IM IMMERZU WERDEN: 40 Sommer der Poesie
Von Paul Schurr
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Buchvorschau
IM IMMERZU WERDEN - Paul Schurr
1. Teil
„DEINEN NAMEN FLÜSTERE ICH"
(1980 - 1991)
D IE KRÄHE
Ich ging über die Felder
Und die Natur, sie schwieg;
Da sah ich sie.
Sie saß ganz still
Und ihr Blick war starr;
Jetzt erst bemerkte ich,
Sie war tot.
Der Wind strich durch Ihre Federn
Und es schien ganz so,
Als wollt sie sich erheben.
Sie zuckte die Flügel,
Sie bäumte sich auf,
Doch der Stacheldraht,
Er ließ sie nicht los.
Des Menschen Werk!
Dann war es wieder still;
Sie hatte es aufgegeben.
Ich betrachtete sie lange Zeit,
Dann ging ich weiter;
Und die Natur, sie schwieg.
(15. Oktober 1980)
H ERBSTSONETT AN ALLE MITLÄUFER
Jetzt sind die Tage wieder grau,
Reif bedeckt das kahle Land.
Das Leben wird zur Nebelwand,
Es riecht nach Tod und Kälte.
Die Zeit der Taten ist vorüber,
Mensch und Tier zieh`n sich zurück.
Die Ruh hält Einzug Stück für Stück,
Hinter Fenstern brennt das Licht.
Selbst die Engagierten
schweigen,
Um bei verschloss`nen Türen
Recht stolz zu triumphieren.
Man war keiner von den Feigen,
Doch in dieser Jahreszeit
Ist`s gesünder, wenn man zu Hause bleibt.
(Oktober 1983)
H EY DU
Bleib niemals,
Wenn du Verlierer bist,
Resignierend unten liegen.
Vergiss niemals,
Mit geballter Faust
Dich wieder zu erheben.
Lass niemals nach,
Für deine Träume zu kämpfen,
Zu hoffen und … zu siegen.
Kurz gesagt,
Solang du bist,
Hör niemals auf zu leben!
(Juli 1984)
A M MEER
Sitz am Strand,
Lass Steine hüpfen,
Zwei-, dreimal,
Und sie versinken.
Das Wasser schweigt,
Ich denk und denke:
Sehnsucht nach dir?
Sehnsucht nach andrem?
Wie die Wellen
Immer grübeln,
Bis selbst das Leben
Zum Gedanken wird.
So verstreichen
Flut und Ebbe,
Und ich versäum`
Vor lauter Suchen
Glatt zu finden.
(Frankreich, August 1984)
D EMOKRATISCHE METAMORPHOSE
Sie proklamieren,
Es komme die ganze
Macht aus dem Volk.
Macht aus dem Volk?
Macht aus dem Volk
Nur keinen Idioten,
Wir haben euch doch
Längst durchschaut!
(November 1985)
Schweigend und bisweilen
Mit gesenktem, müdem Blick
Ging der alte Kanzler
Das graue Zimmer immer wieder
Auf und ab;
Träumte von bunten Spielplätzen,
Auf deren grünen Wiesen
Ein paar Jungen Fußball spielten,
Ungeschickt noch,
Doch in Gedanken große Stars;
So trieben sie den schweren Ball
Einander zu, hin zur Sonne …
Und dem alten Kanzler
Blieb nichts zu tun
Als immer wieder,
Schweigend und bisweilen
Mit gesenktem, müdem Blick
Das graue Zimmer auf und ab
Zu gehen.
(Januar 1985)
Sitze vor diesem Blatt
Und möchte Worte schreiben,
Durch die man niemals mich vergisst.
Sitze vor diesem Blatt
Und erkenne:
Nur Worte sind dafür zu wenig.
(Januar 1985)
D IE TAUBEN
Die Verrückte ging jeden Tag
In den Supermarkt und kaufte
Tiefgefrorene Pommes frites
In der Tüte,
Die sie dann im Städtischen Park,
Kinderaugenlächelnd
An die Tauben verfütterte
Und sich bemühte,
Dass jede Taube gleich viel Pommes bekam.
Doch obwohl kein Vogel daran starb,
Sagten die Passanten im Vorbeigehen:
Oh, du meine Güte,
Das ist ja Tierquälerei!
Jetzt ist die Verrückte in einer Anstalt.
Dachauer Straße 26,
Zwangsjacke,
Kahl geschoren,
Vergitterte Fenster,
Schalldicht,
Grau.
P.S.:
Einmal gab`s Wiener Schnitzel
Mit Pommes frites -
Da hat die Verrückte geweint.
(April 1985)
E INE ASIATISCHE REISE
Nur dasitzen
Und zuschau`n,
Wie langsam,
Ganz langsam
Die Sonne untergeht,
Farben geboren werden
Und wieder sterben,
Die Erde, alles um dich
Ständig dunkler wird,
Während gleichzeitig
Die ersten Sterne melden:
Es wird Nacht.
… und bei all dem
Nicht gestört werden,
Allein dafür
Hat es sich gelohnt.
Am Ende,
Wenn der Tag
Aus ist,
Möchtest Du
Am liebsten applaudieren,
Doch wär es sinnlos,
Die Heldin würd` sich
Nicht verbeugen,
Weil es für sie
So selbstverständlich ist.
Aber überhaupt mal
Dieses Gefühl zu haben
… und bei all dem
Nicht gestört zu werden,
Allein dafür
Hat es sich gelohnt.
(Lombok/Indonesien, August 1985)
D IE ANTWORT
Am Tag, als die Bomben
Auf die Erde fielen,
Fragte irgendwo ein
Kind seine Mutter:
Warum hast du mich geboren?
Und die Mutter blickte
Das Kind lange an
Und wusste keine Antwort.
(Juni 1986)
G EDICHT ZU TSCHERNOBYL
(über die Betroffenheit eineinhalb Jahre danach)
Beim Fernsehen gibt`s mehr Kohle
,
Mutter Drombusch einst rief,
"Drum bin auch ich lieber fernseh-
Als radioaktiv!"
(Oktober 1987)
G LAUBENSBEKENNTNIS
Du verhinderst die Kriege nicht,
Du lässt es geschehen,
Dass die einen verhungern,
Während die anderen
Ihr halbes Stück Erdbeerkuchen
In den Abfall kippen.
Und gerade deshalb glaube ich an Dich,
Weil Du über alles, selbst über Dich
Die Freiheit gelegt hast!
Bleib mein Freund alter Tage,
Doch egal was wird:
Ich liebe Dich, Gott!
(Dezember 1987)
Z EITGEFÜHL
So viele Minuten
So vieler Jahre,
Sie streifen das Leben nicht lang.
Selbst Wichtigkeiten
Vergangener Stunden
Verfliegen schnell im Zeitendrang.
Nur ein paar Dinge
- Geschichten und Photos -
Erinnern an Tage,
Die man niemals vergisst,
Niemals bereut.
Ansonsten beschränkt man
Sich auf das Morgen
Und höchstens die Frage:
Das aß ich gestern,
Und was esse ich heut`?
So kommt man zum Schluss,
Dass so viele Minuten
Sinnlos und kaum
Beachtenswert sind.
Bis man dann plötzlich
In irgendeiner Zeitung liest:
Jede Minute verhungert ein Kind!
(Juli 1988)