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Adria und mehr: Mit dem Fahrrad über die Alpen, durch Italien und den Balkan - Mein Tagebuch 2015
Adria und mehr: Mit dem Fahrrad über die Alpen, durch Italien und den Balkan - Mein Tagebuch 2015
Adria und mehr: Mit dem Fahrrad über die Alpen, durch Italien und den Balkan - Mein Tagebuch 2015
eBook365 Seiten4 Stunden

Adria und mehr: Mit dem Fahrrad über die Alpen, durch Italien und den Balkan - Mein Tagebuch 2015

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Über dieses E-Book

Stillstand ist nichts für den Autor, der 2003 aus dem Berufsleben ausgeschieden ist und seither in jedem Sommer eine Große Radtour unternimmt, bei der er von der Pfalz aus meist zu einem Ende Europas und zurück radelt. Sie ist für ihn alles, Herausforderung, Selbstbestätigung, Freiheit, Stillen seiner Neugier auf Neues, körperliche Ertüchtigung und Entschleunigung des Alterungsprozesses. 2015 fährt er entlang der Via Claudia Augusta über die Alpen, am Po zur Adria und an der gesamten Küste entlang bis Brindisi an der Südspitze Italiens. Großartige Städte liegen auf seiner Route nach Süden wie Augsburg, Verona, Ravenna und Polignano. Besonders spannend ist die Rückfahrt auf einer zentralen Route durch den Balkan, auf der er die Hauptstädte Podgorica, Sarajevo und Zagreb besucht. Sein Buch ist ein informativer Reisebericht und wirft ein Licht auf den Zustand Europas im Spannungsfeld zwischen Ost und West.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Dez. 2016
ISBN9783734565250
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    Buchvorschau

    Adria und mehr - Volker Mayer

    I. Vorbemerkungen zum Frühjahr

    Verklärt romantisch sind meine Erinnerungen an die letzten Jahre. Teils abenteuerliche Reisen und Radtouren bestimmten meine Jahresabläufe mit Eindrücken, die schon fast zu vielfältig und kaum noch zu verarbeiten sind. Die schönen Erlebnisse glänzen im Rückblick und verlangen nach einer Fortsetzung. Die Qualen, Pannen und Gefahrenmomente sind verblasst und können meinen Tatendrang kaum mehr dämpfen. Und doch sind sie im Unterbewusstsein gespeichert und bestimmen das, was man Erfahrung nennt. Immerhin bewältigte ich die letzten drei Radtouren über zusammen etwa 13.000 km ohne jede Panne und die letzte zudem ohne Sturz, und noch verfüge ich über die Frische und Disziplin, sie in literarischen Tagebüchern aufzuarbeiten, während meine nicht weniger spannenden Winterreisen im Archiv dämmern und vergeblich darauf warten.

    Nach der Silvesternacht zusammen mit langjährigen Freunden im Schwäbischen beginnt das Neue Jahr 2015, das nicht weniger aufregend verlaufen soll als die letzten. Viel mehr als meine Befindlichkeit bedrückt mich die rationale Erkenntnis, dass ich wieder ein Jahr älter geworden und im 73. Lebensjahr bin. Kann ich erneut eine Radtour wagen wie in den letzten zwölf Jahren, die mich meist jeweils von Landau aus an ein Ende Europas geführt hat? Kann ich meinem Körper erneut eine Strecke wie nach Istanbul (2007), nach Estland (2008), zum Nordkap (2010), nach Sagres/Portugal (2011), auf die Halbinsel Krim (2012) oder nach Inverness/Schottland (2013) zumuten? Zum Glück ist diese Frage nicht am Beginn des Jahres zu beantworten, da erst die nunmehr seit Jahren eingespielten Rituale abzuarbeiten sind.

    Schon am dritten Tag des Jahres fliege ich zur Verkürzung des Winters über Dubai nach Kuala Lumpur, um Malaysia kennenzulernen. Hier besuche ich nach der Hauptstadt die Insel Penang mit Georgetown, die alte Piratenstadt Melakka mit ihren portugiesischen, holländischen und englischen Wurzeln, die Cameron Highlands mit den zauberhaften Teeplantagen, bereise Ostmalaysia auf der Insel Borneo mit seinen Naturparks und Orang-Utan-Reservaten, das rätselhafte Emirat Brunei, die vor Finanzkraft explodierende Weltmetropole Singapur und verlebe schließlich auf der reichlich unberührten Insel Tioman vor der Ostküste der malayischen Halbinsel sehr entspannte Urlaubstage. Ich nehme ein Schwellenland mit gutem Entwicklungsstand und fortschrittlicher Infrastruktur wahr, mit ordentlichen demokratischen Verhältnissen und einem angenehm gemäßigten Islam, von dem ich überzeugt bin, dass er im Sinne einer globalen Aussöhnung Vorbildcharakter haben kann.

    Auch eine Skifreizeit in Mühlbach am Hochkönig gehört zu meinen Ritualen im Frühjahr. Einmal mehr bin ich begeistert von der Qualität der Pisten und der herrlichen Berglandschaft. Auffällig erscheint mir zudem die sprunghaft verbesserte Gastronomie am Berg. Wenn auf der Tiergartenalm die Sonne scheint, Azurblau das Weiß krönt, und ich mich mit einem Weißbier in einen knautschigen Sessel flegeln kann, dann ist die Welt in Ordnung, und ich bedauere, dass all dies endlich ist. Der als Abenteuer unverdächtige Wohlfühlurlaub mit Lebenspartnerin führt mich nach Portugal an die Atlantikküste bei Sao Pedro de Moël. 2012 bin ich an dieser wildromantischen Küste entlang bis zur Südwestspitze von Portugal bei Sagres geradelt. Die Erinnerung an diese fantastische Landschaft, die Besuche historischer Stätten wie Alcobaça, Batalha, Obidos, Coimbra und Nazaré wird meinen Rückblick auf das Jahr sicherlich bereichern.

    Nicht nur meine persönlichen Rituale des Frühjahrs sind erwähnenswert. Die Gewissheit, dass wir Zeitzeugen eines fortschreitenden, unaufhaltsamen Wandels sind, veranlasst mich, meinen Reisebericht in das Zeitgeschehen einzubetten. Nachrichten sind meine Wegbegleiter und stehen im Kontext mit meinen Erlebnissen. Die traurigen Meldungen dieses Frühjahrs sind der Tod von Udo Lattek mit 80 und der Selbstmord des beliebten Wettermoderators Ben Wettervogel. Der großartige, visionäre Stuttgarter Architekt Frei Otto stirbt mit 89 Jahren, der unvergessliche Altbundespräsident Richard von Weizsäcker mit 94 Jahren. Helmut Dietl, genialer Regisseur, ist bereits einige Zeit von seiner schweren Krankheit gezeichnet, als er mit 73 stirbt. Seine Krebserkrankung überlebt Percy Sledge (74) nicht. Das „gute Gewissen Deutschlands und der leicht durch seine braune Jugend belastete Literaturnobelpreisträger Günter Grass stirbt mit 87 in Lübeck. Kurz bevor ich in meine Große Radtour starte versterben der großartige „Happy-Sound- Erfinder James Last mit 86 und Pierre Brice („Winnetou") mit 87.

    Das Neue Jahr ist kaum eine Woche alt, als Europa durch das Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo" in Paris aufgerüttelt wird. Später erschüttert ein Terroranschlag auf das Bardo-Museum in Tunis mit 21 Toten die hoffnungsvolle, junge Demokratie von Tunesien. Ein Anschlag der somalischen Al Shabab-Miliz auf ein Studentenheim in Nairobi und gezielt auf Christen fordert 147 Tote.

    In der Luftfahrt geschieht tatsächlich, was man bislang nicht für möglich gehalten hatte: Ein unter Depressionen leidender Copilot bringt eine Maschine der „Germanwings" in voller Absicht zum Absturz und tötet sich sowie 149 Menschen an Bord. Ein verheerendes Erdbeben zerstört weite Bereiche Nepals. Die Zahl der Toten steigt auf über 8.000.

    In der Ostukraine schwelt der Konflikt weiter, Waffenstillstandsvereinbarungen werden zunächst ignoriert, erst im Februar blinkt Hoffnung auf, als die schweren Waffen auf beiden Seiten abgezogen werden. Alle Bemühungen um die Rettung Griechenlands scheinen vergebens, als die Linke dort die Parlamentswahlen gewinnt und der neue Ministerpräsident Tsipras unvermittelt seinen Konfrontationskurs startet.

    Der Bürgerkrieg in Syrien geht ungebremst weiter. Der selbsternannte „Islamische Staat" (IS) breitet sich in Syrien und im Irak aus und gewinnt weiter an Einfluss. Die Flüchtlingskatastrophe mit Hunderten ertrunkener Menschen spielt sich weit weg von Deutschland im Mittelmeer ab. Noch sind wir alle der Meinung, dass hier das Dublin-Abkommen gilt und die Länder Italien und Griechenland als Ankunftsländer damit fast allein fertig werden müssen. Wir helfen nicht oder nur halbherzig und finden das alle in Ordnung.

    Obwohl am Vortag sechs Funktionäre der FIFA wegen Korruptionsverdachts verhaftet werden, lässt sich Sepp Blatter als Präsident wiederwählen, um wenige Tage später als Unschuldslamm zurückzutreten. Wer Deutscher Fußballmeister wird, muss dem Fan kaum erklärt werden. Zu mächtig ist inzwischen das Budget der Bayern aus München. Gleichwohl sind sie im Halbfinale der Championsleague gegen den FC Barcelona chancenlos. Der Fan des VfB-Stuttgart durchleidet im Frühjahr 2015 Höllenqualen nach einer völlig missratenden Saison. Mit viel Mühe und Dusel vermeidet er den Abstieg durch Siege in den letzten drei Spielen. Ein Tor weniger am Ende hätte das Undenkbare zur Folge gehabt, den Abstieg in die zweite Liga. Man will eine neue Zukunft beim Verein gestalten, und ein neuer Name taucht als Hoffnungsträger auf: Zorniger.

    Nach der Rückkehr aus Portugal und dem Ende der Bundesligasaison wird es Zeit, meine Große Radtour ins Visier zu nehmen. Allein, mein körperlicher Zustand ist desolat. Auf fast 90 kg hat sich mein Körpergewicht unter anderem durch meine unverminderte Lust auf Süßes erhöht. Meine Trainingsfahrten sind ernüchternd. So schlecht vorbereitet war ich seit sechs Jahren nicht mehr. Gleichwohl, die Große Radtour ist für mich alles, Herausforderung, Selbstbestätigung, Stillen meiner Neugier auf Neues, Freiheit, körperliche Ertüchtigung und Entschleunigung des Alterungsprozesses. Zudem muss ich unbedingt einige Kilogramm abnehmen.

    Trotz des Ehrgeizes: Nachdem ich in den letzten Jahren Europa von Landau aus in allen Himmelsrichtungen erforscht habe, fällt es mir schwer, neue Ziele zu definieren. Dabei fallen mir die wundersamen Augenblicke ein, als ich im letzten Jahr aus Slowenien kommend in Italien eingetroffen bin. Es war wie die Heimkehr in eine vertraute Kultur im ziemlich zuverlässig warmen Wetter mit einem Defilee durch wunderbare historische Städte voller verspielter Architektur. Wegen der hohen Lebenshaltungskosten, aber auch wegen der Alpenquerung habe ich bislang Italien gemieden. Jetzt nehme ich allen Mut zusammen, recherchiere unter anderem bei Speidel/Maccallini, denke, wenn es die Schauspieler geschafft haben, werde ich das auch schaffen, und fixiere mich auf den Fernradweg „Via Claudia Augusta", der am Lech entlang, über den Fern- und Reschenpass nach Italien führt und am Po endet. Da mein Ehrgeiz damit noch nicht gestillt ist, nehme ich mir einige historische Städte in Norditalien vor und dann die Fahrt an der gesamten italienischen Adria entlang von Ravenna bis Brindisi, wo ich meine, dass die Berge nicht so hoch sind wie auf der anderen Seite. Weil sie vergleichsweise unbekannt sind, beziehe ich gerne osteuropäische Städte in meine Touren ein und beschließe, zentral durch den Balkan zurück zu radeln, um die mir bislang fremden Landeshauptstädte Podgorica, Sarajevo und Zagreb zu besuchen. Auf eine genaue Rückfahrtroute will ich mich vor der Tour wegen der sehr anspruchsvollen Topografie auf der Balkanhalbinsel nicht festlegen. Mut macht mir, dass ich von Sarajevo nach Zagreb und weiter nach Ljubljana ohne Berge durch die Täler der Bosna und Sava radeln kann.

    Ein weiteres Problem ist die Route durch Süddeutschland wegen der dortigen Mittelgebirge, die ich bislang stets gemieden habe. Aber auch hier finde ich eine Lösung, die mich ganz und gar begeistern wird, die Täler des Neckars, der Murr, des Kochers, der Brenz bis zur Donau, und von dort ist es zum Lech und zur „Via Claudia Augusta" ein Katzensprung.

    Die zuletzt völlig pannenfreien Touren ermutigen mich, in mein Fahrrad zu investieren, und ich lasse ein neues Licht, Pedale, Ritzelkassette, Kette, Tretlager, Ständer und Kettenradscheibe montieren. Dabei verzichte ich auf einen neuen Hinterreifen und hoffe, dass der alte die Tour überstehen wird. Ich kaufe keine Karten und vertraue auf mein Smartphone zur Navigation und mein (unbefriedigendes) Garmin-Navi wegen der geladenen Adressen. Wie in jedem Jahr versuche ich, meine Ausrüstung sinnvoll zu ergänzen und kaufe ein Powerpack zum Nachladen meines Smartphones und des Navis auf der Strecke sowie eine winzige Actionkamera, mit der ich aber nicht glücklich werde. Über mein Zelt ärgere ich mich schon seit mindestens zwei Jahren. Jetzt investiere ich etwas mehr als bisher in ein neues und fühle mich in dieser Hinsicht nunmehr bestens ausgerüstet.

    Als ich in meine Große Radtour starte, leben wir Deutschen in einer Oase der Glückseligkeit. Die Wirtschaft brummt, der Finanzminister vermeldet Rekordeinnahmen, der Bundeshaushalt ist ausgeglichen, wir exportieren wie die Weltmeister und sind Nutznießer der Einbahnstraße Globalisierung. Währenddessen ist vor allem die arabische Welt aus dem Gleichgewicht geraten und auf dem afrikanischen Kontinent schlittern viele Länder in existentielle Krisen. Wir hingegen können nach Jahrzehnten des Wohlstandes nicht mehr würdigen, wie gut es uns tatsächlich geht. Nur wenige Visionäre reflektieren, dass die Aufteilung der Welt in arm und reich so nicht bleiben kann.

    ****

    II. Durch den Süden von Deutschland und über die Alpen

    1. Mittwoch, 17. 06.: Von Landau über Heidelberg nach Neckargemünd – Sonniger Anfang in der Kurpfalz. 87,5 km

    Das Stadtgebiet von Landau liegt hinter mir, über mir ein äußerst freundlicher, blauer Himmel. Ich habe mir für den Start meiner Großen Fahrradtour einen Tag ausgewählt, der kaum schöner sein könnte. Im Hintergrund vor mir ragt der Kirchturm von Zeiskam steil in den Himmel. Davor liegt ein ausgedehntes Maisfeld, genau dort, wo im letzten Jahr noch grell grüne Zwiebelfelder prangten. Hinter mir werden die Hügel des Pfälzer Waldes mit jedem Kilometer weiter im Horizont versinken. Die Ähren der Gerstenfelder wiegen sanft im leichten Wind. Wenige Klatschmohnpflanzen stehen am Wegesrand in voller Blüte. Ich bin guter Dinge, habe mir allerdings vorgenommen, wegen meiner schlechten Form und meines undiskutablen Übergewichts, sehr behutsam zu starten.

    Zu Beginn meiner Tour habe ich mir Zeit gelassen am Morgen, ein ausgiebiges Frühstück bei letzter Zweisamkeit genossen und mich entschlossen, noch einmal umzupacken. Spürbar zu hoch lag der Schwerpunkt meines Gepäcks, da ich auf den kleinen Stopfsack verzichten wollte, der sich geschickt unter den Sattel stecken lässt. Dann war das Gewicht besser verteilt, und der Abfahrt stand nichts mehr im Weg. Es ist ein mühsamer Weg durch Landau, der mich durch bewegten Verkehr hinaus auf die Radwege bringt, die auf direkter Strecke zu den Ufern des Rheins führen, und die ich von vielen Ausfahrten wie meine Hosentasche kenne.

    Bald ist auch Zeiskam passiert, und ich radle entlang der stillgelegten Bahnstrecke, auf der sich nunmehr Draisinen mit metallischen Rollgeräuschen und fröhlichen Ausflüglern vorwärtsbewegen. Westheim, Lingenfeld, Germersheim. Ich überquere den großen Strom auf der Straßenbrücke der B 35. Schöne Radwege entlang der Straßen geleiten mich in einen berühmten Ort, Philippsburg. Lange radelte ich nicht mehr durch Baden-Württemberg und empfinde die Radwegausschilderung nunmehr ziemlich perfekt. Über dem Grün der Wälder tauchen die unsäglichen Betonmonster auf, die bei Wanderungen vom Hardtrand aus großer Entfernung zu sehen sind. Es sind die Riesenkühltürme des Kernkraftwerks Philippsburg, die von einer im Untergang begriffenen Epoche zeugen. Ein Block (Siedewasserreaktor) ist bereits stillgelegt, den anderen (Druckwasserreaktor) wird man vermutlich bis 2019 noch dampfen sehen.

    Kann es sein, dass ich jetzt schon Hunger habe? Jedenfalls macht mir die Vorstellung von einem warmen Essen in einer Metzgerei Appetit, und ich kehre ein. Entschleunigung ist die Devise des Tages. Dabei kann ich nach dem Weg nach Waghäusel fragen, einem wenig bekannten Ort in Baden, wo im Stadtteil Wiesental der legendäre Fußballtrainer Sepp Herberger (1919 – 2002) geboren ist, und wo ich schon lange einmal die Eremitage besuchen wollte. Ich folge der Ausschilderung, begebe mich auf die „Tour de Spargel" und nähere mich dem barocken Bauwerk vorbei an einem muslimischen Friedhof, auf dem bei einer Beerdigung die männlichen Trauergäste kräftig schaufeln. Die Silhouette des Schlösschens wird unschön überragt von riesigen Speichern der ehemaligen Fabrik der Südzucker AG (größter Zuckerhersteller der Welt), die 1837 gegründet und 1995 geschlossen wurde.

    Neugierig umrunde ich den achteckigen Schlossbau mit vier Flügeln, der vom Speyerer Fürstbischof Damian Hugo von Schönborn 1724 als Jagdschloss erbaut und von Balthasar Neumann 1737 erweitert wurde. Ich wundere mich, dass hier keine Besucher unterwegs sind, und verweile an einer Gedenkstätte für die badischen Revolutionäre von 1848 – 1849, die hier zum 150. Jahrestag 1999 errichtet wurde.

    Die Weiterfahrt nach Norden irritiert mich ungemein, da ich mich der quirligen Metropolregion Rhein-Neckar nähere. Vor zehn Jahren bin ich diese Strecke schon einmal gefahren, aber jetzt ist alles anders. Durch Autobahnen, Schnellbahntrasse und viele andere Verkehrswege vollzieht der Radweg unübersichtliche Wendungen und gefühlte Umwege, und Überführungsrampen stören meine Fahrt im Flachland. Mit meiner völlig veralteten Radtourenkarte kann ich ohnehin nichts anfangen. Sie gibt mir nur noch Hinweise auf Richtungen und Ortsnamen. Entlang der Ausschilderung radle ich Richtung Neulußheim und an Hockenheim vorbei. Unvermittelt stehe ich vor einem Hinweis auf die „Berta Benz Memorial Route", die von Mannheim nach Pforzheim führt, 1888 Trasse der ersten automobilen Fernfahrt war und danach dem Automobil zum Durchbruch verhalf.

    Auf meinem Weg nach Heidelberg habe ich mir vorgenommen, auch Schwetzingen einen kurzen Besuch abzustatten. Schon radle ich entlang des unendlich langen Schlossparks, biege an dessen Ende nach links ab, um zum Eingang zu kommen. Rechts öffnet sich weit der Schlossplatz, der von barocken Gebäuden gesäumt wird. Links hinter den Pfortenhäuschen der mehrstöckige Hauptbau des Schwetzinger Schlosses, der leider auf der Parkseite für Renovierungsarbeiten eingerüstet ist. Die Entscheidung, ob ich einen Spaziergang durch den berühmten Park machen soll, wird mir dadurch erleichtert, dass mir die freundliche Kassiererin mit französischem Akzent eine liegengebliebene Eintrittskarte schenkt.

    Zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich die französische Gartenanlage, die an ihren Rändern in den englischen Gartenbaustil übergeht. Rechts und links erstrecken sich die kreisrund angelegten Zirkelbauten als Flügel des Hauptbaus, in denen sich ein sehenswertes Rokokotheater und Konzerträume für die Schwetzinger Festspiele befinden. Vorbei an Springbrunnen, vielen weißen oder goldenen, verspielten Figuren schlendere ich zwischen Rasenflächen und Blumenrabatten hindurch. In der Tiefe des Parks befinden sich eine Moschee, römische Tempelchen und rechts, etwas im Hintergrund, die Orangerie.

    Was ich vermeiden wollte, tritt schon am ersten Tourtag ein, Hektik, zumal ich heute noch etwas Zeit für Heidelberg eingeplant habe und dann noch einige Kilometer am Neckar entlang fahren will. Ich fühle mich zu schlapp, um zur Moschee zu gehen, habe auch schon genug von dem feudalen Prunk und gehe zurück zum Eingang, wo ich mein Fahrrad unbeaufsichtigt stehen lassen musste. Das Schwetzinger Schloss wurde ab 1697 in mehreren Bauabschnitten am Standort eines mittelalterlichen Wasserschlosses erbaut und diente Kurfürst Karl Theodor von Mannheim als Sommerresidenz.

    Ohne Umschweife verlasse ich die Stadt, die auch für den Spargel- und Tabakanbau berühmt ist, nach Nordosten Richtung Plankstadt, passiere das eindrucksvolle Landhotel Birkenhof, komme durch Pfaffengrund, sehe in der Ferne wie sich das Neckartal zur Rheinebene hin öffnet und wie sich Gebäude an den Hängen des Odenwalds hinaufziehen. Ich freue mich, bald in einer der Sehnsuchtsstädte Deutschlands anzukommen, und erreiche schon den Rand von Heidelberg. In der Nähe des Hauptbahnhofs überquere ich die Bahnlinie und arbeite mich weiter nach Osten durch starken städtischen Verkehr zur Altstadt vor.

    Erst radle ich zum Neckarufer, wo ich glaube, mich besser orientieren zu können. Unbedingt möchte ich die alte Steinbogenbrücke überqueren, um vom Nordufer des Neckars das Königsmotiv der Stadt zu fotografieren, die Brücke mit den Tortürmen und der Schlossruine am Hang im Hintergrund. Die altehrwürdige Stadthalle mit der Säulenreihe am Eingang und die wehrhaften alten Mauern des Marstallhofs mit den runden Ecktürmen liegen an der Uferstraße, die gleichzeitig die B 37 ist. Bald habe ich meinen diesbezüglichen Fotohunger gestillt und will für wenigstens zwei Stunden die Atmosphäre und Stimmung einer meiner Lieblingsstädte aufsaugen. Durch ganze Horden von Besuchern hindurch schiebe ich mein Fahrrad immer tiefer in die Altstadt hinein und lasse mich auf dem Universitätsplatz auf einem Biergartenstuhl nieder. Ich schmunzle. Ein auf dem Tisch aufgeklebter Zettel verrät: „Wir machen kein Fingerfood. Bei uns brauchst du beide Hände". So gefällt mir meine Radtour mit einem kühlen Bier auf einem zentralen Platz einer der beliebtesten Städte Deutschlands.

    Vor dem Universitätsmuseum begehren Besucher in einer langen Schlange Einlass. Für mich ist das keine Option, vielmehr benötige ich eine Verschnaufpause, da ich anschließend noch am Neckar entlang weiterradeln möchte. Mir kommt in den Sinn, dass ich viel zu selten hier bin, zumal es höchstens eine Stunde von Landau mit dem Auto braucht, um hierher zu kommen. Dabei hat die Stadt eine überaus interessante Geschichte und beherbergt die älteste Universität auf dem heutigen Boden Deutschlands. Schon die Kelten gründeten hier eine Siedlung. Die Römer unterhielten ein Militärlager, bevor dieses erst von den Alamannen und dann von den Merowingern erobert wurde, was die Stadt ins Frankenreich beförderte. Die Gründung der heutigen Stadt Heidelberg fällt ins 12. Jahrhundert, die erste urkundliche Erwähnung geht auf das Jahr 1196 zurück. Friedrich Barbarossa ernannte 1156 seinen Bruder Konrad zum Pfalzgrafen bei Rhein, und als die damals übliche Reiseregentschaft aufgegeben wurde, setzte sich Heidelberg als Sitz der Pfalzgrafen gegen Neustadt an der Haardt durch. 1225 erhielt der Pfalzgraf die bislang zum Bistum Worms gehörige Stadt als Lehen. Das Herrschaftsgebiet des Pfalzgrafen nahm nach der Verleihung der Kurwürde an den Pfalzgrafen 1356 als Kurpfalz eine positive territoriale Entwicklung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches.

    Ruprecht I. gründete im Jahr 1386 die Universität, und Heidelberg wurde ein Zentrum des frühen Humanismus. Offen für die Ideen Luthers wurde Heidelberg calvinistisch und zog zahlreiche Wissenschaftler an. Im Dreißigjährigen Krieg besetzte die Katholische Liga unter Tilly 1622 die Stadt, und sie blieb bis zum Westfälischen Frieden 1648 katholisch und bayerisch. Im Zuge des von Ludwig XIV. von Frankreich entfesselten Pfälzischen Erbfolgekriegs 1689 – 1697 wurde Heidelberg zwei Mal eingenommen und völlig verwüstet, wobei die am Ende des 16. Jahrhunderts entstandenen, prächtigen Renaissancebauten allesamt zerstört wurden (außer dem Hotel Ritter), und das Schloss war unbewohnbar. Aus diesem Grund und nach einem Streit mit den Protestanten verlegte der katholische Karl III. Philipp den Sitz ins prunkvolle, barocke Mannheim, und Heidelberg verlor an Bedeutung. Gleichwohl entstand die Altstadt neu im barocken Glanz.

    Im Reichsdeputationshauptschluss 1803 wurde die Kurpfalz zerschlagen und das rechtsrheinische Gebiet mit Heidelberg dem Großherzogtum Baden zugeschlagen. Dank seiner landschaftlichen Lage entwickelte sich Heidelberg als Sehnsuchtsort der Romantik und beherbergte Dichter wie Achim von Arnim, Friedrich Hölderlin, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff. Auch im Vorfeld der badischen Märzrevolution 1848 spielte die Stadt durch die Heidelberger Versammlung demokratischer und liberaler Politiker eine wichtige Rolle. Zu Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr Heidelberg eine rasante Expansion und blieb im Zweiten Weltkrieg als eine der wenigen deutschen Großstädte nahezu unversehrt. Dadurch zog es zahlreiche Flüchtlinge an, wurde Standort hoher Kommandostellen der Amerikaner und so zum Sehnsuchtsort amerikanischer Soldaten. Bis zu 10.000 Amerikaner wohnten hier, die nach der Verlegung der Dienststellen nach Wiesbaden 2009 – 2013 nach und nach die Stadt verließen.

    Dank der bedeutenden Rolle der Ruprecht-Karls-Universität wirkte eine Vielzahl von Nobelpreisträgern, Philosophen und Schriftstellern in der Stadt. Ihre bedeutendsten Söhne und Töchter sind der erste Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 – 1931), der Philosoph Ernst Jünger (1895 – 1998), der thailändische König Ananda Mahidol (1925 – 1946), die schwedische Königin Silvia Sommerlath, Lieselotte von der Pfalz (1652 – 1722), der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (1930 – 2014) und die Unternehmer Götz Werner, Hubert Burda und Dietmar Hopp sowie die Sängerin Pe Werner und der aktuelle VfB-Fußballspieler Lukas Rupp.

    Mit der Universität und weiteren Hochschulen sowie dem Krebsforschungszentrum, vier Max-Planck-Instituten, dem Zentrum für Astronomie und der Landessternwarte ist Heidelberg einer der bedeutendsten Standorte für Bildung und Forschung in Deutschland. Es hat heute etwa 155.000 Einwohner und entwickelte sich mit der Ansiedlung von Heidelberger Druckmaschinen, HeidelbergCement, ABB und SAP auch zu einem beachtlichen Wirtschaftsstandort.

    Bereits am ersten Tag meiner Großen Radtour 2015 freue ich mich also über ein derartiges Highlight geschichtlicher und touristischer Relevanz. Es fällt mir schwer, meine Fahrt fortzusetzen, und ich muss auch auf die Besichtigung des Schlosses verzichten, das als Burg 1225 zum ersten Mal erwähnt wird, aber dessen Baugeschichte bis heute wissenschaftlich umstritten ist. Fest steht, dass der Ottheinrichsbau zu den bedeutendsten Renaissancebauten nördlich der Alpen gehört. Da es nach seiner Zerstörung nur teilweise wieder aufgebaut wurde, ist es heute eine der berühmtesten Ruinen Deutschlands.

    Durch die Besuchermassen bahne ich mir den Weg durch eine der längsten und interessantesten Fußgängerzonen Europas nach Osten, werfe einen Blick auf prächtige Bauten wie das Hotel Ritter, die Heiliggeistkirche und halte am Kornmarkt noch einmal inne, wo sich die Säule mit der Madonna befindet und ein schöner Blick auf die Schlossruine frei wird. Viel würde ich gerne noch sehen, aber ich muss weiter. Das Karlstor markiert das Ende der Altstadt und für mich beginnt der romantische Radweg am Neckar entlang. Mir bleibt nur noch ein verklärter Blick zurück auf die schöne Silhouette der Universitätsstadt, und ich denke, dass sie fast so schön ist wie die von Dresden neben der Elbe.

    Das Wetter hat heute gehalten, was es versprochen hat. Die Steilhänge auf beiden Seiten des Flusses sind zusammengerückt, das enge Tal hat Potential für bildschöne Ansichten im warmen Abendlicht. Ich entscheide mich, am Südufer zu bleiben, da dort die nächsten Zeltplätze liegen. Die Fahrt ist allerdings nicht sehr angenehm, da es hier wegen der Enge des Tals kaum separate Radwege gibt. Vielmehr radle ich eng an der verkehrsreichen B 37 entlang, bleibe meiner Linie treu, nur mit halber Kraft zu fahren, und erreiche bald den Zeltplatz „Bei der Neckarbrücke" kurz vor Neckargemünd. Er liegt unten am Ufer und bietet alles, was ich für die abendliche Ruhephase brauche. Kurz bevor der Kiosk schließt bekomme ich noch mein Bier. Die Gewöhnungsphase an das Camperleben hat begonnen. Ich schlafe schlecht aber erhole mich recht ordentlich.

    2. Donnerstag, 18. 06.: Von Neckargemünd über Bad Wimpfen nach Neckargartach – Regen auf dem Neckarradweg. 84,2 km

    Der neue Tourtag graut für mich am Neckarufer. Es ist trocken, als ich meine Nase in die frische Luft stecke. Noch fühlt sich mein neues Zelt bei der Demontage etwas ungewohnt an. Kaum habe ich die Plane im Sack verstaut, fängt es an zu regnen. Mir schwant, dass der heutige Tag ein Gegenentwurf zum gestrigen werden könnte. In der schönsten annehmbaren Landschaft zeigt sich meine Tour von der schlechtesten annehmbaren Seite. In der Hoffnung, dass der Regen nachlassen wird, rette ich mich ins Dorfzentrum von Neckargemünd, wo ich zum Glück eine offene Bäckerei für mein Frühstück finde. Missmutig kaue ich mein Salamibrötchen im Stehen und grüble, was zu tun ist. Gleichwohl tut mir das Wetter nicht den erhofften Gefallen. Es regnet, regnet, regnet.

    Es hilft alles nichts, ich mache mich auf die Socken, ziehe meine Kapuze über, trotze dem Regen so gut es geht, und wofür habe ich mir eigentlich vor zwei Jahren diese funktionale, knallrote Wolfskin-Regenjacke gekauft? Durch das verkehrsreiche Dorf hindurch lasse ich es hinunter zum Neckarufer rollen und setze meinen Weg am Südufer an den Neckarmäandern entlang nach Osten fort. Der Asphalt geht bald in eine feste Schotterauflage über, auf der es sich allerdings gut fahren lässt. Eine Brücke lädt mich ein, kurz im Trockenen zu verschnaufen. Durch ein Grau in Grau blicke ich in eine traumhaft schöne Landschaft, wo ich noch nie mit dem Fahrrad war, und auf die ich mich so sehr gefreut habe. Ich bin schon klatschnass, das Regenwasser trieft an mir herunter. Ich schaue auf die gekräuselte Wasserfläche des Flusses, auf die Uferbüsche am Nordufer und die dicht bewaldeten Hänge im Hintergrund, die den Rand des Odenwaldes markieren.

    Als ich meine Fahrt fortsetze, falle ich auf ein neutrales Fahrradschild herein, das den Hang hinauf weist. Mühsam schiebe ich meinen Drahtesel einen Waldweg hinauf, bis ich zum Schluss komme, dass das Unsinn ist. Ich vermute, dass unten der Weg möglicherweise wegen eines Kraftwerks oder Hafens unterbrochen sein könnte. Blödes Schild, denke ich, und schiebe wieder hinunter, und es geht alles gut.

    Die ersten Burgruinen, deren dunkelgraue Mauern sich kaum vom nassen Grün

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