, was wir uns nicht vorstellen können. Alles geht!

    Wer das zum ersten Mal versteht, wird die Welt mit neuen Augen sehen und sich bald wie ein Astronaut fühlen, der erste Schritte auf einem fremden Planeten unternimmt. Das kann etwas beunruhigend sein und mancher unfreiwillige Astronaut wird sich die geordneten Verhältnisse von gestern zurück wünschen. Es liegt aber auch eine Chance darin.Wenn alles möglich ist, gibt es keine Wünsche und Träume mehr, die man völlig unrealistisch nennen müsste. Ein Roman von Lewis Carroll beschreibt ein Wunderland, das Alice, ein kleines Mädchen, in einem von anderen Menschen nicht beachteten Kaninchenloch entdeckt. Wie viele Wunderländer liegen jeden Tag an unserem eigenen Weg?

    Eine Frage, die sich selbstverständlich nur dann stellt, wenn das Unmögliche wirklich möglich ist. Die Erfahrung spricht dagegen und vor allem scheint es, dass wir auf wissenschaftliche Erkenntnisse verweisen können. Hat die Wissenschaft nicht längst bewiesen, dass sich die Welt geordnet verhält und unmöglich Erscheinendes wirklich unmöglich ist? Beweist nicht das Gravitationsgesetz, dass ein Mensch, so sehr er mit den Armen flattern und zappeln mag, von der Erde angezogen wird und daher nicht fliegen kann? Beweisen nicht die Gesetze der Atom- und Festkörperphysik, dass sich Körper im festen Aggregatszustand nicht durchdringen und Menschen daher nicht durch Wände gehen können?

    Die Antwort auf diese Fragen lautet: Nein, diese Beweise gibt es nicht. Auch die Wissenschaft kann uns nicht dabei helfen, beliebige Ereignisse in der Zukunft auszuschließen. Albert Einstein erklärt das wie folgt:

    "Niemals aber kann die Wahrheit einer Theorie erwiesen werden. Denn niemals weiß man, dass auch in Zukunft keine Erfahrung bekannt werden wird, die ihren Folgerungen widerspricht.

    Zwei unauffällige und bescheidene Sätze, die unsere Vorstellung einer sicher vorhersehbaren Welt wie einen Vorhang zur Seite schieben. Dahinter erscheint unsere Erde als jener unbekannte Planet, auf dem man selbst Kaninchenlöcher im Auge behalten sollte. Farewell to certitude, Abschied von der Gewissheit schreibt der Philosoph Avshalom M. Adam über Einsteins Feststellung.³ Alles ist, wie wir gleich sehen werden, auch für den Laien rasch und umstandslos erklärt. Wenn dies aber so ist, warum ist Einsteins über hundert Jahre altes Zitat dann nicht bekannter? Warum traut man den Naturwissenschaften bis zum heutigen Tag Dinge zu, die sie nicht leisten können?

    Auf der Suche nach Antworten stößt man auf Äußerungen prominenter Physiker, die missverstanden werden können. Stephen Hawking etwa schreibt in seinen Kurzen Antworten auf große Fragen (Klett-Cotta, 2019): Die Naturgesetze beschreiben, wie sich (…) alle Dinge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tatsächlich verhalten. (…) Im Gegensatz zu den Gesetzen, die von Menschen gemacht werden, können die Naturgesetze nicht gebrochen werden (…). Mit etwas Abstand zu o.a. Zitat spricht Hawking von seinem Glauben an die Wissenschaft und macht damit deutlich, dass er nur sein Vertrauen in die Verlässlichkeit der Naturgesetze ausdrücken wollte. Dieses berechtigte Vertrauen darf man nicht mit einem unumstößlichen und alle Ausnahmen ausschließenden Beweis verwechseln.

    Machen wir ein Gedankenexperiment, um Einsteins Worte besser zu verstehen. Was geschieht, wenn jemand einen Stein aufhebt und dann die Hand öffnet? Die Erfahrung sagt uns, dass der Stein zu Boden fallen wird. Aber können wir ganz sicher sein? Könnte der Stein nicht an irgendeinem Tag der Menschheitsgeschichte, morgen zum Beispiel, in der Luft schweben statt zu fallen? Die Überzeugung, dass dies unmöglich sei, ist so tief in uns verwurzelt, dass viele die Frage sinnlos nennen und jede Beschäftigung damit ablehnen werden. Diejenigen, die übrig bleiben, werden ihre Argumente mit siegessicherem Ausdruck vortragen und kaum verbergen können, wie sehr es sie erstaunt, von Erwachsenen mit derlei Fragen konfrontiert zu werden. Einige werden ein Physikbuch aus dem Schrank nehmen, das Gravitationsgesetz aufschlagen und sagen: Hier steht es schwarz auf weiß: die Erde zieht den losgelassenen Stein an. Also wird er fallen und nicht schweben. Auf die Frage, ob das ganz sicher ist, werden sie antworten: Natürlich, ganz sicher. Das hier ist ein Physikbuch und kein Roman. Es beschreibt die Naturgesetze von Newton, Einstein und den anderen großen Physikern. Das ist alles absolut sicher und bewiesen.

    Damit haben wir den entscheidenden Punkt erreicht, denn Einstein widerspricht, indem er feststellt, dass physikalische Theorien eben nicht erwiesen werden können. Das hat weitreichende Konsequenzen. Wenn Naturgesetze nicht beweisbar sind, kann kein denkbares Ereignis sicher ausgeschlossen werden. Wir können zwar weiterhin davon ausgehen, dass der Stein im Gedankenexperiment höchstwahrscheinlich fallen wird, müssen aber akzeptieren, dass es anders ausgehen könnte. Der Stein könnte seinen Absturz, den das Gravitationsgesetz von ihm verlangt, jederzeit abbrechen, um zu schweben, in den Himmel zu stürzen oder irgendetwas anderes zu tun, das ihm gerade einfällt. Alles ist möglich, alles geht.

    Das gilt auch für die übrigen Naturgesetze. Unsere bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass ihre Vorhersagen höchstwahrscheinlich eintreffen werden. Absolut sicher ist dies jedoch nicht, und deshalb kann schon morgen alles geschehen, das wir uns vorstellen können und selbst, was wir uns nicht vorstellen können. Menschen, die auf dem Wasser laufen, ohne Hilfsmittel fliegen und durch Wände gehen sind da nur so etwas wie das kleine Einmaleins. Es könnte wirklich alles anders sein und die Welt könnte sich anfühlen wie ein wahr gewordener Drogentraum, bis hin zu jenen Marmeladenhimmeln, die John Lennon in seinem von Alice im Wunderland inspirierten Lucy in the sky with diamonds beschreibt.

    Warum kann man physikalische Theorien nicht beweisen? Das von Einstein verwendete Argument wurde schon 1739 von David Hume entwickelt und danach von Karl Popper, Bertrand Russel und anderen Philosophen und Wissenschaftstheoretikern übernommen:⁴ Naturgesetze beschreiben Erfahrungen, das Gravitationsgesetz beispielsweise die Erfahrung, dass Steine zu Boden fallen. Wenn man Naturgesetze beweisen könnte, müsste es möglich sein, aus Erfahrungen der Vergangenheit absolut sichere Aussagen über die Zukunft abzuleiten. Das ist aber unmöglich, weil noch so viele gleichartige Erfahrungen nicht begründen können, dass morgen genau dasselbe geschehen wird. Ein Beispiel hilft, dies besser zu verstehen. Bertrand Russel wird folgendes (für empfindliche Gemüter etwas deftige) Gleichnis vom induktivistischen Truthahn zugeschrieben:

    Ein Truthahn stellte an seinem ersten Tag in einem Mastbetrieb fest, dass er jeden Morgen um 9 Uhr gefüttert wurde. Als guter Induktivistzog er daraus zunächst keine Schlüsse. Er wartete ab, bis er sehr häufig beobachtet hatte, dass er jeden Morgen um 9 Uhr gefüttert wird. Diese Beobachtungen machte er unter den verschiedensten Umständen, an Mittwochen und Donnerstagen, an warmen und kalten, regnerischen und trockenen Tagen. Jeden Tag fügte er seiner Liste eine neue Beobachtung hinzu. Schließlich war sein induktivistisches Gewissen zufriedengestellt und er zog den induktiven Schluss: Ich werde immer um 9 Uhr gefüttert.Leider erwies sich diese Folgerung als völlig falsch, als ihm Heiligabend statt der erwarteten Fütterung der Hals durchgeschnitten wurde.⁶

    Russells Beispiel veranschaulicht, warum sich auch aus vielen gleichartigen Erfahrungen keine Gesetzmäßigkeit ableiten lässt, auf die wir uns sicher verlassen könnten. Dem Truthahn hilft es nicht, dass er das Ereignis Fütterung um 9 Uhr morgens hundertfach beobachtet hat. Trotz dieser zahlreichen Wiederholungen geschieht eines Tages etwas völlig anderes. Ebenso kann die Sorgfalt, mit der Menschen Naturgesetze aus den Erfahrungen der Vergangenheit abgeleitet haben, nicht verhindern, dass etwas Unerwartetes und bis dahin Unvorstellbares geschieht. Das haben wir ja noch nie gesehen ist kein Argument, mit dem sich etwas ausschließen lässt. Natürlich ist das vom Truthahn nach ein paar hundert Tagen aufgestellte Fütterungsgesetz erheblich unsicherer als unsere Naturgesetze, die Erfahrungen aus Jahrtausenden zusammenfassen. Dennoch können wir es auch als Mahnung an uns verstehen, wenn Russell an anderer Stelle (bezogen auf ein Huhn statt des Truthahns) schreibt:

    Der Mensch, der das Huhn sein Leben lang täglich fütterte, dreht ihm schließlich den Hals um, was zeigt, dass eine genauere Betrachtung der Gleichförmigkeit des Naturgeschehens nützlich für das Huhn gewesen wäre.⁷

    Fassen wir zusammen. Wir werden höchstwahrscheinlich weiterhin nichts erleben, das Naturgesetzen widerspricht, weil diese mit allen bekannten Erfahrungen aus Jahrtausenden übereinstimmen. Dennoch kann jederzeit Beliebiges geschehen und nichts kann verhindern, dass wir, wie der Paketbote Paul in diesem Buch, vielleicht schon morgen in eine Fantasiewelt hinein stolpern. Die verbreitete Auffassung, es gäbe gesicherte Beweise für Naturgesetze, die vor derartigen Entgleisungen ins Surreale schützen könnten, ist falsch. Naturgesetze sind in ihrer Substanz nur Protokolle, die, wie die Beobachtungen des Russellschen Truthahns, Erfahrungen aus der Vergangenheit zusammenfassen. Neue Erfahrungen können hinzu kommen und für die Zukunft gilt: nicht alles ist wahrscheinlich, aber alles ist möglich. Man kann der Ansicht sein, dass es sinnlos ist, über die Möglichkeit sehr unwahrscheinlicher Ereignisse nachzudenken, die seit Jahrtausenden nicht beobachtet wurden. Für die Beschäftigung mit dem Thema spricht, dass es um die Realität geht, in der wir leben. Die Möglichkeit des scheinbar Unmöglichen gehört zu unserer Welt wie ein Stein, den wir in der Hand halten und dessen Realität niemand bestreiten würde (abgesehen von Philosophen natürlich). Wer Realist bleiben möchte, kann das nicht ignorieren.

    Dieses Buch entstand aus der Frage, wie es sein könnte, wenn normale Menschen die Möglichkeit des Unmöglichen entdecken. Paul, ein gescheiterter Physikstudent und Paketbote, stolpert eines Tages am Ufer des Rheins und stellt fest, dass er auf dem Wasser gehen kann. Damit erschüttert er das Weltbild von Physikprofessor Tom, der mit dem Bau eines riesigen Apparats reagiert, den er Physical Law Crusher (Naturgesetzbrecher) nennt und der Ausnahmen der Naturgesetze auffinden soll. Paul, Tom und ihren Freunden gelingt es schließlich, weitere Dinge zu tun, die man bis dahin für unmöglich gehalten hat.

    Die Tatsache, dass Naturwissenschaftler Szenarien dieser Art ignorieren und unwissenschaftlich nennen, wird oft als ein Beweis ihrer Unmöglichkeit missverstanden. Eigentlich bedeutet es nur, dass sich die Szenarien nicht mit wissenschaftlichen Instrumenten behandeln lassen, ebenso, wie ein Zahnarzt mit seinem feinen Besteck keine Mauern errichten und ein Maurer mit seiner Kelle keinen Zahnschmerz heilen kann. Wissenschaftler sind an Erfahrungen und Beobachtungen gebunden und dürfen nicht herumfantasieren, selbst dann nicht, wenn aus der Fantasie Realität werden könnte. Ein Physiker, der die Berechnung einer Asteroidenbahn mit dem Hinweis verweigern würde, es sei unklar, ob das Gravitationsgesetz morgen noch gilt, wäre wie ein Maurer, der keinen Stein mehr in die Hand nimmt. Er würde seine Aufgabe nicht erfüllen und müsste mit der Entlassung rechnen.

    Die Verpflichtung, im Rahmen der Naturgesetze zu denken, setzt Wissenschaftlern enge Grenzen, die sich nach Worten des Physiknobelpreisträgers Richard Feynman wie eine Zwangsjacke anfühlen.⁸ Diese Zwangsjacke ist so etwas wie die Arbeitskleidung der Wissenschaftler. Wer gerade nicht als Wissenschaftler arbeitet, darf die Jacke abstreifen und den Kosmos des Möglichen erkunden, der uns umgibt und, wie die nachfolgende Geschichte zeigt, gleich nebenan beginnen könnte. Dass wir dies auch tatsächlich tun sollten, lässt sich mit Worten John F. Kennedys begründen, die er 1962 den Kritikern der Mondfahrt zurief und die bis auf die Tatsache, dass unser Abenteuer nicht so gefährlich erscheint, vollkommen zutreffen:

    Vor vielen Jahren fragte man den großen britischen Entdecker George Mallory, der später auf dem Mount Everest den Tod finden sollte, warum er diesen Berg bezwingen wolle. Darauf antwortete er: 'Weil es ihn gibt.' Nun, es gibt auch den Weltraum, und wir haben vor, ihn zu bezwingen, und es gibt auch den Mond und die Planeten, und es gibt neue Hoffnung auf Wissen und Frieden. Und daher bitten wir um Gottes Segen, während wir die Segel setzen und aufbrechen zum riskantesten und gefährlichsten und größten Abenteuer, zu dem sich jemals ein Mensch aufgemacht hat.

    1 Aus: Der Mond ist aufgegangen, Matthias Claudius, 1783.

    2 Albert Einstein: Induktion und Deduktion in der Physik. Berliner Tageblatt, 25.12.1919. Seite 108-109 in: The Collected Papers of Albert Einstein, Volume 7: The Berlin Years: Writings, 1918-1921, Princeton University Press, 2015.

    3 Avshalom M. Adam: Farewell to certitude: Einstein's novelty on induction and deduction, fallibilism. Journal for General Philosophy of Science 31.1 (2000): 19-37.

    4 David Hume: A Treatise of Human Nature. Oxford University Press, 2011 (Originalausgabe: 1739).

    5 Russell richtet sich hier an Philosophen, die unter induktiven Schlüssen die Ableitung allgemeingültiger Gesetze aus Einzelbeobachtungen verstehen.

    6 Frans A. van Vught: Pitfalls of forecasting: fundamental problems for the methodology of forecasting from the philosophy of science. Futures 19.2 (1987): 184-196.

    7 Bertrand Russell: The problems of philosophy. Oxford University Press, 2001.

    8 Richard Feynman über seine Arbeit als Wissenschaftler: Ich spiele ein interessantes Spiel. Es geht um Fantasie, aber in einer engen Zwangsjacke, weil sie im Rahmen der bekannten Naturgesetze bleiben muss. Aus: The Quotable Feynman, Princeton University Press, 2015.

    9 John F. Kennedy am 12.9.1962 in der Rice University in Austin (Texas, USA), zitiert nach Richard Wiseman: Sprung auf den Mond: Wie wir Unerreichbares schaffen können, Fischer-Verlag, 2019.

    Über das Wasser

    Alice lachte. (…) Etwas Unmögliches kann man nicht glauben. Du wirst darin eben noch nicht die rechte Übung haben, sagte die Königin. In deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt.¹⁰

    Nacht am Rhein

    Ferne Lichter funkelten im nachtschwarzen Rhein. Das tiefe Wasser und die kräftige Strömung verbargen sich unter der Maske eines zweiten Sternenhimmels. Alle Gefahren schienen weit entfernt wie das kosmische Spektakel über unseren Köpfen, dessen zahllose Feuer, Supernovae, schwarze Löcher und Gammastrahlen uns nicht erreichen können. Paul balancierte auf den Felsbrocken der Uferbefestigung, die sich unvorhersehbar bewegten und in der Dunkelheit kaum erkennbare Spalten bildeten. Ein Damm, den er gerade hinabgestiegen war, verdeckte die Sicht in das rheinhessische Bingen. Dort hatte er Freunde getroffen und wandte sich nun seiner Heimatstadt Rüdesheim zu, die als hell strahlende, längliche Ellipse über dem anderen Ufer schwebte.

    Die Straßenlampen der Außenbezirke tupften weit ausholende Linien auf die angrenzenden Hügel des Mittelrheintals und Paul war der Ansicht, dass die Ellipse im Kranz dieser Linien wie die Milchstraße mit ihren Spiralarmen aussah. Nur die beleuchteten Stützen einer Seilbahn störten die Analogie. Sie zeichneten eine perfekte Gerade in die Nacht, quer durch die Spiralarme bis zu einer hochgelegenen Terasse, auf der man das Flusstal mit den benachbarten Burgen überblicken und ein Denkmal aus alten Kaiserzeiten besichtigen konnte, die Wacht am Rhein.

    Paul hatte Physik studiert und wusste, wie aberwitzig der Vergleich des Städtchens mit der hunderttausend Lichtjahre großen Galaxie war, die neben der Erde vielleicht unzählige andere bewohnte Planeten beherbergt. Dennoch schien ihm das, was er sah, ganz natürlich. Er hatte fast jeden Tag seines Lebens in diesem Tal verbracht. Rüdesheim war seine Welt. Die Milchstraße teilte sich ihre Welt mit Milliarden weiterer Galaxien und entsprach, so gesehen, nicht einmal dem kleinsten Häuschen am anderen Ufer. Sie war mit jenem Vergleich gut bedient. Sehr gut sogar.

    Paul erreichte die Wasserlinie und betrat einen letzten Stein, der regelmäßig vom Wellengang der Schiffe überspült wurde und mit glitschigen Algen bedeckt war. Der Stein reagierte sensibel auf Gewichtsverlagerungen und kippte in verschiedene Richtungen. Paul stabilisierte ihn mit routinierten Bewegungen und streckte ein Bein über den Fluss. Für den ersten Schritt hatte er sich ein Ritual angewöhnt, das er mit großem Ernst zelebrierte. Er senkte das Bein ab und unterbrach die Bewegung mehrmals, um genau zu beobachten, was mit dem Wasser und seinem Schuh geschah.

    Obwohl er jedes Detail kannte, nahm er sich viel Zeit dafür. Er tat es aus Respekt vor den unbekannten Mächten, die ihm die Gabe verliehen hatten, auf dem Wasser zu gehen. Das Ritual war eine Beschwörung dieser Mächte, eine inständige Bitte, ihm die besondere Fähigkeit nicht mitten auf dem Rhein zu nehmen, den man trotz seiner freundlichen Erscheinung in der schönen Landschaft nicht unterschätzen durfte. Alle Kinder der Region konnten die Warnungen ihrer Eltern vor einem Bad herunterbeten. Unvorsichtige Schwimmer wurden selbst am Ufer mitgerissen und stromabwärts lauerte das Binger Loch, eine Engstelle des Rheins, in der das Wasser stampfte, brodelte und schäumte.

    Während Paul den Schuh weiter absenkte, sprang etwas, das er auch nach vielen Jahren und hundertfachem Erleben nicht beschreiben konnte und deshalb einfach nur etwas nannte, in sein Bein und breitete sich im Körper aus. Es geschah immer wenige Zentimeter über dem Rhein, wenn sein Fuß den Einflussbereich des Wassers erreichte. Paul hielt für möglich, dass es auch umgekehrt sein könnte und das Wasser stattdessen den Einflussbereich des Fußes erreichte. Die Gesetze und Begriffe seines Physikstudiums ließen sich nicht auf das Erlebte anwenden und Paul blieb nichts übrig, als zu beobachten und zu hoffen, dass irgendwann jemand kommen würde, der das zauberhafte Geschehen aus der Dunkelheit des Unverstandenen in das helle Licht wissenschaftlicher Theorien heben würde.

    Wenn er über das Wasserlaufen nachdachte, meinte er, Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte verstehen zu können, die Gesetzmäßigkeiten in einem noch völlig unübersichtlichen und geheimnisvollen Naturgeschehen gesucht hatten. Die meisten von ihnen mussten sich ebenso hilflos und klein gefühlt haben wie er selbst. Jene aber, die wie Kopernikus, Newton und Einstein alle Schwierigkeiten überwunden hatten, erschienen ihm bewunderungswürdiger als zuvor, entrückt in einen unerreichbaren Pantheon der Wissenschaften. Sie hatten Aufgaben für Halbgötter und Titanen gelöst und konnten keine Menschen aus Fleisch und Blut gewesen sein.

    Das merkwürdige Etwas verwandelte sich in ein Gefühl innerer Spannung und begleitete ihn in dieser Gestalt auf seinem Weg über das Wasser. Jede Körperzelle schien mit einer besonderen Energie aufgeladen und Paul war der Meinung, dass eine hell strahlende Glühbirne so empfinden müsste, wenn sie empfinden könnte. Als das Wasserlaufen vor einigen Jahren neu für ihn war, hatte er mit einem Handspiegel überprüft, ob ein Leuchten von ihm ausging oder andere von der Energie bewirkte Veränderungen erkennbar wären. Er hatte nichts feststellen können, und natürlich hing seine Anspannung auch mit der Angst zusammen, dass er die Gabe plötzlich verlieren und in den Fluss fallen könnte.

    Wenn dies in der Fahrrinne des Rheins geschehen sollte, dort, wo es eiskalt und die Strömung am stärksten ist, würde es gefährlich werden. Er wäre dann in die voran eilenden Wassermassen eingehakt wie die Waggons der auch in der Nacht fahrenden Güterzüge, die mit ihrem von den Talflanken reflektierten Quietschen, Rumpeln und Donnern zur ständigen Geräuschkulisse der Region gehörten. Jeder Fluchtversuch wäre vergeblich und die kurze Fahrt würde unweigerlich im Binger Loch enden, jenem Hexenkessel, den ein Schwimmer nicht überleben konnte. Paul spürte die Nähe der Gefahr und wusste doch, dass sein Zustand nicht nur auf Angst beruhte. Das Etwas war real und fühlte sich wie die Kraft an, die Haare in elektrischen Feldern aufstellt. Es war aber viel stärker und stand in merkwürdigem Zusammenhang mit ihm selbst, denn keiner seiner Freunde hatte ihm sein Kunststück bisher nachmachen können.

    Während Paul den Fuß weiter absenkte, entwickelte sich ein Schuhabdruck im Wasser, eine ebene Fläche, in der die kleinen Wellen und Strömungsmuster der Umgebung fehlten. Der Abdruck wölbte sich der Sohle entgegen, energiegeladen und kraftvoll wie ein Bizeps, der sich anspannt und bereit macht, im nächsten Moment sein Gewicht aufzunehmen. Die Vorstellung, dass er diesen Effekt vielleicht als erster Mensch erlebt, berauschte ihn immer wieder aufs Neue. Wenn andere schon auf dem Wasser gelaufen waren, hatten sie jedenfalls nicht darüber gesprochen und Paul wusste, warum sie geschwiegen hatten. Es gab ein Problem, das ihn schon mehrmals in Schwierigkeiten gebracht hatte. Obwohl er vorsichtig war und sein Möglichstes tat, um das Problem zu vermeiden, sollte es ihm in dieser Nacht erneut begegnen.

    Bei seinem ersten Spaziergang auf dem Wasser, der schon einige Jahre zurücklag, hatte Paul neue Schuhe getragen und sich dann eine Weile an die Vorstellung geklammert, dass eine besondere Technik in den Sohlen die Verfestigung des Wassers bewirkt hatte. Die neue Erfahrung schien ihm damals so unwirklich und beängstigend, dass er nur einen Gedanken zugelassen hatte: es müssen die Schuhe sein! In jenen Tagen hatte er Jugendliche beobachtet, die in motorisierten Schuhen mit unsichtbar eingebauten, kleinen Rädern durch die Fußgängerzonen rollten. Paul hatte einen Trend daraus abgeleitet, Schuhe mit komplexer Technik auszustatten und das Problem fehlender physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die eine ausreichende Wasserverfestigung ermöglichen könnten, ignoriert. Er hatte angenommen, dass ihm eine großartige Entdeckung entgangen sein musste, was plausibel erschien, da er sich oft wochenlang nicht für die Schlagzeilen der Medien interessierte. Erst als er auch mit den ältesten Schuhen und sogar barfuß über das Wasser gelaufen war, hatte er endgültig verstanden, dass seine alte Welt zusammengebrochen war und ein neues, unbekanntes Land vor ihm lag.

    Der Schuh berührte das Wasser, sank mit der Sohle etwas ein und erreichte festen Grund, wohl einen halben Meter über dem Flussbett und allem, das ihn aufgrund der bekannten physikalischen Gesetze tragen durfte. Paul zog das andere Bein nach und stand nun vor dem Uferstein auf dem Rhein, der sich als weite, schwarze Ebene vor ihm ausbreitete. Er prüfte die Belastbarkeit des Wassers, indem er mit zunehmender Kraft auf der Stelle trat. Rinnsale tropften unter den Sohlen herab und er atmete eine schwere, mit den vielfältigen Aromen des Flusses beladene Luft. Es roch nach allem, das der Rhein an lebendigen und toten Dingen mitführte, vermischt mit dem würzigen Duft der Algen auf den Steinen und einem fauligen Gestank, der aus den Spalten der Uferbefestigung aufstieg. Die merkwürdige Mixtur war der Körpergeruch eines Ungeheuers, dem man eigentlich aus dem Weg gehen sollte, besonders zu dieser späten Stunde in der Nacht.

    Große Strudel durchbrachen an wechselnden, unvorhersehbaren Orten die Wasserfläche, teils gefährlich nahe an der Route, die Paul sich für die Flussüberquerung ausgesucht hatte. Ihr kehliges Gurgeln und gieriges Schmatzen hatte ihn bei seinen Spaziergängen auf der Rheinpromenade stets begleitet und Paul erinnerte sich, wie froh er dann immer gewesen war, auf festem Grund zu stehen. Nun fehlte der sichere Abstand, und wenn die Strudel schmatzten, fühlte er das Wasser unter den Füßen vibrieren. Der Wind war bereits über dem ufernahen Wasser viel stärker als an Land und in der Flussmitte bestand die Gefahr, von Böen umgeworfen zu werden, die dort kilometerweit Anlauf nahmen.

    Paul fixierte ein Hotel mit auffälligen Leuchtbuchstaben am gegenüberliegenden Ufer, das er seinen Nordstern nannte, weil es ihm auf dem weglosen Wasser als Orientierung und Zielmarke diente. Neben dem Hotel führte eine Straße direkt in die Rüdesheimer Innenstadt zu seiner Wohnung. Er hatte sich heute mit Freunden in Bingen getroffen und die letzte Fähre verpasst. Die Freunde wollten ihn nach Hause fahren, aber Paul hatte abgelehnt, weil er ihnen den weiten Umweg über Mainz und Wiesbaden ersparen wollte, wo es erst in über 20 Kilometern Entfernung die nächste Brücke gab.

    Es war nun an der Zeit, zu gehen. Paul begann die Überquerung mit vorsichtig tastenden Schritten, zunächst noch aufmerksam und bereit, abzubrechen und umzukehren, falls etwas Unerwartetes geschehen sollte. Dann entspannte er sich und lief in ruhigem Spaziertempo weiter, bis er, schon in einiger Entfernung vom Ufer, ein rheinaufwärts fahrendes Binnenschiff bemerkte. Eigentlich hatte man den Lärm der gegen die starke Strömung kämpfenden Motoren schon lange hören können, aber Paul wurde erst aufmerksam, als die Buglichter direkt vor ihm in der Fahrrinne erschienen. Für ihn, der sein ganzes Leben am Rhein verbracht hatte, war das dumpfe Wummern und Tuckern der Schiffe ein Hintergrundgeräusch, das er kaum beachtete. Er schlief sogar bei geöffnetem Fenster, weil das nächtliche Konzert der Schiffsmotoren und Güterzüge beruhigend auf ihn wirkte und beim Einschlafen half.

    Wenn er, was selten vorkam, das Rheintal verließ und in der Ferne bei Freunden oder in Hotelbetten übernachtete, lag er oft lange wach und lauschte in die Nächte hinein, die entweder beunruhigend still waren oder voller unbekannter Geräusche. Manchmal zwang ihn dann der Lärm naher Straßen, das Fenster zu schließen und rauschende Lüftungs- und Klimaanlagen, gluckernde Heizungsrohre oder quietschende Bettfedern verwandelten sein Zimmer in eine lärmende Folterkammer. Nach seiner Heimkehr öffnete er stets feierlich die Fenster, lauschte den Schiffen und Zügen mit besonderem Genuss und versuchte, das Wohlgefühl zu verlängern und noch etwas wach zu bleiben, bis ihn das geliebte Wiegenlied der Waggons und Motoren mit einer Macht, gegen die nicht anzukommen war, in den Schlaf riss.

    Das Schiff glitt scheinbar führerlos durch die Nacht. Hinter den von Monitoren und Steuerungsinstrumenten schwach erleuchteten Fenstern der Brücke war niemand zu sehen. Paul wurde unruhig. Wo war der Kapitän? Lief er im Dunkeln über sein Schiff, um die Ladung zu überprüfen, oder um sich in der Nachtluft zu erfrischen und zu verhindern, dass er bei der eintönigen Arbeit einschlafen würde? Wenn dies zuträfe, würde es für Paul gefährlich werden. Sobald sich ein Blick auf ihn richtete, war die Energie und innere Spannung, die ihm das sichere Stehen auf dem Fluss ermöglichte, wie ausgeknipst und er versank im Wasser wie jeder andere. Dies war Pauls Problem mit dem Wasserlaufen. Ein Problem, das, wie Paul fand, die Frage aufwarf, wer um alles in der Welt sich solche idiotischen Probleme ausdachte? Wie konnte es sein, dass er eine einzigartige Fähigkeit besaß, aus der sich etwas machen ließe, auch finanziell, die er aber niemandem vorführen und über die er noch nicht einmal sprechen durfte, um nicht für verrückt gehalten zu werden?

    Paul stellte sich oft vor, was er tun würde, wenn es dieses Problem nicht gäbe. Er hatte das Physikstudium vor vielen Jahren abgebrochen und verdiente seinen Lebensunterhalt seither bei einem Paketdienst. Diesen Job würde er sofort kündigen, in öffentlichen Vorführungen auf dem Wasser laufen und sich das gut bezahlen lassen. Vielleicht würde es dann genügen, einmal im Monat zu arbeiten. Als Paketbote arbeitete er jeden Tag und verdiente so wenig, dass es kaum für den Lebensunterhalt reichte. Er wusste längst, dass der Abbruch des Studiums der größte Fehler war, den er je gemacht hatte.

    Manchmal träumte er während des Paketaustragens von einer Wiederaufnahme des Studiums, wusste aber, dass die Voraussetzungen dafür anderthalb Jahrzehnte später nicht besser geworden waren. Die jahrelange, monotone Tätigkeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Paul hätte das vielleicht mit besonderen Durchhaltevermögen und Engagement wettmachen können, aber genau diese Eigenschaften hatten ihm schon damals gefehlt und zum Abbruch geführt. Immerhin gab es jemanden, mit dem er regelmäßig physikalische Themen diskutieren konnte: Tom, seinen besten Freund. Der kam ebenfalls aus Rüdesheim und wohnte in Bingen, wo Paul ihn heute besucht hatte. Sie kannten sich seit der Schulzeit und hatten zusammen Physik studiert.

    Tom war Physikprofessor an der Universität Mainz geworden, bildete sich aber nichts darauf ein. Dass Paul nur Paketbote war, interessierte ihn nicht. Er vergaß es sogar manchmal und fragte Paul dann, womit er eigentlich sein Geld verdient. An diesem Nachmittag waren sie in Bingen am Rheinufer spazieren gegangen und hatten, wie immer in letzter Zeit, über das Wasserlaufen gesprochen. Tom interessierte sich sehr für Pauls Fähigkeit. Er hatte keine Erklärung dafür, war aber überzeugt, dass ein neues Naturgesetz dahinter stecken müsse, das er unbedingt selbst entdecken wollte. Darum hielt er das Projekt geheim und hatte auch Paul zur Verschwiegenheit verpflichtet. Während ihres Spaziergangs hatten sie Freunde getroffen und waren gemeinsam in ein Lokal gegangen. Tom hatte Paul dann noch spät in der Nacht an das Rheinufer begleitet und auf dem Weg dorthin darüber geschimpft, dass es keine Brücke gab und Paul sich dem Risiko eines Fußmarschs über den Rhein aussetzen musste. In einer Zeit, in der Autos, Flugzeuge und Mondraketen riesige Distanzen zusammenschrumpfen lassen, sei nicht akzeptabel, dass wenige hundert Meter Fluss ein Land völlig auseinanderreißen, nur weil sich niemand die Mühe macht, eine Brücke zu bauen.

    Tatsächlich waren viele Rüdesheimer nur selten am anderen Ufer und kannten dort niemanden. Den Bingern ging es ebenso, und wenn man mit der Fähre übersetzte, hatte man das Gefühl, hunderte Kilometer in ein fremdes Land gefahren zu sein. Das Erscheinungsbild der Städtchen, die sich wie siamesische Zwillinge an ihre gemeinsame Lebensader schmiegten und in Luftbildern eine selbstverständliche Einheit bildeten, war völlig unterschiedlich. Ein auffälliger roter Sandstein, der die Hausfassaden in Bingen verkleidete und in Rüdesheim nicht vorkam, dokumentierte zusammen mit vielen anderen Details eine jahrtausendelange, unabhängige Entwicklung. Obwohl ein erleichterter Zugang zur jeweils anderen Seite für alle Menschen der Region ein Gewinn gewesen wäre, behielten die Brückengegner in den Stadtparlamenten die Oberhand. Eine Brücke sei zu teuer, meinten sie, nistende Vögel und andere Kleintiere würden durch die Bauarbeiten gestört, und außerdem gäbe es eine schützenswerte Fährkultur. Paul und Tom fanden das lächerlich.

    Wir müssen es schaffen, den Leuten das Wasserlaufen beizubringen, hatte Tom heute gesagt. Natürlich so, dass jeder dabei zuschauen kann. Da werden die Kapitäne blöd gucken, wenn die Leute neben ihren Fähren über den Fluss gehen!

    Während sich das Binnenschiff quälend langsam an Paul vorbeischob, hockte er zusammengekauert auf dem Wasser, um nicht gesehen zu werden. Auch als der Weg nach Rüdesheim wieder frei war, verharrte er noch länger in der unbequemen Haltung. Solange das Schiff in Sichtweite war, bedeutete es eine Gefahr für ihn. Vielleicht hatte der Kapitän ein Problem mit dem Antrieb bemerkt und stand am Heck? Ein einziger, zufälliger Blick in Pauls Richtung würde genügen, um ihn weitab vom Ufer ins Wasser zu stürzen. Erst als die Hecklichter allmählich in der Ferne verschwanden, richtete er sich auf, dehnte die verkrampften Muskeln und plante den verbleibenden Weg über den Rhein, indem er sich eine gerade Linie zu seinem Nordstern auf der Rüdesheimer Promenade vorstellte.

    Um sicher stehen können, musste Paul die verebbenden Heckwellen des Schiffs und die Dünung des Rheins ausbalancieren, die sich gegenseitig durchkreuzten. Er musste in ständiger Bewegung bleiben, im Takt der Wellen in die Knie gehen und den Körper gegen ihre Schräglage neigen. Bei seinen ersten Spaziergängen auf dem Wasser hatte er mit den Armen gerudert und nach unerwarteten Wellenschlägen oft das Gleichgewicht verloren. Manchmal war er schmerzhaft auf den harten Fluss gestürzt und hatte sich dieselben blauen Flecken zugezogen, die in ähnlicher Lage an Land entstanden wären.

    Paul hatte inzwischen gelernt, damit umzugehen. Er bewegte sich routiniert auf dem schwankenden Grund und war überzeugt, dass sein Wellensurfing wie eine neue, coole Sportart aussehen musste, dem Windsurfen vergleichbar, das Klassenkameraden begonnen hatten, als er noch zur Schule ging. Paul hatte damals nicht gewagt, mitzumachen und stattdessen neidisch registriert, dass die hübschesten Mädels vom Ufer aus zusahen. Nun konnte er selbst etwas wirklich Einzigartiges, das aber nur allein im Dunkeln funktionierte. Es schien sein Schicksal zu sein, nie als strahlender Held im Mittelpunkt zu stehen.

    Er lief weiter und passierte eine Boje, die den Beginn der Fahrrinne mit ihrem tiefen, eisigen Wasser markierte. Hier musste er mit Baumstämmen, Fässern und anderen großen Gegenständen rechnen, die sich, von der starken Strömung angetrieben, in Rammböcke verwandelten. In der Dunkelheit sah man die Gefahr oft erst im letzten Augenblick. Paul beobachtete die Wasseroberfläche genau und überquerte die Fahrrinne mit raschen Schritten. Er dachte an Ewa, seine Freundin, die in der gemeinsamen Rüdesheimer Wohnung längst schlafen würde. Sie hatten abends noch telefoniert und über ein teures Smartphone gesprochen, das Ewa ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Lauf mir damit nicht auf das Wasser, hatte Ewa gesagt und Paul hatte versprochen, dass er die letzte Fähre nehmen würde.

    Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen und spürte das Gerät bei jedem Schritt in der Hosentasche. An einer weiteren Boje, die das Ende der Fahrrinne auf der Rüdesheimer Seite markierte, hielt Paul kurz an, um ein weiteres, kleines Ritual zu vollziehen. Er zog einen Filzstift aus der Tasche und dokumentierte die erfolgreiche Überquerung des Rheins mit einem Strich auf dem kühlen Metall, was nicht einfach war, weil sich die Boje hin und her warf und wie ein Stier mit ihrer Kette und den Wellen kämpfte. Die lange Strichliste war inzwischen auch auf größere Entfernung zu sehen und Paul erwartete, dass die für die Wartung zuständigen Arbeiter des Schifffahrtsamts sie irgendwann übermalen würden. Sie würden sich die Liste wahrscheinlich damit erklären, dass einer der zahlreichen Sportruderer die Angewohnheit hatte, seine Fahrten auf der Boje zu zählen. Vielleicht würde die Wasserpolizei gelegentlich auf der Lauer liegen, um ihn zu erwischen und mit einem Bußgeld zu belegen.

    Paul näherte sich nun dem Ufer. Zu dieser späten Nachtzeit war es hier menschenleer und nur die Touristen der rheinaufwärts ankernden Flusskreuzfahrtschiffe bedeuteten eine gewisse Gefahr. Sie blieben oft nur einen Tag und verbrachten den einzigen Abend vorzugsweise in Rüdesheims Innenstadt. Dort warben viele Lokale mit ihren Weinen und aufwendigen Begleitprogrammen um die Gäste aus aller Welt. Der Rücktransfer zu den Schiffen war gut organisiert und auch für jene, die ihre Shuttlebusse verpassten, standen ausreichend Taxen bereit. Dennoch konnte es vorkommen, dass einzelne Touristen alle Fahrgelegenheiten verpassten und bis zum Morgengrauen am Rheinufer ihre Schiffe suchten. Diese Nachzügler waren meist stark angetrunken, mit sich selbst beschäftigt und sehr laut. Paul war zuversichtlich, dass er sie rechtzeitig bemerken würde.

    Die Uferbefestigung bestand wieder aus aufgeschütteten Felsen, die zahlreichen Wasservögeln als Nachtquartier dienten. Tagsüber kamen Familien mit Kindern hierher, um die Tiere zu füttern. Manchmal konkurrierten die Kinder mit älteren Menschen, die den Ort als Müllkippe für Küchenabfälle nutzten und riesige Tüten mit Brotresten und anderen Leckerbissen ausschütteten. Sie hielten sich nie lange auf und hinterließen oft weinende Kinder, die nicht verstehen konnten, dass sich kein Vogel mehr für ihre Krümel interessierte. Als Paul darüber nachdachte, dass noch viel Essbares zwischen den Steinen liegen musste und die Vögel jederzeit Gelegenheit zu einem Nachtimbiss hatten, bekam er wieder Hunger und freute sich darauf, in wenigen Minuten zuhause die Kühlschranktür zu öffnen. Ewa hatte am Telefon gesagt, dass sie sich ein leckeres Essen gekocht hatte. Vielleicht war etwas übrig geblieben.

    In der Vogelkolonie gab es Wachtposten, die das Ufer hinauf spähten. Paul wusste aus Erfahrung, dass sie nicht mit einem Angriff von der Wasserseite rechneten. Als sie ihn endlich bemerkten, war er nur noch wenige Schritte entfernt und die Vögel reagierten mit besonderer Empörung. Alles geriet in Bewegung und Paul sah zahlreiche Schatten verschiedenster Form und Größe, die schlaftrunken und schimpfend durcheinander stolperten. Er musste jetzt die besonders angriffslustigen Schwäne im Blick behalten. Von der Schönheit und Eleganz, die sie tagsüber von den Enten und Gänsen unterschied, hatte die Nacht nichts übrig gelassen. Paul erkannte sie an ihren größeren Schatten und vor allem an dem respektvollen Abstand, den die anderen Vögel einhielten, um nicht gebissen zu werden.

    Er hasste Schwäne. Sie hatten ihn übel zugerichtet, als er zum ersten Mal nachts das Ufer betreten und geglaubt hatte, man könne, vom Wasser kommend, einfach zwischen den Vögeln hindurch spazieren. Paul entschied sich für einen Weg abseits der Schwäne und konzentrierte sich nun auf die letzten Schritte über das Wasser. Der Rhein war wegen der Kreuzfahrtschiffe bis in Ufernähe tief ausgebaggert. Er betrat eine Zone aufgewühlten Wassers voller Gischt und Wellen, in der die starke Strömung auf die Uferbefestigung traf. Wieder gab es viele Strudel, deren Saugen und Schmatzen in absurdem Konzert mit dem Geschrei der Vögel und dem Rauschen des Wassers wetteiferte.

    Paul musste aufpassen, um nicht in die teils riesigen Strudellöcher zu treten. Die letzten Meter über das Wasser erinnerten ihn an eine von Kaninchen und anderen Wühltieren durchlöcherte Wiese, auf der er mit Kollegen vom Paketdienst früher Fußball gespielt hatte. Diese Stolperfallen hatten Sehnenrisse und sogar Knochenbrüche verursacht, so dass Pauls Chef sich wegen der wochenlangen Krankenhausaufenthalte furchtbar aufgeregt und ihm und den Kollegen das Fußballspielen verboten hatte. Das durfte er zwar nicht, weil sie in ihrer Freizeit gespielt hatten, sie hatten aber trotzdem damit aufgehört und Paul hatte seit jener Zeit großen Respekt vor Löchern im Boden. Die verdrehten Füße und Beine der Mitspieler hatte er noch in ebenso deutlicher Erinnerung wie das rasche Anschwellen der Gliedmaßen und die gellenden Schreie von Kollegen, die er als nicht wehleidig eingeschätzt hatte.

    Paul musste auch auf kleine, leicht rotierende Schaumkronen achten, die völlig harmlos aussahen, aber ziemlich instabil waren und manchmal Abgründe verbargen, die alle an der Wasseroberfläche sichtbaren Strudel übertrafen. Er war einige Male bis zur Hüfte darin versunken und hatte eine Weile gebraucht, bis er verstanden hatte, dass er nicht auf den Schaum treten durfte. Inzwischen war dies zur Routine geworden und er bewegte sich zügig und geschickt durch die aufgewühlte Uferzone, bis er schließlich einen Felsen erreichte, der wie eine bequeme Treppenstufe aus dem Wasser ragte.

    Vor dem letzten Schritt folgte er nun einer weiteren Gewohnheit, mit der er sich vom Fluss verabschiedete. Er blieb stehen, schaute auf das schwankende Wasser unter seinen Füßen und flüsterte jenen Mächten, die ihm den Sieg über die Naturgesetze und einen bequemen Heimweg ermöglicht hatten, ein leises Danke zu. Es war ihm immer selbstverständlich erschienen, dass er sich den kleinen Abschiedsgruß hier, in unmittelbarer Ufernähe, erlauben durfte. Im Notfall würde den Grund erreichen, höchstens bis zu den Knien einsinken und sich mit einem einzigen Schritt retten können.

    Heute musste Paul erfahren, dass er mit dieser Einschätzung falsch lag. Das Wasser verwandelte sich und wurde wieder zu jenem haltlosen Element, das alle anderen Menschen auch kennen. Die innere Anspannung und Energie verschwand so rasch, wie sie gekommen war. Der Notfall trat ein und Pauls Rettungsplan scheiterte an seiner Müdigkeit und langsamen Reaktion. Er fand keinen Halt, versank und wurde fortgespült. Statt zu kämpfen, ließ er sich treiben und versuchte, einen menschlichen Schatten zwischen den Umrissen der Büsche und Bäume am Ufer zu erkennen. Wer versteckte sich dort und schaute mitten in der Nacht auf den Rhein? Warum hatten die Vögel nicht reagiert?

    Das eiskalte Wasser beendete sein sinnloses Grübeln. Die vollgesogene Kleidung zog ihn hinab und erste Schwimmzüge in Richtung Ufer bewirkten nichts. Bald konzentrierte er sich nur noch darauf, den Kopf über Wasser zu halten. Die Strudel saugten und schmatzten aus wechselnden Richtungen, viel lauter als zuvor und mit unverhohlener Gier. Aus leicht zu umgehenden Stolperfallen waren lärmende Ungeheuer geworden und Paul wusste, dass dies erst der Anfang war. Die Strömung würde ihn ins Binger Loch tragen, jene Engstelle des Rheins, wo die großen Brüder und Schwestern dieser kleinen Bestien auf ihn warteten.

    Kein Stein

    Pauls erster Spaziergang auf dem Wasser endete viele Jahren zuvor ebenfalls im Rhein, allerdings unter günstigeren Umständen, denn es geschah nachmittags vor der belebten Promenade. Er wurde nicht weit abgetrieben, erwischte das Sicherungsseil eines Schiffsanlegers und hangelte sich zum Ufer, wo bereits eine helfende Hand wartete. Tom hatte ihn an jenem Tag besucht und Paul sah in der Erinnerung immer eine Szene kurz nach dem Ablegen der Fähre, die Tom zurück nach Bingen brachte. Die Szene zeigte in einer Art Zeitlupe, wie sich die Fähre entfernte, während Tom ausdauernd winkte und Paul dabei so intensiv in die Augen schaute, dass es ihm selbst als Vorstellung richtig peinlich war.

    Tom war leidenschaftlich, wenn es um seinen Beruf ging, im Alltag aber sehr nüchtern. Paul war sicher, dass er, wie sonst auch, einfach auf die Fähre gegangen und zwischen den Autos verschwunden war. Vielleicht hatte er sich kurz umgedreht und Paul zugenickt, vielleicht einmal kurz und lässig die Hand gehoben. Warum hätte er minutenlang winken sollen, als stünde er auf einem Kreuzfahrtschiff und nicht auf einer rostigen alten Fähre, und als ginge es über den Ozean und nicht über den Rhein? Warum erinnerte Paul sich klar und deutlich an etwas, das nicht stimmen konnte?

    Tom stand in jener Szene ganz außen auf der schwankenden Kante des Auslegers, der am Ufer für die Autos abgesenkt wird. Er konnte sich dort nicht festhalten und hätte leicht in den Fluss fallen können. Der Ausleger war mit einer Schranke gesichert und Paul wusste, dass Tom Absperrungen dieser Art beachtete und nicht überklettern würde, um jemandem zuzuwinken. Als sich die Fähre schon mitten auf dem Fluss befand, meinte Paul, Toms Gesicht immer noch groß und deutlich sehen zu können.

    Das musste eine weitere Zutat der Fantasie sein, denn Paul war so kurzsichtig und die Welt hinter seiner Brille so klein, dass er schon auf viel kürzere Entfernung nicht mehr viel sah. Wenn er spazieren ging, musste er oft raten, wer die entgegenkommenden Schatten sein mochten. Um weder unhöflich noch aufdringlich zu sein, hatte er sich angewöhnt, immer freundlich und unverbindlich nach vorn zu schauen, bis er zwischen Bekannten und Fremden unterscheiden konnte. Toms Gesicht drückte etwas aus, das Paul in seinem Leben als Paketbote nie begegnete: Hochachtung und ehrfürchtigen Respekt vor einer einzigartigen Leistung.

    Worum es sich dabei handeln könnte, war offensichtlich, denn Paul stand kurz nach jenem Abschied an der Fähre zum ersten Mal auf dem Wasser. Sein Verstand schien mit diesem unsinnig erscheinenden Ereignis Probleme zu haben und genau dies schien die Erklärung für die falsche Erinnerung zu sein. Paul stellte sich vor, dass die Ungeheuerlichkeit unverdaut in seinem Bewusstsein herumlag, ein Fremdkörper, mit dem sich der Verstand nicht beschäftigen mochte und dessen unverarbeitete Schwere auch die anderen Erinnerungen veränderte und verzerrte. Warum sollte so etwas nicht möglich sein in einer Welt, in der Sterne und Schwarze Löcher den Raum krümmen?

    Paul, der sich trotz abgebrochenen Studiums als Physiker sah, fand die Idee plausibel. Er hatte sie Tom vorgetragen, der ihn mit großen Augen angesehen und eine Weile nichts gesagt hatte, so dass Paul schon ganz schwindlig geworden war. Hatte er wirklich etwas entdeckt, dass sich mit Einsteins gekrümmten Räumen messen konnte? Dann war der Traum zerplatzt und Tom hatte Pauls Idee mit wenigen Worten abgetan.

    In einem Ton, den er immer anschlug, wenn man seine Zeit mit besonders abwegigen Dingen verschwendete, erklärte er, Pauls falsche Erinnerung ergebe sich einfach daraus, dass er sehr oft an diesen Tag gedacht habe. Die ständige Wiederholung habe die kleine Abschiedsszene an der Fähre so dramatisch zugespitzt. Es sei eben nicht der kleine, alltägliche Abschied von einem Freund gewesen, sondern etwas viel Größeres und Bedeutenderes: der Abschied von seinem früheren Leben. Paul wusste, dass Tom recht hatte, wollte die Theorie der verzerrten Erinnerungen aber nicht aufgeben und vor allem nicht akzeptieren, dass Tom von völlig unbegründetem Unsinn sprach. Wo stand geschrieben, dass nur Professoren gute Ideen haben? Und wurde nicht selbst Einstein wegen seiner gekrümmten Räume ausgelacht?

    Nach dem Abschied an der Fähre wollte Paul in die Stadt zurückkehren und folgte dem Uferweg, der in der Nähe des Anlegers von eine größeren Menschenmenge blockiert wurde. Ein Artist, den er über die vielen Köpfe hinweg nicht sehen konnte, jonglierte mit Feuerringen. Paul hätte sich durchzwängen können, entschied aber, einen kurzen Umweg über die Felsen der Uferbefestigung zu nehmen. Um dorthin zu gelangen, musste er eine gemauerte, steile Wand überwinden. Er war als Kind oft hier gewesen und konnte sich auf dieser Schrägmauer immer noch schneller und sicherer bewegen als die Touristen, die man dort manchmal ungelenk balancieren sah. Unten angekommen, stellte er sich unmittelbar an der Wasserlinie auf einen großen Stein und beobachtete, wie sich Toms Fähre dem gegenüberliegenden Ufer näherte.

    Hinter ihm absolvierte der Artist einen Höhepunkt seines Programms, den das Publikum mit vielstimmigem Oooooohhhh… und anschließendem Beifall quittierte. Danach wurde es laut und die Menschen redeten in vielen Sprachen durcheinander. Paul achtete nicht darauf. Eine internationale, mit dem alten Städtchen merkwürdig kontrastierende Atmosphäre war für Rüdesheim ebenso typisch wie die Schiffsmotoren und Güterzüge. Es gab asiatische und amerikanische Reisegruppen, die Europa in einer Woche

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