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Traumtänzer: Die tragische Geschichte eines Atlantikseglers
Traumtänzer: Die tragische Geschichte eines Atlantikseglers
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eBook637 Seiten9 Stunden

Traumtänzer: Die tragische Geschichte eines Atlantikseglers

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Über dieses E-Book

Es ist der große Traum des Hamburger Antiquitäten-Händlers Peter Feiler. Er möchte allein um die Welt segeln. Durch raffinierte Betrügereien verschafft er sich einen hölzernen Segelkutter, die Mary Ann, und segelt über Elbe, Nordsee und Englischen Kanal in die Biscaya. Dort gerät er in einen schweren Sturm. Der Kutter schlägt voll Wasser, und Feiler erreicht nur mit knapper Not den rettenden Hafen von St. Malo in Frankreich. Für die Atlantik-Überqerung nimmt er auf Gran Canaria die holländische Segel-Tramperin Adje mit. Während einer ihrer Nachtwachen verschwindet sie spurlos von Bord. Bei Feilers Ankunft auf Martinique verschweigt er den Vorfall aus Angst vor weiteren Nachforschungen durch die Polizei, die ihm möglicherweise einen Mord unterstellen würde. Dem deutschen Einhandsegler Hannes Oppermann, den er auf Martinique trifft, erzählt er jedoch die Geschichte. Was Feiler nicht ahnt: Oppermann ist Drogen-Kurier der venezulanischen Drogen-Mafia. Mit dem Wissen um Adjes Tod erpresst er Feiler, der so ebenfalls in die Fänge der Drogenmafia gerät und gezwungen wird, Kokain von der Isla Margarita aus nach Nordamerika zu segeln. Bei einem tropischen Wirbelsturm strandet Feilers Segelkutter in der Bucht von Martinique und sinkt. Feilers reiche amerikanische Freundin Anne Coleman beschafft ihm gegen ein Eheversprechen eine neue, größere Yacht, die Traumtänzer getauft wird. Dennoch gerät Feiler in Geldnot und segelt Kokain auf eigene Rechnung nach Amerika, was der Mafia nicht verborgen bleibt. Nach seiner Rückkehr zur Karibikinsel Bequia, die inzwischen zu seiner zweiten Heimat geworden ist, findet man ihn eines Morgens erhängt am Mast seiner Yacht. War es Mord oder Selbstmord?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. Okt. 2018
ISBN9783746987637
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    Buchvorschau

    Traumtänzer - Harald Schwarzlose

    Kapitel 1

    Der Tag war typisch für Hamburg im November: Es wehte ein unangenehmer, kalter Westwind, der den feinen Sprühregen vor sich hertrieb. Man konnte das trübe Wetter an den Mienen der Passanten ablesen, die eilig durch die nass glänzenden Straßen liefen, um so schnell wie möglich den Bus oder die U-Bahn zu erreichen.

    Peter Feiler hatte den Kragen seiner Windjacke hochgeschlagen, die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen vergraben. Die Colonnaden, Hamburgs bekannte Geschäftsstraße, war um diese späte Abendstunde fast menschenleer. Nur noch wenige Schritte, dann hatte er das neoklassizistische Portal eines großen Geschäfts- und Bürohauses erreicht, in dem im 1. Stock die Stanford-English-School residierte.

    Nach dem Eintreten in das mit Historismen überladene, weitläufige Treppenhaus zögerte Feiler einen Moment. Wie war er eigentlich auf die Idee gekommen, hier einen Englisch-Kursus zu belegen? War sein Schulenglisch nicht gut genug, und hatte er nicht viel zuviele andere Dinge zu erledigen? Wäre nicht in diesem Moment ein ebenso regennasser Mann eingetreten, und hätte er nicht gefragt, ob er hier richtig bei der Stanford-English-School sei - Feiler wäre vermutlich wieder umgekehrt! So aber stapften die beiden Männer gemeinsam die breiten Marmorstufen hinauf und betraten durch die offene Eingangstür einen Büroraum mit sehr hoher Zimmerdecke, die mit Stuckelementen verziert war. An einem einfachen Schreibtisch, der wohl als Empfangstresen diente, saß eine etwa vierzigjährige hagere Frau. Sie trug einen Hosenanzug und eine männlich-kurzgeschnittene Haarfrisur. „Darf ich um Ihre Namen bitten?, fragte sie die beiden Ankömmlinge mit unverkennbar englischem Akzent. „Peter Feiler, stellte sich Feiler vor. „Und Sie? „Auch Peter, aber Behrens mit Nachnamen. „Na, sagte die Empfangsdame, „dann haben Sie ja schon etwas Gemeinsames, wobei ihr Lächeln eine Reihe gelblicher Zähne entblößte, die auf einen starken Zigarettenkonsum hindeuteten. „Gehen Sie schon in den Raum zur Rechten, und nehmen Sie dort bitte an einem der freien Tische Platz, ich komme dann gleich."Peter Feiler und Peter Behrens setzten sich im Schulungsraum im hinteren Bereich an einen Zweiertisch und sahen sich um. Der Saal wirkte ziemlich leer, denn außer ihnen war nur noch ein knappes Duzend anderer Kursteilnehmer anwesend. Es roch nach altem Bohnerwachs, mit dem offensichtlich das knarzende Eichenparkett behandelt worden war. Vor ihnen lag ein Schreibblock mit Linien wie in einem Schulheft sowie ein Kugelschreiber mit dem Werbeschriftzug der Stanford-Schule. Feiler fühlte sich augenblicklich unangenehm an seine Schulzeit erinnert, und auch sein Nachbar machte kein glückliches Gesicht.

    Die Dame vom Empfang erschien und ging zum vorderen Schreibtisch, wo sie sich auf die Tischplatte setzte, ein Bein auf dem Boden aufstützte und das andere lässig baumeln ließ.

    „Einen guten Abend, liebe Kursteilnehmer, mein Name ist Susan Mc.Craine, ich bin die Leiterin der Hamburger Stanford-School und werde Sie heute und auch künftig unterrichten, stellte sie sich vor. „Damit wir alle etwas lockerer miteinander umgehen können, schlage ich vor, dass wir uns duzen und mit unserem Vornamen anreden - wie wir es hier immer machen, ergänzte sie. „Bitte verratet mir Eure Vornamen, fangen wir doch in der hinteren Reihe an!" Feiler und Behrens sahen sich etwas irritiert an.

    „Peter, sagte Feiler, und Behrens echote: „ Auch Peter.

    „Auch Peter oder Nur Peter?" fragte Susan und ließ ein wieherndes Lachen hören, wobei sie ihre gelben Zähne zeigte.

    „Nur Peter", ging Behrens auf das Spiel ein. „Also, dann haben wir auf der hinteren Bank Peter und Nur-Peter, das dürfte für die Unterscheidung ausreichen.

    Susan Mc.Craine stand auf und setzte sich hinter ihren Schreibtisch, wo ein größeres Blatt mit einer eingezeichneten Tischanordnung lag. Sorgsam schrieb sie jeden Namen in das jeweilige Tischkästchen. Als sie damit fertig war sagte sie: „Ich möchte Euch bitten, bei den nächsten Kursusterminen wieder die gleichen Plätze einzunehmen, damit ich die Namen besser behalten kann." Dann hielt sie ein dünnes Buch in die Höhe:

    „Dieses ist das Stanford-Übungsheft, das Sie für den Aufbau-Kursus benötigen. Es kostet zehn Mark, Sie können es in der Pause bei mir kaufen. Ich lasse es hier mal rumgehen, damit Sie es sich ansehen können." Susan Mc.Craine warf das Buch mit einer gekonnten Armbewegung auf den vordersten Schreibtisch, wo es klatschend landete und das junge Mädchen, welches dort saß, erschreckt zusammenzucken ließ.

    „So, sagte Susan, „bevor der Kursus richtig beginnen kann, möchte ich erst einmal wissen, wie es mit Euren Englisch-Grundkenntnissen bestellt ist. Das ist notwendig, weil in der Stanford-School jeder Kursusteilnehmer individuell gefördert wird. Ich werde jetzt mit Euch einen Test machen und ein einfaches englisches Kindermärchen vorlesen, und nach der Pause sollt ihr die Geschichte in Kurzform wiedergeben. Es ist also zweckmäßig, einige Stichworte aufzuschreiben!

    Bei dem Wort „Test" sank Peter Feilers Interesse für den Kursus auf den Nullpunkt. Ohnehin passte ihm das ganze Gehabe der Lehrerin und das Ambiente der Räume nicht. Es war diese Mischung aus Bohnerwachsgeruch und Lehrerdiktat, die ihn fatal an seine Schulzeit erinnerte. Wie hatte er die wöchentlichen Tests gehasst, die unerbittlich das Wissen in den jeweiligen Fächern abforderten. Noch heute, mit seinen 28 Jahren, wachte er häufig nachts schweißgebadet auf, weil er geträumt hatte, das bis zu den Zeugnissen noch etliche Mathe-Tests geschrieben werden mussten und die letzte Arbeit nicht mal mit ausreichend benotet worden war. Auch Behrens machte jetzt ein saures Gesicht, wie Feiler mit einem schnellen Seitenblick feststellte.

    Doch da fing Susan bereits mit der Vorlesung des Märchens an:

    „Es war einmal eine Hasenfamilie, die lebte in einem Cottage in der einsamen Gegend von Dartmoor, nahe dem Dorf Moretonhampstead!" Susan hielt einen Moment inne und lachte wieder ihr wieherndes Lachen, weil sie gemerkt hatte, dass die meisten Schüler bei Nennung des Ortsnamens irritiert von ihren Aufzeichnungen aufgesehen hatten. Peter und Nur-Peter hingegen hatten ihre Kugelschreiber nicht angerührt.

    „Ich werde einen Teufel tun und diesen Quatsch aufschreiben, raunte Feiler Behrens zu „Vielleicht sollte sie sich erstmal die Zähne putzen, bevor sie unterrichtet!

    Behrens grinste übers ganze Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf, was Susan sehr wohl bemerkt hatte. Doch dann fuhr sie unbeirrt fort das Märchen über die Hasenfamilie und die Schandtaten der Hasenkinder vorzulesen. Peter Feiler registrierte, dass Behrens seinen Kugelschreiber und den Schreibblock in seine Aktentasche packte und dann gelangweilt durch die hohen Fenster des alten Hauses in die Nacht blickte.Endlich hatte Susan Mc.Craine die Geschichte zu ende gelesen und verkündete eine Raucherpause von zehn Minuten.

    „Ich brauche jetzt unbedingt was Erfrischendes", sagte Behrens und machte Anstalten zu gehen.

    „Hier gibt’s ganz in der Nähe ein gemütliches Lokal, die brauen ihr eigenes Bier, und es gibt leckere Flammkuchen. Wollen wir nicht zusammen hingehen?" fragte Feiler

    .„Gute Idee, antwortet Behrens. „ Lass´ uns unauffällig verschwinden, ich geh´ dann auch schon mal.

    Eilig packte auch Feiler seine Unterlagen zusammen und holte die Windjacke aus der Garderobe, wobei er an einem Seitenbüro vorbei kam, dessen Tür angelehnt war. Der Spalt reichte aus, um einen letzten Blick auf Susan Mc.Craine werfen zu können, die den kleinen Raum mit Zigarettenqualm füllte. Im Eingangsportal wartete Behrens auf ihn.

    „Susan wird sich wundern, wenn unsere Plätze leer bleiben, sagte Feiler, „aber ich lass´ mich doch nicht wie ein Schuljunge behandeln, der einen Aufsatz über eine dusselige Hasenfamilie schreiben muss. Da habe ich Wichtigeres zu tun!

    Behrens nickte : „Diese Stanford-School ist ja eine Zumutung. Große Fassade und nichts dahinter!" Die beiden Männer traten in den Regen hinaus und schlugen mit schnellem Schritt den Weg zum Brauhaus ein. Das Lokal war gut gefüllt. In gemütlicher Runde waren zahlreiche Tische um die beiden großen, kupfernen Braukessel angeordnet, von denen ein appetitanregender Geruch nach Hefe und Hopfen ausging. Die beiden Männer fanden einen freien Tisch am Rande der Braustube und bestellten jeweils einen halben Liter von dem hauseigenen Dunkel und einen Flammkuchen mit Schinken.

    Als sie sich mit den vollen Krügen zugeprostet und einen ersten, kräftigen Schluck von dem wohlschmeckenden, frischen Bier genommen hatten, sagte Peter Feiler:

    „ Dank Susan Mc.Craine waren wir ja schon beim Du angekommen, wollen wir es nicht dabei belassen?"

    „Na klar", antwortete Behrens, und beide Männer ließen erneut die deftigen Bierseidel aneinander prallen. Während sie bedächtig tranken hatte Feiler das erste Mal seit ihrem Zusammentreffen Gelegenheit, Behrens in Ruhe einschätzen zu können. Er mochte wohl fünf oder sechs Jahre älter sein, war schlank und gut einen Kopf größer. Eine randlose Brille mit goldenem Gestell gab seinem feingeschnittenen Gesicht ein aristokratisches Aussehen. Ein sorgfältig gestutzter Schnauzbart, aus dem bereits einzelne graue Haare hervorlugten, unterstrich diesen Ausdruck. Das mittelbraune Haar zeigte schon deutliche Ansätze zu Geheimratsecken. Was Feiler aber am meisten beeindruckte, war ein großer goldener Siegelring mit einem blauen Stein, in den ein Wappen eingraviert war. Am Ringfinger der Hand trug Behrens einen breiten goldenen Ehering, der rundherum mit kleinen Brillanten besetzt war. Auch wenn Behrens statt eines Anzuges zur sportlichen Cordhose nur einen einfachen Wollpullover trug, so war doch unverkennbar, dass der Mann nicht gerade arm war.Als die Flammkuchen kamen bestellten beide noch einen Krug Bier.

    „Sag mal Peter, was hat Dich eigentlich in diesen Englisch-Kursus getrieben" versuchte Feiler das Gespräch in Gang zu bringen.

    „Vermutlich das Gleiche wie Dich, antwortet Behrens, „ich wollte mein Schulenglisch aufpolieren, weil ich beruflich viel mit Engländern zu tun habe!

    „Was machst du denn beruflich? fragte Feiler rundheraus. Behrens stocherte mit der Gabel im Schinken und schnitt dann bedächtig ein großes Stück Flammkuchen ab. „Ich arbeite in einer internationalen Reederei, sagte er schließlich.

    „Was heißt arbeiten? Was machst du da ?", hakte Feiler nach.

    Eigentlich wollte Behrens nicht gleich sein ganzes Leben vor dem Fremden ausbreiten, aber dann schien das Bier doch seine Wirkung zu zeigen.

    „Sagt Dir der Name CONTRANS was?" fragte er zurück.

    „Klar, antwortete Feiler, „ist ja immerhin eine der größten Reedereien in der Container-Schifffahrt, hat ja zahlreiche Feeder-Schiffe im europäischen Raum laufen und arbeitet mit geleasten Großcarryern! Behrens hielt einen Moment mit dem Kauen inne :

    „Chapeau, du weißt ja gut Bescheid! „Aber nun, was machst du in dem Laden wirklich, insistierte Feiler weiter. Behrens fuhr mit dem Kauen fort, ehe er antwortete. Eigentlich war es ihm peinlich, seinen genauen Berufsstand preiszugeben, aber andererseits war er stolz auf das, was er erreicht hatte, und was ihm erst vor kurzem zuteil geworden war. „Ich bin letzten Monat zum Vorsitzenden der Reederei berufen worden", antwortete er.

    „Wow rief Feiler fast erschrocken aus, „ dann hast du ja richtig Kohle!

    Es war ihm so herausgerutscht, und er merkte, das es seinem Gegenüber unangenehm war. „Äh, ich meine, da verdienst du doch jetzt richtig gut", versuchte Feiler sein Bonmot abzuschwächen.

    „Naja, antwortete Behrens mit einem verschmitzten Grinsen, „es geht los. Aber nun du. Was machst du?

    „Ich mache in Antiquitäten, antwortete Feiler, „genauer gesagt, ich handel mit nautischen Altertümern, also Nautiquitäten! Bei dieser Auskunft wurde Peter Behrens plötzlich hellwach.

    „Heißt das, du kannst alte Seemannsarbeiten und historische Schiffsausrüstung besorgen?„Na klar, alles was dein Herz begehrt, antwortete Feiler mit einem leicht brüchigen Unterton in der Stimme.

    „Mensch, das trifft sich ja gut, ich bin nämlich leidenschaftlicher Nautiquitäten-Sammler. Alles, was mit der historischen Seefahrt zu tun hat ist für mich interessant. Meine Sammlung ist schon gut bestückt, du mußt sie dir mal ansehen. Hast du einen Laden?"

    „Nee, keinen Laden, antwortete Feiler, „nur ein kleines Magazin im Souterrain meines Reihenhauses in Jenfeld. Weißt du, ich bin eher so eine Art Makler, ich besorge meinen Kunden die Stücke, die sie suchen, und dieses ‚Gewußt-wo´ ist sozusagen mein Geschäftskapital. „Großartig, sagte Behrens, „ da haben wir uns heute ja gut getroffen. Du mußt kommen und dir meine Sammlung ansehen. Vielleicht kannst du ja noch etwas beisteuern! Peter Feiler hatte das unbestimmte Gefühl das, das er heute Abend auf eine Goldader gestoßen war.

    Noch bevor die beiden Männer in den Nieselregen hinaustraten, verabredeten sie sich für den kommenden Sonnabend zu einer Besichtigung der Behrendschen Sammlung. Behrens überreichte Feiler seine Visitenkarte, aus der hervorging, dass sein Anwesen in Hamburgs Nobel-Vorort Klein Flottbek lag.

    Als Feiler am nächsten Wochenende mit seinem alten, klapprigen VW, der noch das winzige „Brezel"-Fenster im Heck der Karosserie trug, in Klein Flottbek eintraf, staunte er über die villenartigen Häuser, die am Rande eines großen Parks lagen. Gepflegte Rasenflächen, großzügige Blumenrabatten und alten Eichen bestimmten das Ambiente der langen Vorgärten. Behrens Haus war ein fast quadratischer, mit Rotklinkern verblendeter Bau, dessen schmale Fensterpartien in symmetrischer Anordnung klare Anklänge an den Bauhaus-Stil verrieten. Feiler diagnostizierte sofort, dass die Villa noch in der Vorkriegszeit gebaut worden war. Peter Behrens freute sich sichtlich, dass seine Zufallsbekanntschaft aus der Stanford-School gekommen war.

    „Woll´n wir erst einen Drink nehmen, oder gleich nach unten gehen?" fragte er.

    „Ein Drink wäre nicht schlecht", antwortete Feiler, worauf Behrens ihn in das großzügige Wohnzimmer führte und zwei Kristallgläser mit trockenem Sherry füllte.

    „Wie bist du denn zum Sammeln von Nautiquitäten gekommen?" fragte Feiler, während sie sich zuprosteten.

    „ Eigentlich hat mein Vater schon damit angefangen, nachdem mein Großvater, der noch als Kapitän auf einem Flying-P-Liner, also einem Windjammer der Reederei Laeisz gefahren ist, einige Stücke von seinen Reisen mitgebracht hatte. Und irgendwann hat es mich dann gepackt: Ich bin zu Auktionen gefahren und habe alles ersteigert, was irgendwie mit der Christlichen Seefahrt zu tun hatte, ich habe Hamburger Flohmärkte abgeklappert, in Trödelläden gestöbert und Seeleute aus unserer Reederei gebeten, im Ausland ein Auge offen zu halten. Ja, da ist dann schon einiges zusammen gekommen."

    „Und wo hast du das alles untergebracht?" fragte Feiler.

    „Genau wie bei dir, im Souterrain, hier im Haus. Komm, wir geh´n mal runter!"

    Sie stiegen eine mit Marmorstufen belegte Treppe hinab und betraten einen großen Raum, der an allen vier Wänden mit weiß lackierten Regalen ausgestattet war, die bis unter die Decke reichten. Sehr helle Strahlerlampen beleuchteten die Szenerie vorteilhaft. In der Mitte des Raumes standen Tische, Schränke und Vitrinen. Jeder Platz war mit maritimen Ausrüstungsgegenständen aller Art vollgestellt. Peter Feiler sah sich überrascht um: Eine derartige Ansammlung maritimer Artefakte hatte er noch nie bei einem Privatmann gesehen. Doch sein geschultes Auge sah auch sofort, das hier ein chaotisches Durcheinander herrschte. Nichts war geordnet, die Dinge waren offensichtlich so einsortiert worden, wie Behrens sie erstanden hatte. Und Peter bemerkte noch etwas: Viele Exponate waren billiger maritimer Kitsch, wie er in jedem Touristenladen am Hafen angeboten wurde: Repliken von Sextanten, Kompasshäusern, Messing-Steuerrädern und Kajütslampen. Sie kamen massenweise aus Fernost, vorzugsweise aus Indien. Peter hatte in seinem eigenen Lager die Regale voll mit derartigen Nachbildungen. Behrens hatte den erstaunten Blick seines Gastes mit Genugtuung bemerkt.

    „Sieh dich nur um" forderte er Feiler auf, was dieser auch sofort tat.

    Im ersten Regal neben der Tür entdeckte er eine gut erhaltene Schlepplogge aus Messing, die auf Segelschiffen am Heck angebracht wurde, um die zurückgelegten Seemeilen zu zählen. Die Drehungen des Schlepp-Impellers, der am Ende einer langen, verwindungsfreien Schleppleine befestigt war, setzten den Meilenzähler in Gang. Feiler registrierte sofort, dass das Schlepplog antik war. In einer Vitrine sah er altes Schiffsgeschirr, wie es auf den frühen Musikdampfern verwendet wurde. Daneben lagen die passenden, fein gedruckten Speisekarten sowie silberne Bestecke. Auf einem Tisch entdeckte er ein Tableau aus holländischen Fliesen. Die blauen Fayencen zeigten eine Tjalk unter vollen Segeln, und ein Schild neben dem Tableau wies Alter und Herkunft aus: Harlingen, Friesland, 1775.

    Peter schnalzte mit der Zunge. „Toll, ein sehr seltenes Stück", sagte er, was Behrens sichtlich erfreute. Was Feiler indes am meisten interessierte, waren die zahlreichen Schiffsmodelle, die in der Mitte des Raumes ausgestellt waren. Er entdeckte sehr fein gebaute Kleinsegler – Ewer, Tjalken, Kuffs, Barkentinen, Schoner, aber auch große, voll aufgetakelte Rahsegler. Peter sah sofort, dass sie von einem Fachmann gebaut worden waren.

    „Ich habe da einen pensionierten Modellbauer an der Hand, der hin und wieder seine Rente aufbessern muss. Wenn er ein Modell fertig hat, bietet er es mir an, und meistens kaufe ich es, sagte Behrens. „Aber eigentlich interessieren mich derartige Modelle gar nicht, denn sie sind ja neu, nicht antik, ergänzte er.

    „Das hier ist meine neueste Errungenschaft, die ich durch Zufall bei einem Trödler auf St. Pauli gefunden habe- ein echter Glücksfall. Der Kerl wusste gar nicht, was er da für eine Rarität hatte. Es ist, wie mir ein Kapitän unserer Reederei versicherte, ein Fischer- oder Rettungsboot-Trockenkompass vom Anfang des 19. Jahrhunderts!" Behutsam stellte Behrens den Kasten auf einen Tisch und zog den hölzernen Schiebedeckel auf. Im Inneren befand sich ein sehr einfach aus Messing gearbeitetes Kompassgehäuse, das zwischen zwei beweglichen Messingringen kardanisch aufgehängt war.

    „Sieh dir nur die Kompassrose an: Ist sie nicht fabelhaft gestaltet?", schwärmte Behrens.

    Feiler sagte nichts und blickte neugierig auf die Rose. Sie bestand offensichtlich aus einem starken Karton, der im Rund mit schwarzen Pfeilen bemalt worden war. Die dicken Pfeile markierten die Haupt-Himmelsrichtungen, die dünnen die jeweils dazwischenliegenden Richtungen. Kleine Pfeile unterteilten diese markanten Einteilungen in jeweils acht Zwischenabstände. Das Zentrum der Rose wurde durch zwei feine Ringe gebildet, die einen rot und blau gestalteten achteckigen Stern umschlossen. Genau in der Mitte erkannte Feiler die Spitze des eingeklebten Kompass-Hütchens, mit dem die Rose auf der Kompass-Pinne schwebte. Feiler sagte immer noch nichts. Dann fragte er Behrens:

    „Hast du mal einen kleinen Schraubenzieher?"

    „Wieso? Du willst doch nicht etwa an diesem kostbaren Stück herumschrauben?"

    „ Keine Angst, ich mach´schon nichts kaputt!"

    Behrens brachte den gewünschten Schraubenzieher. Vorsichtig nahm Feiler das Kompassgehäuse aus der kardanischen Aufhängung und stelle es auf den Tisch. Dann löste er mit dem Schraubenzieher die kleinen Messingschrauben, mit denen ein zwei Zentimeter breiter Messingring auf dem Kompassgehäuse festgeschraubt war. Er fixierte die darunter liegende Glasscheibe, welche die Kompassrose schützte. Die Schrauben ließen sich sehr leicht herausdrehen - erstaunlich leicht für eine zweihundert Jahre alte Schraubverbindung, fand Feiler. Der Messingring saß ebenfalls nicht sehr fest, und Feiler hob ihn ebenso wie die Glasscheibe mit dem Schraubendreher ab. Die Kompassrose lag jetzt frei vor ihm. Behrens sah dem Treiben entsetzt zu. „Ich glaube, du solltest lieber die Finger davon lassen, sagte er, „sonst geht wirklich noch etwas kaputt. Und würdest du mir bitte mal verraten, wozu das Ganze gut sein soll? „ Einen Moment noch, ich bin gleich fertig!"

    Feiler drehte das Gehäuse um, so das die papierne Kompassrose sich aus dem Kessel löste und mit der Bemalung nach unten auf seine Hand fiel.

    „Hab´ich es mir doch gedacht, sagte Feiler zu Behrens, „sieh dir mal das Kompass-Hütchen an. Na, was siehst du?

    „ Ein spitzes Hütchen - vermutlich aus Messing."

    „Eben, sagte Feiler. „Am Anfang des 19. Jahrhunderts verwendete man für Trockenkompasse bereits aufgebohrte Rubine als Kompass-Hütchen. Das hier ist primitiv aus Messingblech zusammengelötet.

    Und nach einer Weile sagte er: „Guck mal hier, die Kompass-Pinne, die hat bereits Rost angesetzt. Schon bei den frühen Trockenkompassen verwendete man aber nicht rostendes antimagnetisches Iridium für die Pinne - zumindest wurde ihre Spitze daraus hergestellt." Feiler machte eine Kunstpause.

    „Tut mir leid, aber deine Rarität ist eine plumpe Fälschung - kommt vermutlich aus Indien!"

    Behrens zuckte bei dem Urteil sichtlich zusammen.

    „Donnerwetter, du hast das aber drauf, sagte er entgeistert. „ Was ist denn nun der Kompass wert?

    „Praktisch nichts - vielleicht fünfzig Mark, antwortete Feiler und ergänzte, um die heikle Situation zu entschärfen: „Du kannst den Kompass ja auf dem nächsten Flohmarkt für echt verkaufen! Behrens funkelte Feiler an, „Mit Fälschungen will ich nichts zu tun haben, und schon gar nicht damit handeln. Aber jetzt brauch´ ich auf den Schreck erst mal einen Cognac. Bau das Ding zusammen und lass´ uns nach oben gehen!" Nach kurzer Zeit saßen sich die beiden Männer im Wohnzimmer gegenüber und prosteten sich zu.

    Feilers Blick fiel auf ein Ölgemälde, das gegenüber dem Eingang hing. Es zeigte einen offenbar hölzernen Segelkutter mit Gaffeltakelung, der sich durch eine aufgewühlte See kämpfte. Am Heck wehte die englische Flagge, und am Bug stand der Schiffsname: Mary Ann.

    „Ein dramatisches Bild", sagte Peter Feiler, und Behrens folgte seinem Blick.

    „Ja, das Boot gehört mir. Wir haben es in England gekauft und hierher auf die Elbe geholt. Kann `ne Menge Wind ab, ist sehr seetüchtig. Nur leider ist meine Frau nicht so fürs Segeln zu haben!" Bei diesen Worten ging die Tür auf und eine schlanke, große Frau mit dunklen Haaren und einer Ponyfrisur trat ein. Sie hatte eine Zeitung unter dem rechten Arm stecken und trug mit der linken Hand eine Einkaufstasche.

    „Hallo Schatz, erhob sich Behrens, „zurück vom Einkaufen? Wie du siehst, haben wir Besuch. Darf ich dir Peter Feiler vorstellen? Wie ich dir schon erzählt habe, war er mein Leidensgenosse beim Englisch-Kursus. Peter erhob sich und streckte die Hand aus.

    „ Katy, meine Frau", sagte Behrens.

    „ Peter hat mir von Ihnen erzählt, Sie sind Experte für nautische Antiquitäten".

    „ Und was für einer, fiel Behrens ihr ins Wort. „ Er hat soeben ein wertvolles Stück aus meiner Sammlung als plumpe Fälschung entlarvt!

    „Na, dann lass´ ihn man nicht zu lange deine Stücke inspizieren, sonst musst du am Ende die eine oder andere Summe zurück fordern, die du für deine wertvollen Antiquitäten bezahlt hast!" Katy lächelte ihren Mann süß-sauer an und sagte, bereits im Gehen begriffen, zu Peter:

    „Freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Ich muss mich jetzt leider um das Abendessen kümmern. Vielleicht beehren Sie uns mal wieder!"

    „Sicher. Gern." sagte Peter und fing noch einen kurzen Blick von Katy auf, der aber eher Desinteresse verriet.

    „Sie ist manchmal etwas schroff, entschuldigte sich Behrens, „und sie zeigt leider wenig Verständnis für mein Hobby. Aber so ist das eben!

    Er schenkte einen weiteren Cognac ein und hob wieder sein Glas:

    „Cheers, mein Lieber, ich habe das Gefühl, das wir noch gut zusammenarbeiten werden."

    „Das ist interessant. Würdest du dich darum kümmern und mir Bescheid sagen, sobald du Näheres weißt?"

    Kapitel 2

    Zuhause angekommen, holte Feiler eine Dose Chili con Carne aus dem Kühlschrank, schüttete den Inhalt in einen Topf und setzte ihn bei kleiner Flamme auf den Herd. Peter war Junggeselle, was bei seinem Aussehen und seinem sonnigen Gemüt ziemlich unverständlich war. Er hatte mittelblondes Haar, ein rundes Gesicht, blaue Augen und schmale Lippen, die in zwei Grübchen endeten und stets zu lächeln schienen. Er war der Typ Mann, dem jeder auf Anhieb Vertrauen schenkte und dem man keinerlei Schandtaten zutraute. Peter war ein echter Sunnyboy und fand schnell Kontakt zu seinen Mitmenschen. Diese Eigenschaften halfen ihm in seinem Gewerbe sehr, und er setzte seinen Charme und seinen Witz bei seinen Verhandlungen mit Kunden und Zulieferern gezielt ein. Frauen spielten in seinem Leben bislang nur eine Nebenrolle. Er hatte zwar diverse Freundinnen gehabt, aber immer, wenn es ernst und die Bindung zu eng wurde, erfand er Gründe, um die Verbindungen zu lösen. Seine ganze Liebe galt seinem Hobby, dem Segeln.

    Es war mehr als ein sportlicher Zeitvertreib, es war seine Passion. Dem Segelsport ordnete er alles unter, auch die Frauen. Sie bringen an Bord nur Unglück, pflegte er zu antworten, wenn ihn jemand fragte, warum er es nicht mal mit einem weiblichen Vorschoter versuchte. Seine Mitgliedschaft in dem renommierten Norddeutschen Regatta-Verein in Hamburg verschaffte ihm nicht nur die Verbindung zu wohlhabenden Clubkameraden, die empfänglich für seine geschäftlichen Aktivitäten waren, sondern sie ermöglichte ihm auch die Betreuung eines vereinseigenen Segelbootes, eines Drachen, mit dem er jede Regatta mitsegelte, die für ihn erreichbar war, meistens mit gutem Erfolg. Wann immer es seine Freizeit erlaubte - und davon hatte er viel - zog es ihn aufs Wasser. Insgeheim träumte Peter von einem eigenen Boot, einer richtigen seetüchtigen Yacht, mit der er Seetörns segeln konnte, nach Dänemark und Schweden, vielleicht sogar um die Welt. Die dafür erforderlichen Führerscheine und Befähigungsnachweise hatte er allesamt gemacht. In einem Kursus an der Hamburger Seefahrtsschule hatte er sogar den Umgang mit dem Sextanten und die Berechnungen eines Standortes auf den Weiten der Ozeane nach den Längen- und Breitenkoordinaten erlernt. Leider ließ sich sein Traum nicht erfüllen - zumindest noch nicht, denn für eine seetüchtige Yacht fehlte ihm das Geld. Aber träumen, sagte er sich immer wieder, darf man wohl, und vielleicht machte er ja eines Tages doch den ganz großen Coup.

    Nach dem Abendessen ging Feiler hinunter in sein „Magazin", wie er es nannte. Auf Borden an den Wänden lagerten maritime Ausrüstungsgegenstände aller Art. In einer Ecke hingen alte Fischernetze, daneben standen ausgediente Aalreusen, und grüne Glaskugeln waren eingeknüpft in Fischernetze, die früher einmal zum Aufstellen des Fanggeschirrs gedient haben mochten. Eine Abteilung beherbergte ausgestopfte Baby-Haie, furchteinflößende Haigebisse, Kugelfische, getrocknete Seesterne, Korallenstücke und rotlackierte Hummer aus Kunststoff. Auf den gegenüberliegenden Regalen standen elektrifizierte Positionslampen und Schiffslaternen, darunter lagerten Steuerräder in verschiedenen Größen und Ausführungen. Das Prunkstück aber war eine aus Messing gefertigte Replik eines Maschinentelegraphen der Firma Chatburns, Liverpool. Das gute Stück hatte man zum Bierzapfhahn degradiert. Feiler machte mit diesen maritimen Accessoires ein gutes Geschäft, denn in den Siebziger Jahren gehörte es zum guten Ton, Gäste in die eigene Kellerbar einzuladen. Dutzende Reihenhaus- und Flachdach-Bungalowbesitzer zählten zu Feilers Kunden, die ihre Bars mit allem möglichen maritimen Kitsch ausstatteten, um ihnen ein entsprechendes Flair zu verleihen. Ohnehin konnte Peter die meisten der angesammelten Ausrüstungsgegenstände, die durch die Lagerung oder durch eine Behandlung mit Schwefelsäure eine mehr oder weniger ausgeprägte Patina angesetzt hatten, dem Laien ohne weiteres als echt antik verkaufen, zumal eingravierte Jahreszahlen und Schiffsnamen für die erforderliche Authentizität sorgten. Tatsächlich aber kamen fast alle Stücke, speziell die aus Messing und Bronze gefertigten, aus Indien und Thailand, wo sich zahlreiche Betriebe auf die Herstellung nachgemachter, historischer Schiffsausrüstung spezialisiert hatten. Die meiste Ware bezog Feiler von einem Bremer Importeur, der peinlich darauf achtete, dass keiner seiner Kunden einen Hinweis auf die ausländischen Hersteller erhielt. Gar zu gerne hätte Peter eine Adresse gehabt, die es ihm möglich machte, selbst Kontakt zu einem der Fabrikanten aufzunehmen.

    Feiler stöberte in einer Ecke seines Magazins herum. Endlich fand er das Gesuchte: Unter einem Fischernetz holte er ein angestaubtes, dunkelblau lackiertes Brett hervor. Es maß einen Meter in der Länge und war etwa dreißig Zentimeter breit. Darauf war ein aus massivem Kiefernholz gebautes Halbmodell eines Segelschiffes montiert. In der unteren rechten Ecke stand in schwarzer Antiqua-Schrift die aufgemalte Jahreszahl 1861, und über dem Modellrumpf war in gleicher Schrift der Schiffsname „Obergine aufgemalt. Die rechte obere Hälfte der Grundplatte trug die Aufschrift: „ Redg. Hull.

    Der Rumpf des Halbmodells war mit Klarlack lackiert, so dass die einzelnen verleimten Holzschichten gut zu erkennen waren. Jeder durch einen Plankengang angedeutete Längsschnitt des Rumpfes trug zwei Buchstaben- Kürzel sowie eine Nummer, anhand derer sich die Bootsbauer auf dem gezeichneten Längs- und Spantenriss beim Bau des Schiffes orientieren konnten. Mit schwarzer Farbe waren Geschützpforten auf die Schanz gemalt, so dass es sich wohl um ein bewaffnetes Fregattschiff handeln musste. Unter der Schanz deutete eine dünne, aufgeklebte Scheuerleiste den Deckssprung an, und am Bug stilisierte ein runder, kurzer Holzpflock den Klüverbaum. Darunter hatte man ziemlich ungeschickt mit Goldbronze eine Bugverzierung aufgemalt. Selbst ein Laie konnte erkennen, dass es sich hier nicht um ein Modell aus dem 19. Jahrhundert handeln konnte. Der Lack glänzte wie neu, und es gab keinerlei Gebrauchsspuren. Es war eine – zugeben sehr schön gearbeitete – Replik eines alten Werftmodells. Peter klemmte sich das Modell unter den Arm und ging zu einer grauen Stahltür, die in die Rückwand des Magazins eingelassen war. Aus einem Karton, der auf einem Bord neben der Tür stand, fischte er einen Schlüssel heraus und öffnete damit sein „ Allerheiligstes", wie er es nannte. Der Raum, den er nun betrat, war nicht sehr groß. Früher hatten hier die Heizöltanks gestanden, die entfernt worden waren, nachdem Peter die Heizung auf Gas umgestellt hatte. Der Raum wurde von Neonröhren, die auf der gesamten Deckenlänge angebracht waren, taghell erleuchtet. Auch hier waren ringsum an den Wänden Borde angebracht, auf denen zahlreiche Kartons und kleine Holzkästen standen. Sie enthielten zum großen Teil Farbpulver in allen Farbtönen. Darin steckten Plastiklöffel. Auf anderen Borden waren diverse Dosen und Flaschen aufgereiht, die mit unterschiedlichen Substanzen gefüllt waren. Den Raum beherrschte eine große Hobelbank, die gleichzeitig als Arbeitstisch diente und mit allerlei Utensilien vollgestellt war. An der Wand waren leere Marmeladengläser aufgereiht, daneben steckten Reagenzgläser in passenden Ständern. Am merkwürdigsten aber war eine Anzahl an Eierkartons, in denen rohe Hühnereier aufbewahrt wurden. Die übrige Einrichtung des Raumes bestand aus Schränken, in denen Werkzeuge aller Art, Schleifpapiere, Pinsel und andere Malutensilien lagerten. Vor den Regalen standen auf dem Fußboden diverse kleinere Schiffsmodelle, deren demolierte Takelagen repariert werden mussten, sowie Messing- Schiffslampen und andere nautische Geräte aus Messing und Bronze, aber auch kleine Mahagoni-Kommoden und Schränkchen, wie sie früher einmal in den Kapitäns- und Offizierskajüten der Frachtsegler eingebaut waren. Peter legte die Platte mit dem Modell auf die Hobelbank und schaltete die tiefhängende Neon-Arbeitsleuchte ein. Dann suchte er diverse Arbeitsgeräte sowie Schleifpapiere hervor und füllte im Waschbecken an der Wand eine kleine Plastikschale mit Wasser. Vorsichtig begann er nun, mit feinem Nassschliff-Papier zuerst die Modellplatte und danach das Modell abzuschleifen. Die Schrift mit der Jahreszahl sowie den Schiffsnamen bearbeitete er so lange, bis die Zahlen und Buchstaben gerade noch zu erkennen waren. Danach nahm er einen groben Meißel zur Hand und schlug ihn an mehreren Stellen kräftig in das weiche Kiefernholz des Rumpfes, so dass Kerben und Löcher zurückblieben. Mit dem Stechbeitel ramponierte er das Holz weiter, indem er die Verleimungen der Planken aufritzte, so dass sie wie aufgesprungen wirkten. Zum Schluss entfernte er die Goldbronze der Bugverzierung, nachdem er die Ornamente mit Bleistift auf ein Blatt Papier gezeichnet hatte.

    Zufrieden betrachtete er sein Werk. Dann nahm er ein leeres Marmeladenglas und goss aus einer Flasche ein wenig Leinöl hinein, dem er ein paar Tropfen Sikkativ hinzufügte. Aus den Farbpulvern wählte er die Kartons mit Umbra grünlich und Hellbraun aus und rührte davon kleine Menge in das Leinöl ein. Daraufhin verrieb er mit einem weichen Lappenballen die Lasur auf dem Modellrumpf, wobei er darauf achtete, das möglichst viele Farbpigmente in den Kerben und Ritzen zurückblieben. Peter stellte das Modell hochkant an eine Schrankwand und widmete sich einer anderen Vorbereitung. Aus einem der Eierkartons fischte er zwei Hühnereier heraus, nahm ein neues Marmeladenglas und ging damit zum Waschbecken, wo er die Eier aufschlug und das Eiweiß ablaufen ließ, während er das Eigelb in das Glas schüttete. Dann verrührte er es kräftig und füllte damit genau die Hälfte eines Reagenzglases im Ständer. Ein zweites füllte er ebenfalls bis zur Hälfte mit Leinöl und ein drittes mit Leitungswasser. Nun goss er alle Substanzen zusammen in ein weiteres Glas und verrührte den Inhalt kräftig mit einem Löffel. In die so entstandene Emulsion rührte er nach und nach ein wenig Hellblau ein, dem er eine Messerspitze von Umbra-grünlich sowie sehr wenig schwarzes Pigment hinzufügte. Nachdem er das Modell zurück auf die Hobelbank gelegt hatte, trug er mit einem feinen Marderhaar–Pinsel die Tempera-Lasur auf die dunkelblau lackierte Modellplatte auf, ließ sie einige Zeit antrocknen und verwischte sie dann mit einem weichen Baumwolllappen, so dass die dunklere Grundfarbe hier und da durchschimmerte. Besonders bei der Beschriftung rieb er kräftiger, so dass sie gerade noch lesbar war. Schließlich stellte er das Modell in die Nähe der Heizung.

    Am nächsten Morgen waren die Leinöl- und Tempera-Lasuren gut durchgetrocknet, so dass Peter mit einem feinen Schleifpapier einige Male vorsichtig darüber reiben konnte. So verstärkte er den optischen Eindruck der natürlichen Alterung. Die wahre künstlerische Arbeit aber stand noch an : Die goldene Ornamentik am Bug musste wieder angebracht werden. Peter wusste sehr wohl, dass man in der Mitte des 19. Jahrhunderts derartige Modellverzierungen nicht aus Malbronze, sondern ausschließlich aus echtem Blattgold herstellte, ebenso wie man keine Lacke, sondern meistens Temperafarben und Leinöl für die Bemalung der Modelle verwendete. Er setzte sich auf einen alten Klavierschemel, den er auf die richtige Arbeitshöhe geschraubt hatte, und begann, das Bugornament mit einem feinen Stahlgriffel in den dunklen Untergrund einzuritzen, goss etwas Mastix– Anlegeöl in einen Eierbecher und malte mit Hilfe eines feinen Pinsels die Ornamentik aus. Nachdem die Arbeit vollendet war, ließ er das Anlegeöl einige Zeit antrocknen, währenddessen er aus einer Schrankschublade ein Kuvert holte, aus dem er ein in dünnes Seidenpapier eingewickeltes Päckchen zog. Zwischen einzelnen Papierschichten lagerten Blattgold-Blätter, die so dünn waren, dass sie bereits beim Ausatmen verweht wurden.

    Peter nahm einen flachen, etwa zwei Zentimeter breiten Marderhaar– Pinsel, rieb die Haare an seiner Jacke und näherte sich mit dem Pinsel vorsichtig einem Stück Blattgold.

    Sofort wurde es von der elektrischen Aufladung angezogen, und Peter hob es mit dem Pinsel an und ließ es auf das Anlegeöl des Ornamentes fallen. Dort haftete das Gold sofort fest, während das überschüssige Material mit dem Pinsel abgewedelt werden konnte. Abschließend wischte er noch einige Male über die Ornamentik, wobei kleine Risse im Blattgold entstanden, was wie eine natürliche Alterung wirkte. Zum Schluss tupfte er noch etwas goldbraunes Leinöl-Firnis über sein Kunstwerk. Peter stellte das Halbmodell an die Wand auf den Arbeitstisch und betrachtete es eingehend, wobei sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem runden Gesicht breit machte. Perfekt, dachte er, eindeutig ein Werftmodell aus dem frühen 19. Jahrhundert. Echt antik! Es sollte ein erster Test werden : Würde Behrens den Köder schlucken? Schließlich hatte er ja verlauten lassen, dass er besonders an historischen Werftmodellen interessiert sei. Und nun bekam er eins, und das sollte nicht mal übermäßig teuer sein, da er es selbst preiswert erstanden hatte. Zwei Tage später rief Feiler bei Behrens an:

    „Ich habe was für dich, das wird dich interessieren – ein historisches Werft- Halbmodell von einem Fregattschiff. Was meinst du, soll ich mal damit vorbei kommen ?"

    „Aber klar doch, wo hast du das denn aufgetrieben? Ich möchte es unbedingt sehen!"

    Sie verabredeten sich für den nächsten Tag gegen Abend, nachdem Behrens aus dem Büro gekommen war.

    „ Du kannst gerne bei uns essen sagte er noch, „ meine Frau kocht prima!

    Am nächsten Tag regnete es wieder, als Peter aus der Garage fuhr. Es wollte jetzt Ende November kaum noch richtig hell werden, besonders wenn der Tag so grau war wie heute. Die Straßenbeleuchtung war noch eingeschaltet, und der Schein der grellen Quecksilberdampf–Leuchten spiegelte sich in den Pfützen am Straßenrand. Der Wetterbericht hatte Frost und Schneeregen vorhergesagt. Peter fuhr von Jenfeld aus Richtung Innenstadt, bog in die Rodigallee ab und reihte sich auf der Wandsbeker Markt-Straße in den lebhaften Verkehr ein.

    Als er den Wandsbeker Markt erreicht hatte, suchte er einen Parkplatz, den er wundersamerweise sofort fand, weil ein anderes Auto ausscherte. Dann stieg er aus, schlug den Jackenkragen hoch und ging mit schnellen Schritten durch den nun stärker fallenden Regen zu einem Imbiss, über dessen Schaufensterscheibe auf einem Schild „Vegan-Bistro stand, und darunter „Nina´s vegetarisches Kochstübchen. Seit einiger Zeit hatte Peter Gefallen an vegetarischen Speisen gefunden, denn er glaubte, sie würden ihm besser bekommen. Außerdem machte er sich nicht viel aus Fleisch. Als Stammgast begrüßte ihn Nina über die Theke hinweg mit Handschlag, und es war unübersehbar, dass sie sich über den nun fast täglichen Besuch freute. Peters fröhliches Wesen, sein stetes Lächeln und seine lustigen Schnacks gefielen ihr. Außerdem sah der Mann gut aus und machte ihr Komplimente. Nina war seit einem Jahr geschieden und betrieb den Imbiss jetzt alleine, was nicht immer leicht war. Da wäre ein Mann wie Peter schon eine gute Ergänzung.

    „Moin sagte er, „ ist das ein Sauwetter heute, ich brauche unbedingt was Warmes im Magen!

    „Wo willst du denn bei dem Schietwetter drauf los, da jagt man doch keinen Hund vor die Tür? " fragte sie.

    „Ich muss zum Hafen, nach St. Pauli."

    Ninas Augen verdunkelten sich:

    „Bevor du in den Puff gehst, solltest du überlegen, ob es nicht eine preiswertere und bessere Alternative gibt!" Sie lächelte ihn verführerisch an.

    „Keine Sorge, ich will zu Harrys Hafenbazar und etwas Spezielles kaufen."

    „Na dann – und heute wie immer?"

    „Klar", antwortete Peter.Sie machte sich an der Friteuse zu schaffen, legte eine große Gemüsefrikadelle ein und goss gleichzeitig einen heißen Apfelpunsch in ein hohes Glas.

    „Lass es dir schmecken", sagte sie, nachdem sie beides über die Theke gereicht hatte. Ein älterer Mann und eine wesentlich jüngere Frau betraten den Imbiss und bestellten ebenfalls Gemüsefrikadellen, für deren Zubereitung Nina ein selbstausgeklügeltes Geheimrezept hatte. Gemüsefrikadellen waren der Renner! Peter aß schweigend an einem Stehtisch, blickte kurz in die dort ausliegende Bild-Zeitung, legte das Geld auf die Glasplatte des Tresens und verließ dann sehr schnell, nicht ohne Nina mit einem Augenzwinkern zu beglücken, das Bistro. Sein Weg nach St. Pauli führte ihn durch die Innenstadt, und er musste sich mühsam durch das Verkehrschaos kämpfen. Schließlich erreichte er die Reeperbahn. Er parkte den Brezelfenster-VW in der Tiefgarage am Spielbudenplatz und fluchte über die exorbitanten Einstellpreise. Man hatte sie schon wieder erhöht. Als er die Tiefgarage verließ, hatte der Regen aufgehört, die Straßen und Gehsteige glänzten immer noch vor Nässe. Bereits jetzt am Mittag waren die meisten Neon-Reklamen an den Restaurants, Bars, den Spielhallen, Theatern, Dessous-Geschäften, Nachtclubs und Bierschwemmen in voller Aktion. Es flimmerte und funkelte die Reeperbahn hinunter bis zu dem in der Ferne liegenden Nobistor. Sexkinos und Sexshops warben mit eindeutigen Bemalungen ihrer Fassaden für Männerfreuden, und Türsteher versuchten mit aufdringlichen Manövern ahnungslose Touristen, die schon zu dieser Mittagsstunde unterwegs waren, in ihre Etablissements zu lotsen. Peter kümmerte sich nicht um diese Verlockungen, sondern ging eilig den Spielbudenplatz hinunter, vorbei an der weltweit bekannten David-Polizeiwache, und bog in die Davidstraße ein, bis sich an der rechten Seite eine Straßeneinbuchtung auftat, die von überlappenden grauen Eisentoren von jeder Einsicht abgeschirmt war. Aus den beiden Durchgängen kamen Männer jeden Alters heraus, andere gingen hinein.Vor den Toren stand eine Gruppe bayerischer Touristen, Frauen und Männer, die sich um den Reiseleiter wie Küken um eine Glucke scharten.

    „Das hier, verkündete er, „ist die weltberühmte Herbertstraße, Hamburg´s bekanntestes Bordell. Sie können gern einmal hineingehen und einen Blick auf die Schönheiten in den Schaufenstern werfen – aber nur die Herren, bitteschön! Die Damen müssen leider draußen bleiben. Die Männer knufften sich feixend in die Rippen, anzügliche Bemerkungen flogen hin und her, während die Frauen sich nur ein gequältes Lachen abrangen. Dann verschwand die ganze Männertruppe mit ihren grünen Gamsbart-Hüten hinter den Tordurchgängen. Peter ging eilig die Davidstraße weiter in Richtung Hafen hinunter, bis er rechts in die Bernhard-Nocht-Straße einbog. Nach wenigen Metern stand er vor einem eher unscheinbaren Geschäftseingang, zu dem es einige Stufen hinab ging. Dass es sich hier indes um einen besonderen Laden handelte, verkündeten merkwürdige Dekorationen hinter einer fast blinden Schaufensterscheibe. Da lag ein ausgestopftes Krokodil und schien mit seinem aufgerissenen Maul dem Betrachter zu drohen. Im Hintergrund hingen furchterweckende Masken, die offensichtlich aus afrikanischen Ländern stammten. Zwei alte Schifferklaviere standen neben ausgestopften bunten Vögeln, eine weiße Cobra schlängelte sich von der Decke, karibische Voodoo-Puppen, schon grau angestaubt, blickten wie Wesen aus einer anderen Welt aus einem als Gefäß umfunktionierten Elefantenfuß. Vor der Eingangstür stand ein wohl eineinhalb Meter hoher, geschnitzter und bunt bemalter Totempfahl, an dem ein mit einer Heftzwecke angepinntes Pappschild hing: „Bitte treten Sie ein." Peter tat dies und ging dann auf einen älteren Mann zu, den das Klingeln der Ladenglocke herbeigerufen hatte. Er mochte um die siebzig Jahre alt sein. Ein weißgrauer, zotteliger Vollbart rahmte sein Gesicht fast vollständig ein. Um die Halbglatze ringelte sich ein ebenfalls weißgrauer, gelockter Haarkranz. Zwei blaue Augen blickten den Ankömmling durch eine randlose Brille neugierig an.

    „Hallo Harry, bin mal wieder da", begrüßte Peter den Verkäufer und schlug ihm lachend auf die Schulter.

    Harry machte ein verkniffenes Gesicht: „Willst wohl wieder was abstauben und selbst teuer verscheuern, sagte er. „Worauf bist du denn heute scharf?

    „Weiß ich noch nicht! Aber es muss was Besonderes sein. Ich muss da ein Türchen – ach, was sage ich – ein Tor öffnen bei jemandem, der vielleicht mal mein bester Kunde wird. Hast du in letzter Zeit so was wie `ne Rarität reinbekommen?"

    „Das hier sind alles Raritäten, antwortete Harry, „aber ich glaube, ich hab´da was! Dann komm´ mal mit!

    Harry Rosenberg ging voraus. Hinter dem Verkaufsraum tat sich ein wahres Labyrinth von katakombenartigen Kellerräumen auf, die durch schmale Gänge miteinander verbunden waren. Jeder Raum war bis unter die Decke vollgestellt mit Souvenirs aus aller Herren Länder. Ursprünglich hatte der Seemann Rosenberg hier einen Münz- und Briefmarkenladen betrieben, während die Masken, Schilde, Speere, Trommeln und ausgestopften Tiere nur als Dekoration gedacht waren. Doch dann kamen Seeleute auf Landurlaub vorbei, sahen die Souvenirs und boten Harry die eigenen Mitbringsel an. Und Harry kaufte und verkaufte die Kuriositäten mit gutem Gewinn. Das sprach sich herum, und bald steuerten die Seeleute mit ihren exotischen Errungenschaften und eigenen Seemannsarbeiten gezielt den unscheinbaren Laden in der Bernhard-Nocht-Straße an, um ihre Heuer aufzubessern – die dann praktischerweise gleich nebenan in St. Pauli´s Kneipen versoffen wurde. Bald füllten die Räume weit über eintausend Artefakte aller Art, und es gab keinen Reiseführer über Hamburg, in dem nicht Harrys Hafenbazar erwähnt wurde. Und die Touristen kamen in Scharen, so viele, dass Harry Eintritt nehmen musste, der bei einem Kauf verrechnet wurde. Harry wuselte so schnell durch die Gänge, dass Peter kaum folgen konnte. Dann standen sie vor einer metallenen Kellertür, die Harry aufschloss. In dem kleinen Raum dahinter bewahrte er seine Kostbarkeiten auf, die nicht für oberflächliche Besucher und schon gar nicht für Langfinger, die ihn auch hin und wieder heimsuchten, zugänglich sein sollten. Hier hatte Peter sich noch nie umsehen dürfen. Und dann fiel sein Blick auf eine Vitrine, in der in halbes Dutzend menschlicher mumifizierter Köpfe lagerten.

    Harry ging zu einer Kommode, aus deren Schublade er ein offensichtlich altes, rotbraunes Mahagoni-Kästchen holte. „Hier, das wird dich interessieren – habe ich gerade reinbekommen – eine echte Rarität!" Harry öffnete den Deckel des Kastens, der mit dunkelrotem Samt ausgeschlagen war. Darin lag ein wohl zwanzig Zentimeter langer Walzahn. Harry hob ihn vorsichtig heraus und reichte ihn Peter. Die Oberfläche war poliert, und eine leicht gelbliche Verfärbung deutete auf ein hohes Alter des Zahnes hin. Peter wollte seinen Augen nicht trauen: Der Zahn war mit einer außergewöhnlichen Zeichnung versehen. Ein ganzes Geschwader historischer Segelschiffe schien in einen Kampf verwickelt zu sein. Einige Schiffe brannten, andere trieben entmastet auf der See. Einige Matrosen hatten sich in Boote gerettet und versuchten, aus dem Zentrum der Schlacht wegzurudern. Noch nie hatte Peter eine so reichhaltige Ritzzeichnung auf einem Pottwal-Zahn gesehen. Alle Details waren in haarfeinen Schraffuren ausgeführt, und selbst die Takelagen der Kriegsschiffe hatte der Künstler vollständig dargestellt.

    „Tja, da staunst du, was?", fragte Harry Rosenberg.

    „Und ob, antwortete Peter, „das ist ein tolles Stück.

    „Willst du es haben? Der Zahn mit diesen Scrimshaw-Zeichnungen kann dreihundert Jahre alt sein. Das kann man aufgrund der Patina und der abgebildeten Schiffstypen schätzen."

    „Möchte ich schon, aber es kommt drauf an, was du dafür haben willst. Es wäre genau das, was ich suche."

    „Da ich weiß, dass du sowieso hinterher mindestens das Doppelte aufschlägst, lass´ ich dir den Zahn für fünftausend Mark!"

    „Quatsch, entsetzte sich Peter, „das glaubst du doch wohl selbst nicht, dass du den Zahn für diese Summe los wirst!

    „Was willst du denn ausgeben?"

    „Zweitausend, sagte Peter. Sie einigten sich auf dreitausend Mark. Peter stellte einen Scheck aus, von dem Harry aus Erfahrung wusste, dass er auch gedeckt war, und ließ sich den wertvollen Kasten in grobes, braunes Packpapier einwickeln. Zum Abschied fragte Peter: „Du hast nicht zufällig noch einen unpolierten Pottwal-Zahn auf Lager? Harry zwirbelte einen Augenblick seinen Bart und dachte nach. Dann eilte er durch einen Gang und kam gleich darauf mit einem Walzahn zurück, dessen Oberfläche noch so beschaffen war, wie ihn der Walfänger aus dem Kiefer gebrochen hatte: geriffelt, mit Schrunden und von gelblichweißer Farbe.

    „Hier, den schenke ich dir als Zugabe, verkündete Rosenberg, „damit du mich bald wieder beehrst!

    Gut gelaunt fuhr Feiler nach Hause. Der Besuch von Harrys Hafenbazar hatte sich wieder mal gelohnt. Heute Abend sollte es sich zeigen, ob Behrens den Köder schluckte und sich das auf antik getrimmte Werft-Halbmodell andrehen ließ. Bevor Peter in Jenfeld ankam, hielt er noch kurz vor einem Blumenladen an und kaufte für Katy einen großen Strauß gelber Teerosen. Auf seinem Anrufbeantworter hatte Behrens die Nachricht hinterlassen, dass sie ihn um 19 Uhr zum Abendessen erwarteten, und dass noch ein weiterer Gast anwesend sein würde. Da Peter nicht viel für Anzüge und Krawatten übrig hatte, zog er einen dünnen weißen Wollpulli zur dunkelblauen Hose an, was ihm das Aussehen eines besser besoldeten Seemannes auf Landgang verlieh. Pünktlich um 19 Uhr parkte er den Brezelfenster-VW vor der Behrens’schen Villa in Klein-Flottbek. Schwer bepackt mit einem großen und einem kleineren Paket, geheimnisvoll in einfachem Papier eingeschlagen, sowie einem Rosenstrauß in durchsichtiger Folie ging Peter zur Haustür und klingelt. Behrens öffnete und umarmte ihn zur Begrüßung freundschaftlich. Katy tauchte hinter ihm auf, so dass Peter den Rosenstrauß überreichen konnte.

    „Oh, sagte sie und lächelte, „woher wussten Sie, dass das meine Lieblingsblumen sind?

    „Intuition" antwortete Peter ebenfalls lächelnd, wobei ihm Katy heute wesentlich sympathischer erschien, zumal sie zum kurzen Rock eine leuchtend blaue, seidene Bluse mit weißen Tupfen trug, die ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Behrens nahm Peter die Pakete ab.

    „Vorsichtig hinstellen, sagte Peter „extrem empfindlich!

    Behrens Neugier war bereits geweckt. Im Esszimmer standen auf einem Beistelltisch drei Sherry-Gläser und eine Flasche Dry Pale bereit. Behrens schenkte ein und überreichte dem Gast ein Glas, während Katy sich entschuldigte, weil sie in der Küche nach dem Essen sehen musste. Es duftete bereits verführerisch. Gerade als die beiden Männer sich zugeprostet hatten, klingelte es erneut. Peter Feiler warf einen schnellen Blick durch das Wohnzimmerfenster und sah, dass ein eleganter, silberfarbener Mercedes hinter seinem Brezelfenster-VW geparkt worden war. Behrens führte einen großen, schlanken und sportlich wirkenden Mann herein, der etwa fünfundvierzig Jahre alt sein mochte. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer auffallend langen, hakenförmig gebogenen Nase und strohblonde Haare. Er trug einen blauen Blazer mit vergoldeten Anker-Knöpfen zur grauen Flanellhose und schwarze Halbschuhe. Sein blau-weiß gestreiftes Hemd schmückte eine dunkelblaue Seidenkrawatte, die mit kleinen stilisierten Segelschiffen bestickt war. Echt hanseatisch, dachte Peter. Behrens stellte seinen neuen Gast vor:

    „Darf ich dich mit Matthias Janßen bekanntmachen? In Hamburg besser bekannt als Barkassen-Janßen", fügte er lachend hinzu.

    Auch Janßen rang sich ein verkniffenes Lächeln ab, wobei man seinen Gesichtsausdruck nicht richtig einschätzen konnte, weil er trotz des trüben November-Wetters eine dunkle Sonnenbrille trug und diese auch im Haus nicht absetzte.

    „Und das ist mein Freund Peter Feiler, sagte Behrens, „ein großer Experte in Sachen Nautiquitäten!

    Die beiden Männer gaben sich die Hand.

    „Freut mich, sagte Feiler, „sind Sie auch ein Freund nautischer Antiquitäten?

    „Wie man´s nimmt, antwortete Janßen, und fügte mit einem schiefen Seitenblick auf Behrens hinzu: „sofern sie echt sind!

    Behrens stupste Janßen freundschaftlich in die Rippen, worauf sich die drei Männer zum Sherry-Tischchen begaben und die Gläser erhoben. Sie waren kaum geleert, als Katy ins Wohnzimmer trat und die Herren zu Tisch bat. Sie trug eine Meerrettichschaum-Suppe mit Flusskrebsen auf, der geschmorte Entenbrust in Orangensoße mit Brokkoli folgte. Die Nachspeise unterstrich die hanseatische Bodenständigkeit: Es gab duftende, herbstliche Bratäpfel, gefüllt mit Walnüssen und Kirschkonfitüre, abgerundet durch einen Schuss Rum, zu denen Vanillesoße gereicht wurde. Die Herren waren des Lobes voll über Katy´s Kochkünste, und während Behrens Havanna-Zigarren anbot, entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung:

    „Ist das Ihre Barkassen-Firma?" fragte Feiler und deutete auf eine kleine blau-gelbe Emailleflagge mit den Initialen BJ, die Janßen an seinem Revers trug.

    „Ja, da haben Sie Recht, mein Unternehmen ist schon fast achtzig Jahre alt, mein Großvater hat die Firma gegründet, damals,

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