Das alles wundert mich sehr: Gedichte, Erster Teil
Von Dietrich Koller
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Über dieses E-Book
Seit seiner Lebensmitte hat Dietrich Koller gedichtet. Dabei handelt es sich zum wenigsten um Gebrauchstexte im Zusammenhang seiner pastoralen Tätigkeit oder Gelegenheitsgedichte für Familienangehörige und Freunde. Viel öfter finden Selbstreflexionen, Erfahrungen im Pfarrberuf, Wahrnehmungen im persönlichen und politischen, im sozialen und kulturellen Umfeld eine sprachliche und gedankliche Verdichtungen.
Dietrich Koller hat schon zu Lebzeiten vielfach Gedichte in Vorträge und Predigten eingebaut oder als selbständige Texte weitergegeben oder verschenkt. Den größten Teil dessen, was als sein poetisches Tagebuch bezeichnet werden kann, hat er aber bis zu seinem Lebensende in seinem Computer aufbewahrt. Sie werden hier erstmals veröffentlicht.
Dietrich Koller
Dietrich Koller (1932-2010) war evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger, Geistlicher Lehrer und Begleiter. Er lebte zuletzt in Erfurt.
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Buchvorschau
Das alles wundert mich sehr - Dietrich Koller
NOTIZEN
Zur Tat des Wortes schreiten
POETISCHE SELBSTAUSKÜNFTE
DAS POETISCHE PROBLEM
Zur Tat des Wortes schreiten
kostet tausend Tage Schweigen
Zweifeln Zaudern Reifen.
Nie weiß ich
soll ich warten
auf den Kuß der andern Welt
oder soll ich selber
den Entschluß zum Küssen fassen.
Den Mund zu öffnen
und wenn die Lippen sich gespitzt
dem Atem Worte geben
ist das unerhörte Wagnis
eines Eingriffs in die
Genstruktur der Wahrheit
und eine Welt der Liebe ist verspielt.
Was erst würde kosten
der viel größ’re Schritt
der Versuch
zum mißdeutbaren Wort der stummen Tat
Herz, Hand und Fuß zu regen!
SELBSTWAHRNEHMUNG
Möchte alles sagen und beschreiben
wie es ist, nicht wie es scheint,
nicht wie man glaubt und wünscht und meint.
Ich möchte immer neu am Neuen bleiben,
das Sein vom Scheine scheiden.
Möchte nichts bekämpfen, nichts bekennen,
was da macht und lacht und weint,
was da trügt und schönt und scheint,
aber alles treu und laut benennen,
Lob und Tadel meiden.
Möchte alles sehen, nichts verschweigen,
weiß es wohl, es ist Verrat,
revolutionäre Tat,
wenn die Kinder auf den Kaiser zeigen,
des Kleiderscheins entkleiden.
Wenn mir dies Unmögliche gelänge,
käm der Umsturz jederzeit.
Ja, ich bin dazu bereit,
falls den verbot’nen Zutritt ich erzwänge,
den Schwertstreich zu erleiden.
ES GEFÄLLT MIR SO
Es gefällt mir so,
daß Du, eine Städterin,
die nichts versteht
von Waldböden
Blumensamen und Setzlingen
daß Du mit Deinen schreibenden Händen
Deinen umblätternden Fingern
schwarze Erde mengst
irdene Töpfe füllst
rötliche Sterne pflanzt
und alles bewässerst
wie Du es gelernt hast aus Büchern und Schulheften
nein wie Du es gelernt hast
als Du Kinder gebarst
zwar künstlich eingeleitet
und doch selbst empfangen
und selbst ans Licht gebracht
und mit dem eigenen Leibe ernährt
und selbst aufgezogen
Blumensternkinder
freigelassene Gartenvögel
nichtseßhafte heitere Reitermädchen
und den bedächtigen Sandkastenmeister, den Hans.
Das gefällt mir so,
daß Du Dich verstehst
eine Städterin
auf Waldanemonen
Landkinder
Bauerntöpfe
und mich
den Laienpoeten.
AN MEINE KINDER
Nach dem Tode meines Vaters,
eines sehr gewissenhaften Boten seines Amtes
hörte ich, er habe heimlich lebenslang
Gedichte und Geschichten aufgeschrieben
und einem dicken Schreibheft anvertraut.
Aber ich Unseliger, ich hatte
meines Vaters Hinterlassenschaft
nur ganz eilig überflogen und entsorgt.
So hab ich übersehen und verloren einen Schatz.
Was gäb ich drum, ich könnt ihn wieder holen.
Ich bin der Wiedergänger meines Vaters.
Ich bin, ein ungewissenhafter Bote meines Amtes,
verpflichtet, das Dichter-Erbe zu erneuern.
Seit vielen Jahren bin ich schon dabei,
ganz ohne Selbstbewusstsein,
ganz von selbst im Fluss der Gene.
Es gibt ein Schreibbuch mit Computertexten.
Wenn ich gestorben bin,
und wenn jemand entsorgen wird,
was hinterblieben ist
und es so sträflich eilig macht wie ich –
mir soll es recht sein.
Es geht nichts verloren von allem, was verloren geht.
Es ruht im Humus der Geschichte
und ernährt die Mikrowelt
vom unsichtbaren Jenseits her.
Vielleicht, vielleicht, entsteht
in fernen Zeiten erst aus unsren Genen
ein langsam vorbereitetes Genie.
Nicht geht es mir um Ruhm,
es geht mir um gewissenhaft verbesserte
Wahrnehmung unsrer Welt.
ALTE ZEITEN
Als es einst die Türmer gab,
herrschte noch der Wachzustand
mit dem Auftrag Lueg ins Land.
Doch nun schläft im Seelengrab
unser aller Sachverstand.
Falls ein Türmer „Feuer!" schreit,
regt sich dennoch keine Hand.
Die da unten schlafen heut
selbst beim höchsten Notgeläut.
Jede Rettung kommt zu spät.
Keiner in der Stadt bereut.
Nur der Turm des Türmers steht.
Alle Häuser sind verbrannt.
Selbst die Asche ist verweht.
Lueg ins Land, horch ins Land –
ob da noch ein Türmer geht!
HÄNGT GEDICHTE AUF!
I
Holt sie aus der Schublade,
ladet sie herunter aus dem Speicher des Rechners,
druckt sie als Wandzeitungen
für die öffentlichen Wände!
Schert euch nicht um die vielen,
die achselzuckend sagen oder gar verächtlich denken:
„Worte, Worte!"
Sie wollen euch einschüchtern,
diese blinden Aktivisten,
diese Automaten ihrer Taten.
„Taten wollen wir sehen!"
sagen sie zu den Poeten und Propheten,
diese Populisten und Parteienbosse.
Knallgelb, dunkelrot, tiefschwarz, hellgrün sind ihre Farben.
Mit ihren dicken Pinseln streichen sie dir
sanft über die Augen,
fahren sie dir grob über den Mund und sagen:
„Nur Worte, Worte!" und machen doch selber nur Worte.
Rosalux wäre die Farbe der Revolution.
Sagen, was ist, das wäre der Anfang der Veränderung.
Dafür kann dir dein Blut schon fließen
in den Adern oder einst auf der Straße.
II
Also, ihr Poeten und Propheten:
eure puren Worte sind eure puren Taten.
Worte, erst innen gehört,
dann außen im Mund zu Gehör gebracht.
Worte können treffen, können vernichten,
können Tote wie Schläfer aufwecken.
Worte lösen Taten aus.
Taten ohne Worte sind Untaten
aufgrund von Schlagworten.
Wer Worte nur als Worte nimmt,
hat verstopfte Ohren.
Bleibt bei eurem Wort!
Es ist die einzige Alternative zu den bloßen Wörtern
und zu den nur gutgemeinten Taten.,
Euer Wort besteht zwar auch aus Wörtern,
aber es ist ein Fleisch gewordenes Wort,
quer zu allen gutgemeinten Meinungen.
III
Lest aber nicht nur die Worte
eurer großen Dichter und Denker,
hört oder lest auch meine kleineren Worte,
aber wollt nicht gleich mit mir diskutieren,
gönnt mir und Euch eine Zeit, eine Inkubationszeit.
Eure raschen Widerworte würden das Wort töten,
im Keim ersticken!
Wörter treiben das Wort ab.
Und so werden manche Wortfrüchte
auf den Müllberg der Worthülsen geworfen.
Übrigens: laßt auch falsche Worte erst einmal stehen.
Erst die Zeit erweist es, ob es wirklich falsche
oder vielleicht sogar wahre Worte sind.
Kraut und Unkraut sehen oft zum Verwechseln ähnlich aus.
Ich erhebe nicht den Anspruch,
zu jeder Zeit und an jedem Ort meines Lebens
wahr und lauter zu sprechen.
Ich bin ein fehlbares Lehramt.
Ich bin ein ungerechter, ein voreingenommener Richter.
Einer der vor dem letzten Urteil urteilt.
IV
Aber als Untersuchungsrichter der Wörter
bin ich an allem interessiert.
Nehmen wir einfach mal das Wort „Pflege-Versicherung".
Wenn Pflege eine Art der Liebe ist,
dann ist die Pflegeversicherung eine Art Liebesversicherung.
Pflege ohne Liebe, das wäre weniger als Leichenwaschung.
Jede Versicherung will Geld.
Ist Geld so sicher, dass es Sicherheit garantieren kann?
Liebesversicherung gegen Geld,
Geld gegen Liebe,
Liebe, die man kaufen kann, ist käufliche Liebe.
Jetzt ruft jemand: „Stop! Du spielst mit Wörtern!"
Ich erschrecke und sage dann:
Ich übe mich mit dem Wort „Pflegeversicherung".
Helft mir, seid keine Spielverderber,
helft mir alte und kranke Worte zu pflegen,
Schaut an die Pflege der falschen Sicherheit!
Sicher ist nur der Tod.
Übt mit mir das Spiel des Vertrauens,
das Risiko der Liebe.
Wer Liebe fordert, tötet sie.
Wer Liebe erhofft,
kann gewinnen, kann verlieren.
Ich bin bereit, ein hoffnungsloser Pflegefall zu werden,
jemand, der stirbt und niemand pflegt ihn.
Das ist mir lieber, als zu Tode gepflegt werden -
Lebensverlängerung um jeden Preis?
Ich will sterben mit dem Wort:
Ich habe gelebt und ich werde leben.
V
Oder untersuchen wir mal das Wort „Gewinnmaximierung".
Es sagt: Höchstes Ziel ist der höchste Gewinn.
Gewinn auf Kosten von wem oder was?
Wo Gewinner sind, sind auch Verlierer.
Das Geld wandert durch den Zaubertrick des Zinses
aus den Taschen der Verlierer in die Taschen der Gewinner.
Und jedes erreichte Ziel treibt an zu höheren Gewinnzielen.
Es gibt kein maximales Finale.
Die Sucht wächst mit jedem Gewinn.
Der Zins ist ein wuchernder Krebs,
der Todeskrebs wächst und frisst das Leben auf.
So ist das Leben, sagen die erbarmungslosen Maximierer.
Der höchste und letzte Zweck des Geldes
ist nun mal das Geld.
Geld nur, um Waren zu produzieren,
nur, um Lebensmittel zu kaufen?
Ist nicht das Kapital selbst das höchste Lebensmittel?
Die maximale Ware ist doch das Geld!
Geld ist Leben! Geldmaximierung ist Lebensmaximierung.
Unser Geld soll nicht dienen, es soll herrschen!
So sagen sie, die Tatmenschen,
und tatsächlich, wir sehen es:
Die Herrschaft des maximierten Geldes
dient nicht dem Leben,
sie bewirkt final den Tod,
den Tod des Gewissens zuerst, dann den Tod der Seele,
den Tod der Brüderlichkeit,
den Tod der Wirtschaft für das Leben,
den Tod der erschöpften Natur,
den Tod der Maximalgewinner
und den Tod der Maximalverlierer.
König Midas konnte alles zu Gold machen, was er berührte.
Er wäre in seinem Reichtum verhungert und verdurstet,
aber er bereute.
Hört und seht, das Wort Gewinnmaximierung,
es ist ein Wort ohne Wert,
es benennt eine wertlose Tat, einen wortlosen Mord.
Die leuchtenden, die lustvollen Wertworte,
die das Leben verheißen –
hört, wie sie in Wahrheit heißen,
schaut, ob sie nicht den Tod maximieren!
VI
Oder nehmen wir das Wort „Durchrassung".
Ja, es ist wahr, wir sind durchrast von Rassen,
die durch die Zeiträume und Kontinente rasen.
Ich bin