Die Politischen: Schulstorys
Von Helmut Essl
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Buchvorschau
Die Politischen - Helmut Essl
Anpassung
Da er Pilz hieß und die Neigung hatte, schon beim geringsten Anlass kernzuexplodieren, nannte ihn das ganze Gymnasium „Atompilz". Nichts konnte einfacher und natürlicher sein. Er gab zu allem Überfluss auch noch die Horrorfächer Mathematik und Physik in der Oberstufe, und die Klassen, die ihn abbekamen, schienen verloren, denn die Reformpädagogik der 1970er-Jahre war spurlos an ihm vorbeigegangen. Vor den Schülern stand, vielmehr saß, da für ihn bequemer, ein Tyrann alten Schlags und machte das Klassenzimmer zum Gruselkabinett.
Hartnäckig hielt sich das Gerücht, er habe an der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde tatkräftig bei der Flugbahnberechnung der V2 gen Coventry mitgewirkt – die Stadt wurde weitgehend zerstört –, doch sein Doktortitel schützte ihn und auch die Tatsache, dass das Land von einem furchtbaren Juristen regiert wurde, dessen braune Untaten noch nicht herausgekommen waren. So bewarf dann der cholerische Oberstudienrat ungestraft seine Schutzbefohlenen mit dem nassen Tafelschwamm oder zerrte sie, begleitet von der üblichen Schimpfkanonade, am Ohr, wenn ihm eine Antwort auf eine viel zu schwere Frage missfiel.
Auch konnte es vorkommen, dass eine Klassenarbeit geschlossen versiebt wurde, da ebenfalls zu schwer, sodass dann spätestens nach zwei Wochen plötzlich die Tür von außen aufgerissen und 25 gelbe oder violette DIN-A4-Hefte ins Zimmer geworfen wurden. „Da habt ihr euren Scheiß!" hallte es dann vom Flur. Hatte er Pausenaufsicht und schlurfte Zigarre paffend über den Schulhof, erstarben abrupt Ausgelassenheit und Fröhlichkeit und bleierne Schwere kroch in die Herzen und die marternde Frage in die Köpfe, warum man einen Ex- und offensichtlich Immer-noch-Nazi auf junge Menschen loslassen müsse.
Allerdings hatte dieser Dauercholeriker auch jene sentimentale Ader, die zum rettenden Opportunismus einlud. Anders ging’s leider nicht! Manchmal genügte eine Ansichtskarte aus dem Schullandheim, adressiert „An den lieben Dr. Pilz", um eine drohende Zeugnis-Fünf in Mathematik oder Physik in letzter Sekunde in eine Gerade-noch-Vier umzubiegen. Oder man spendierte ihm das Pausenbrot, wenn er leichenblass, da unterzuckert, den rettenden Stuhl ansteuerte und in die Klasse hineinjammerte, ob man ihm etwas zu essen hätte. Was da plötzlich auf dem Pult lag, hätte ihn eine halbe Woche ernähren können, hielt ihn aber nur die folgende Doppelstunde halbwegs ruhig.
Zu seinem 63. Geburtstag schenkte ihm eine 12er-Klasse eine sündhaft teure Havanna in der Miniholzkiste, da die Versetzung in die 13. anstand, und tatsächlich war er vor dieser Heuchlerschar kurz, aber wirklich nur kurz gerührt. Mit Beginn des nächsten Schuljahrs war er dann endlich weg, sprich: in Pension gegangen. Man munkelte, er sei an die Ostsee gezogen, da man ihn in der Stadt nicht mehr sah.
Die Politischen
1
Jule saß vorne – wie immer. Rick, eigentlich Rickman, Sohn eines geschäftstüchtigen Apothekers, sowieso, denn der fuhr, weil es sein Auto war. Ein roter Ford Mustang mit Schiebedach. Hinter ihm saß Hanne und hinter Jule Rob, der eigentlich Robert hieß und Sohn eines gewieften Rechtssekretärs war. Rob wäre wegen seiner langen Beine lieber vorne gesessen, aber darauf zu bestehen wäre sinnlos gewesen, weil Rick es genoss, Jule neben sich zu haben. Hanne ahnte das auch, Jule nicht. Es war ein sonniger Apriltag, der 19. des Monats, und sie befanden sich auf der Autobahn gen Süden. Im Radio lief gerade „Y.M.C.A." von Village People – der Song sollte Hit des Jahres 1979 werden. Den Titel sangen sie alle jedes Mal lautstark mit, und Rick trat dabei