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Wilbur: Der Hüter des Glücks
Wilbur: Der Hüter des Glücks
Wilbur: Der Hüter des Glücks
eBook600 Seiten7 Stunden

Wilbur: Der Hüter des Glücks

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Über dieses E-Book

Gibt es das Glück, das Schicksal, die Vorsehung, oder ist alles nur ein Zufall, ein Ergebnis von Ursache und Wirkung, dem sogenannten Karma?
Begleiten Sie Kesha Jones und Ross Tate durch die Hauptstory und lernen Sie in weiteren Nebengeschichten Menschen kennen, die sich da selbst nicht mehr so sicher sind.
Gibt es tatsächlich einen Hüter des Glücks?
Wenn ja, wie können wir ihn finden, oder findet er uns?
Finden Sie ihr Buch, das Ihr Leben verändern kann.
Vielleicht halten Sie es auch aber gerade in Ihren Händen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Sept. 2019
ISBN9783749746217
Wilbur: Der Hüter des Glücks

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    Buchvorschau

    Wilbur - Barry Jünemann

    Kapitel 1 – Mittagspause

    Kennen Sie die Momente, wo man einfach mal abschalten will, nichts sehen und nichts hören will. Sich am liebsten für eine gewisse Zeit aus der realen Welt heraus stehlen möchte. Kennen Sie auch die Momente, wo Sie am liebsten mit einer Figur aus einem Film oder einem Buch tauschen und dessen Leben weiterleben würden?

    So geht es auch Roscoe Tate.

    Roscoe Tate ist 49 Jahre alt. Er wurde in Philadelphia geboren und war bereits in jungen Jahren ein sehr nachdenkliches Kind. Seine Kindheit verbrachte er wie alle Kinder mit Spielen und dem leidlichen Thema, der Schule. Mehr schlecht als recht durchlief er alle Klassen und machte sogar seinen High-School Abschluss. Er war ein unscheinbares und unauffälliges Kind. Sein ganzes Interesse galt nur dem Lesen, dem Lesen und dem Schreiben.

    Bereits mit 18 schrieb er kleine Geschichten und Gedichte. Sein Berufswunsch war es Schriftsteller zu werden. Allerdings machte ihm das Leben einen Strich durch seine Rechnung. Ein Schriftsteller würde nicht den Mann ernähren, sagten ihm seine Eltern immer wieder und versuchten ihn für das elterliche Geschäft zu gewinnen.

    Seine Eltern, Jenna und William Tate, besaßen ein kleines Taxiunternehmen. William Tate fing selbst zunächst als Taxifahrer an. Nach einigen Jahren konnte er sich einen eigenen Wagen kaufen, den er zu einem Taxi umbaute. Mit 21 lernte er seine Frau Jenna kennen. Schnell erkannten beide, dass man den Wagen effizienter ausnutzen könnte, indem man Tag und Nacht fuhr. Über 4 Jahre sahen die beiden sich nur in den Momenten, in denen sie sich die Wagenschlüssel zum Schichtwechsel übergaben. Das Geschäft lief gut und Jenna und William kauften sich im Laufe der Zeit weitere Wagen dazu. Nun fuhren sie beide selbst nur noch tagsüber und stellten für die Nachtschichten Fahrer ein. Am Ende blieb William wegen einem Rückenleiden Zuhause und regelte die Organisation der Taxen, teilte die Schichten ein und übernahm die Auftragsannahme. Jenna fuhr noch ein weiteres Jahr die Tagesschicht, bis auch sie sich entschloss Zuhause zu bleiben und sich nur noch um die Monatsabrechnungen zu kümmern.

    Jenna und William hatten zum Schluss einen Fuhrpark von 32 Wagen und 71 Fahrern inklusive der Aushilfsfahrer für Krankheitsfällen.

    Roscoe arbeitete in der Zeit als Werbetexter für einen kleinen Anzeigenverlag in Philadelphia, der Billman, Stanton & Rafferty Verlagsgesellschaft. Sie verkauften Anzeigen auf Werbeplakaten, die sie im Wartezimmer von Ärzten aufhängten. Auf dem Plakat war mittig ein Thema, das sich mit einer Dienstleistung befasste, die der Arzt anbot. Es ging um Impfungen, Vitaminprodukte oder auch Sonderleistungen, die die Krankenkasse nicht übernimmt und die der Arzt so zusätzlich anbieten konnte. Den Ärzten war es natürlich sehr recht, denn sie konnten so einen Zusatzverdienst verbuchen.

    Billman, Stanton & Rafferty verkauften den umlaufenden Rand, der gute 15 cm betrug, als Anzeigenfläche für lokale Geschäfte. Bei einer Größe von gut 80 mal 120 cm kamen da einige Anzeigen zusammen.

    Roscoe´s Aufgabe war es, die Anzeigen zu texten und sie ins Werbeplakat einzusetzen. Diese Aufgabe war zwar nicht Roscoe´s Wunschtraum, aber es ernährte den Mann.

    Mit 25 Jahren war es endlich soweit. Roscoe konnte sich seine erste kleine Wohnung nehmen. Es war ein kleines möbliertes Einzimmerappartement am Rande Philadelphias.

    Zwei Tage nach seinem 26. Geburtstag verlor er beide Eltern bei einem schrecklichen Autounfall. Ein betrunkener Autofahrer fuhr Jenna und William auf dem Highway frontal in den Wagen. Der Fahrer des Wagens war sofort tot… Jenna und William Tate verstarben noch an der Unfallstelle.

    Roscoe erfuhr erst gegen Abend vom Tod seiner Eltern, als zwei Cops bei ihm vor der Tür standen und ihm dies Mitgefühl heuchelnd mitteilten.

    Für Roscoe brach eine Welt zusammen. Er hatte die einzigen Menschen in seinem Leben verloren, die ihm etwas bedeutet haben. Innerhalb weniger Stunden veränderte sich schlagartig sein Leben. Nach der Beerdigung lebte er noch eine ganze Weile im elterlichen Haus und versuchte den Taxibetrieb aufrecht zu erhalten.

    Nach drei Monaten musste er sich eingestehen, dass er den Betrieb nicht weiterführen konnte… nicht wollte.

    Bei der Testamentsverlesung stellte sich heraus, dass Jenna und William ein kleines Vermögen angehäuft hatten.

    Das Barvermögen betrug ganze 387.000 Dollar.

    Nachdem Roscoe das Taxiunternehmen und das elterliche Haus verkaufte, befanden sich insgesamt 591.000 Dollar auf seinem Bankkonto.

    Fünf Jahre lebte er noch in Philadelphia von seinen Ersparnissen.

    Eines Morgens beschloss er abrupt sein Leben zu verändern. Er wollte raus aus der grauen Welt seiner Kindheit, raus aus dem Schleier von Armut, Verzicht und Arbeit. Raus aus den Erinnerungen an seine Eltern und dem tragischen Ende.

    Genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich ein schönes Leben hätten machen können, schlug das Schicksal zu und beendete alle Wünsche mit einem Schlag. Er wollte nicht länger in dieser Umgebung leben. Er beschloss nach Kalifornien zu gehen.

    Seit seiner Kindheit war Roscoe an ein sparsames Leben gewöhnt. Selbst jetzt, wo er sich ein komfortables kleines Haus hätte kaufen können, blieb Roscoe bescheiden.

    Seine neue Adresse lautete 437 West Carson Street in Carson, Los Angeles, Kalifornien.

    Diese Adresse teilten mit ihm circa 100 weitere Bewohner der 437 West Carson Street in Carson. Es war ein Trailer Park.

    In Trailer Parks zu wohnen bedeuten nun nicht gleich die unterste Schwelle der sozialen Gesellschaft erreicht zu haben. Viele Amerikaner sind reiselustig und leben mal hier und mal dort oder wechseln ihre Jobs und nehmen ihr Haus gleich mit.

    Trailer sind Wohncontainer, deren Art und Größe sehr unterschiedlich sein können. Von kleinen Wohnanhängern, Wohnmobilen oder auch mobilen Wohncontainern von 12 bis 120 m² findet man auf Trailer Parks alle Varianten und Bauweisen.

    Wohingegen der klassische Trailer Park Bewohner sich seinen Platz anmietet und dann seinen Trailer dort aufstellt, hat Roscoe die Stellfläche gekauft. Es war ein Eckgrundstück mit kleinem Baumbestand. Strom und Wasseranschluss, sowie die Entsorgung der täglichen Geschäfte, sind vorhanden. Und im Inneren eines großen Trailers erkennt man kaum einen Unterschied zu einem kleinen klassischen Haus.

    Roscoe hatte einen 120 m² Trailer mit allem Drum und Dran. Er hatte ein großes Wohn und Arbeitszimmer, eine Küche, ein Badezimmer und ein geräumiges Schlafzimmer. Jeder Raum hatte zwei Fenster auf jeder Längsseite. Bis auf das Badezimmer und die Toilette, die jeweils ein Fenster hatten. Die Innenausstattung war vollständig mit Holz verkleidet.

    Während der Trailer von außen in einem Beigeweiß gehalten war, hatte man von innen den Eindruck, man wäre in einem kleinen Holzhaus am See. Von seinem Wohnzimmerschreibtisch, der direkt vor einem der vier Fenster im Wohnraum stand, hatte man den Blick auf zwei Bäume und der Straßenzufahrt.

    Vor seinem Trailer stand eine Mailbox mit seinem Namen.

    Links davon war ein kleiner überdachter Carport.

    Dort stand Roscoe´s Auto.

    Es war ein Volkswagen Typ 2 T1, der auch unter dem Namen Bulli bekannt geworden ist. In den USA war er jedoch wegen seiner geteilten Windschutzscheibe eher unter dem Namen Splittie bekannt, da der Begriff Bully im Englischen so viel wie Tyrann bedeutete. Das kam nicht so gut an.

    Es war ein deutsches Modell, das man von 1950 bis 1967 in Wolfsburg und Hannover 1,8 Millionen Mal verkauft hatte. Er war das Symbol für das Deutsche Wirtschaftswunder schlechthin.

    Roscoe´s Modell war graublau mit weiß. Die zweifarbigen Varianten kannte man auch unter dem Begriff Samba. In den USA nannte man ihn Microbus Deluxe.

    Ausgestattet mit einem 1,5 L Ottomotor und der damals von der Firma Westfalia angebotenen Umbauvariante zum Campingbus, war er ein sehr zuverlässiger und robuster Freund in allen Lebenslagen.

    Roscoe hatte ihn allerdings damals noch als reine Busvariante in Philadelphia gekauft und ihn komplett überholen und verstärken lassen. Selbst das alte Röhrenradio funktioniert noch tadellos. Erst später ließ er sich in L.A. das Innenleben zur Campingvariante umbauen.

    Roscoe nannte seinen Volkswagen immer nur Moby. Für ihn war es auch lange Zeit nicht nur ein mobiles Heim, sondern sein Zuhause. Besonders auf der Fahrt von Philadelphia an der Ostküste, quer durch die USA zur Westküste nach Kalifornien. Während er tagsüber viele Stunden im spartanisch ausgestatteten Fahrerteil verbrachte, schlief er nachts auf den flachgestellten Sitzen des Busses.

    Es war für Roscoe mehr als nur die Fahrt in seine Zukunft, es war für ihn noch eine zusätzliche Auszeit, ein Verarbeiten seiner Vergangenheit. Wenn es ihm in einer der Städte gefiel, blieb er einfach solange, bis es ihn wieder weiterzog.

    Dann packte er seine Sachen wieder vom Motel in seinen Moby und fuhr aufs Geratewohl los… immer Richtung Westen.

    Roscoe war das, was man einen Bücherwurm nennen könnte. Das soll nicht bedeuten, dass er als Einsiedler unter Millionen lebte. Nein, er suchte auch sein Vergnügen. Aber zu seinen Entspannungsmomenten gehörte einfach immer ein Buch.

    Ein normales Buch lass er gewöhnlich in 3 - 4 Wochen. Als er seine Reise begann kaufte er sich jedoch ein Buch, was ihm nicht nur seine ganze Aufmerksamkeit abverlangte, sondern auch dafür verantwortlich war, dass er erheblich länger unterwegs war.

    Denn Roscoe´s persönliche Pionierleistung zur Eroberung des Westens hatte gut 18 Monate gedauert.

    Ganze 18 Monate lass er immer wieder in diesem Buch. Er war vom Inhalt derartig gefesselt, dass er es immer und immer wieder von vorn gelesen hatte.

    So geschah es nicht selten, dass Roscoe in einer Stadt Halt machte, sich in einer Pension einmietete und das Buch in aller Ruhe erneut las. Wenn er es zu Ende gelesen hatte fuhr er weiter.

    Noch nie hatte ihn ein Buch so vereinnahmt.

    Es war als spräche das Buch zu ihm.

    Es war als würde ihm das Buch ein Angebot machen.

    Allein der Titel hatte ihn schon aufmerksam werden lassen. Die Begriffe der Inkarnation oder der Reinkarnation waren ihm geläufig. Was hatte es jedoch mit einer Deinkarnation auf sich?

    Aber das wird vielleicht mal eine andere Geschichte.

    Roscoe legte das Buch nach dem 12 Mal lesen zurück in sein Bücherregal und setzte seine Fahrt fort. Irgendwann würde er es schon wieder hervorholen. Dafür kannte er sich zu gut.

    Nach besagten 18 Monaten erreichte er doch noch endlich sein ersehntes Ziel, Los Angeles, Kalifornien. Er war angekommen.

    Nachdem er wenige Wochen in einem Motel am Rande von L.A. lebte, beschloss er, sich einen Trailer zu kaufen.

    Bereits nach wenigen Tagen flatterte ihm mit der Morgenausgabe der Times ein Angebot vor die Nase, dem er nicht wiederstehen konnte. Ein 120m2 Trailer, Topp in Schuss, mit einem gut 250m2 großen Grundstück, auf dem sogar zwei Bäume standen.

    Mit den Jahren ließ er sich das Innenleben des Trailers immer weiter ausbauen. Heute ist sein Trailer perfekt ausgestattet. Ich würde sogar behaupten, dass jemand, der in der Umgebung von L.A. ein kleines Haus hatte, gerne mit ihm getauscht hätte. Es war urgemütlich.

    Durch sein finanzielles Polster war er nicht gezwungen die erstbeste Arbeit anzunehmen. So begann Roscoe seinen Tag meist sehr entspannt mit einem Frühstück bei Jayjay, einem kleinen Diner in der South Figueroa Street, Ecke West Torrance Boulevard. Jayjay heißt eigentlich Jay, und das zweite Jay steht für Jamoke, einem amerikanischen Slang für Kaffee.

    Es war ein kleines Diner mit 5 Fenstertischen und einem Tresen mit 8 Hockern. Hinter dem Tresen zauberte Jay alle Arten von Snacks. Seine Meisterleistung ist jedoch sein Frühstück. Ein perfekter Mix aus allem, was man sich für einen guten Start in den Tag wünscht. Spiegeleier oder Rühreier mit Kräutern, geröstetes Weißbrot, Bratkartoffeln mit gerösteten Zwiebeln, kleine Rindsbratwürstchen, geröstete Auberginen mit Cheddar Käse. Alles auf den Punkt zubereitet.

    Viele seiner Stammkunden nennen ihn liebevoll Jane, weil er eine perfekte Hausfrau wäre… zumindest was das Kochen betrifft.

    Roscoe ist fast jeden Morgen hier, frühstückt und liest seine Zeitung.

    Es kam auch schon vor, dass Roscoe sich ein Buch mitbrachte und den ganzen Vormittag hier verbrachte.

    Lange Jahre lebte er so einfach in den Tag hinein, immer mit der Ruhe seines finanziellen Polsters im Rücken. Aber auch bei ihm hatte der Müßiggang irgendwann ein Ende.

    Heute arbeitet Roscoe als freiberuflicher Copytexter bei Smithers - Rourke & Armbruster in der 8228 East 4th Street in Long Beach. Einmal die Woche fährt er in die kleine Agentur und holt sich seine neuen Jobs ab. Meist sind es Texte für kleinere Unternehmen. Reiseveranstalter, Museen oder auch freie Texte für Verlage und Zeitungen. Dieser Job bringt ihm zwar nicht das große Geld ein, aber er ernährt den Mann, so wie sein Vater es ihm immer gesagt hatte. Für Roscoe war es mehr die Befriedigung für sein Geld arbeiten zu müssen und nicht nur von seiner Erbschaft zu leben. Er wollte nicht tatenlos rumsitzen und stillschweigend dabei zusehen, wie seine Erbschaft so langsam aber sicher dahinschmolz.

    Wie jeden Morgen, saß er auch heute vergraben hinter seiner Zeitung, seine News Boy Cap tief ins Gesicht gezogen.

    Vielleicht sollten wir uns Roscoe einmal genauer ansehen, so dass Sie einen Eindruck von ihm bekommen.

    Roscoe ist 49 Jahre, gute 190 Meter groß und von drahtiger Gestalt. Mit seinem kleinen Oberlippenbärtchen und seinem kurzrasierten Kinnbärtchen hatte er etwas von Errol Flynn. Sein Haar war bis auf 1 mm kurzrasiert. Seine gebräunte Haut ließ seine leicht ergrauten Schläfchen noch etwas mehr hervortreten. Vor einigen Jahren hatte er sich für diese 3 Tage Bart Frisur, wie er es nannte, entschieden, um nicht alle 14 Tage zum Friseur gehen zu müssen. Er kaufte sich kurzer Hand eine Haarschneidemaschine und rasierte sich seinen Kopf selbst.

    Unabhängig von seiner überschaubaren Haarpracht, trägt Roscoe immer eine Ballonmütze. Im Englischen nennt man diese Mütze auch News Boy Cap, Eight Piece Cap oder Baker Boy Cap.

    Diese Mützen waren in den 1910er bis 1920er Jahren bei den Arbeitern sehr beliebt. Sie galt zeitweise auch als Mütze der unteren Klasse.

    Hafenarbeiter, Stahlarbeiter, Schiffsbauer, Bauern, Handwerker, Kaufleute, Bettler, aber auch Verbrecher, schmückten sich mit dieser Kopfbedeckung. Eine bestimmte Gruppe prägte diese Mützen jedoch besonders, die Zeitungsjungs, die sogenannten News Boys.

    Mitte des 20. Jahrhunderts verlor die Ballonmütze endlich ihren schlechten Ruf als Arbeiter oder Armenmütze und wurde später sogar zu einem modischen Accessoire.

    Meist trug Roscoe eine alte braune Wildleckerjacke oder seine verwaschene Carhartt Arbeiterjacke aus 100% Canvas Baumwolle und dazu eine Lutece Jeans aus festem Denim, bei der er die Beine einmal umschlug. Dazu seine Red Wings Schuhe.

    Trotz seines 20er Jahre Aussehens, machte er nicht den Eindruck, als wäre er mittellos oder gar arbeitslos. Zwei goldene Ringe und eine original Hamilton H3 Uhr aus dem Vietnamkrieg deuteten darauf hin, dass er bereist bessere Zeiten erlebt haben muss. Jedoch käme niemand auf den Gedanken, dass sich hinter diesem Outfit ein wohlgenährtes Bankkonto befindet.

    »Roscoe, wie immer?«, fragte Jay, der hinter dem Tresen stand und sich gelangweilt auf die Theke stützte.

    »Wie immer, Jane«, antworte Roscoe kurz, faltete seine Zeitung zusammen und steckte sich eine Zigarette an.

    »Du bist heute so nachdenklich, was ist los mit dir?«, fragte Jay und schüttete Roscoe einen großen Becher frischen Kaffee ein.

    »Heute ist so ein müder Tag. Ich muss gleich noch in die Agentur, meine neuen Jobs abholen. Vielleicht habe ich heute aber auch meinen melancholischen Tag. Ich habe die alten Platten meines Vaters ausgepackt. Nach langer Zeit. Ich habe sie mir auf meinen MP3 Player überspielt. Seitdem läuft die Musik die ganze Zeit. Es reißt schon alte Wunden auf«, antwortete Roscoe leise.

    »Das glaube ich dir. Du hattest es mir ja mal erzählt. Keine schöne Sache. Wer seine Eltern verloren hat, hat auch ein Stück seiner Vergangenheit verloren. Was für Musik hörte dein Vater?«, fragte Jay und brachte Roscoe´s Frühstück zum Tisch.

    »Es war die erste Zeit, als er gerade sein Taxiunternehmen aufbaute. Es waren französische und italienische Chansons aus den 20er und 30er Jahren. Charles Trenet, Anne Clercy, Tino Rossi, Tony Renis, oder Edith Piaf. Sie liefen den ganzen Tag, rauf und runter. Mein Vater verstand kein Wort Französisch oder Italienisch, aber er trällerte alle Lieder mit. Trotz der vielen Arbeit war es eine schöne Zeit«, erklärte Roscoe.

    »Das glaube ich dir. Ja, früher bedeutete Familie noch etwas. Ich sehe es doch, heute rennen nur noch alle zur Arbeit um ihre Schulden bezahlen zu können. Es geht nur noch ums Kaufen, größer, schicker, teurer als das, was der Nachbar hat. Das Leben ist nicht mehr schön«, antwortete Jay und ging wieder zu seinem Tresen zurück.

    »Ich weiß genau was du meinst. Aber du musst es ja nicht anderen gleichtun. Ich finde, dass sich viele zu sehr auf andere Menschen konzentrieren, als ihr eigenes Leben zu leben. Nimm dir ein gutes Buch und schalte mal ab«, rief Roscoe ihm hinterher.

    Roscoe widmete sich dann ausgiebig seinem Frühstück. Nach gut einer Stunde schob er seinen Teller zur Tischmitte und nahm einen großen Schluck Kaffee.

    »Bring mir die Rechnung, Jay. Ich denke, ich mach mich mal langsam auf den Weg in die Agentur«, sagte Roscoe und winkte mit seiner Geldbörse. »Wie immer. 14,50 glückliche Dollar für ein glückliches Frühstück«, lachte Jay und hielt Roscoe beide Hände hin, als wolle er Wasser schöpfen.

    »Jane, dein Frühstück ist jeden einzelnen Cent wert. Wir sehen uns morgen«, erwiderte Roscoe und verließ das Diner.

    Bis zur East 4th Street waren es gute 25 Autominuten. Roscoe schaltete seinen MP3 Player an und lies sich von Tino Rossi singend bis zur Agentur Smithers - Rourke & Armbruster begleiten.

    »Hallo Roscoe, schön dich zu sehen. Du bringst immer etwas Freiheit mit in die Agentur«, sagte Doreen, die Empfangsdame von Smithers - Rourke & Armbruster.

    »Hallo Doreen. Ihr solltet mal einen Betriebsausflug machen. Den ganzen Tag hier in der verstaubten Bude zu sitzen… ich würde dies keine Woche aushalten«, antwortete Roscoe und ging weiter zum Büro des Agenturleiters.

    »Du kannst es unserem Bwana ja mal vorschlagen«, rief Doreen ihm hinterher.

    Roscoe arbeitete bereits einige Jahre für Smithers - Rourke & Armbruster. Es war schon lange nicht mehr nur ein Verhältnis zwischen einem Arbeitgeber und seinem Mitarbeiter. Er duzte alle und obwohl er nur einmal die Woche in der Agentur vorbeikam, genoss er so etwas wie ein Hausrecht. Ohne Anklopfen ging er ins Büro von Will Smithers. Will war der Leiter der Kreation und für die Endabnahme der Texte und Layouts verantwortlich.

    »Hey Will, was macht die Kunst?«, fragte Roscoe kurz und setzte sich in den tiefen Sessel vor Will´s Schreibtisch.

    »Ach du kennst das ja. Die Kunden haben immer Sonderwünsche und wollen alles sofort haben. Manchmal frage ich mich, ob sie unsere Arbeit überhaupt zu schätzen wissen«, antwortete Will und zeigte auf die Bar in der Ecke des Büros.

    »Nein, ich habe gerade gefrühstückt. Aber gegen einen Kaffee habe ich nie etwas einzuwenden«, sagte Roscoe und streckte sich ausgiebig.

    »Kaffee der Herr, auch das ermöglichen wir unseren Mitarbeitern. Wir hofieren hier unsere Leute förmlich«, lachte Will und stellte Roscoe eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch.

    Was liegt denn an?«, fragte Roscoe kurz.

    »Nicht viel. Zwei Texte. Ein Autohaus und ein Internetanbieter für Nahrungsergänzungsmittel. Ich denke mal so drei bis vier Seiten Arbeit. Du kannst also die Woche kürzertreten«, schmunzelte Will und reichte Roscoe die Mappe mit den Unterlagen.

    »Ok, ich schicke dir dann die Sachen wie immer per E-Mail. Dann komm ich ja mal endlich wieder zum Lesen«, sagte Roscoe, trank seinen Kaffee aus und machte sich wieder auf den Weg.

    »Hast du ihn gefragt, ob wir mal einen Ausflug machen?«, fragte Doreen.

    »Ja, ihr fliegt demnächst alle für 4 Wochen auf die Bahamas«, lachte Roscoe und zwinkerte Doreen zu.

    Roscoe drehte den Zündschlüssel seines Busses und fuhr geradewegs Richtung Stadt. Bis nach L.A. sind es gute 45 Minuten. Roscoe hatte es nicht eilig und fuhr gemütlich Richtung Los Angeles. Er nahm den North Bellflower Boulevard bis zur East 7th Street. In Höhe der Mira Mar Avenue bemerkte er auf der linken Seite einen kleinen alten Buchladen. Er drehte seinen Wagen und parkte vor dem Geschäft.

    Destiny´s Bookstore. Roscoe betrachtete sich das Geschäft eine ganze Weile von außen. Allein der Name erschien ihm bereits wie ein Vorzeichen. Warum nennt man sein Geschäft Destiny, also Schicksal, Fügung oder auch Vorsehung? Von außen sah der Laden eher etwas verstaubt aus, dunkel, fast schon antik. Eine alte braune Holzfassade bei der bereits an manchen Stellen die Farbe abblätterte. Zwei Schaufenster. Ein kleines Fenster, was jedoch mit einem weißen Tuch halb zugehängt war, so dass man nicht in die Auslage sehen konnte und ein größeres Schaufenster. Im größeren Schaufenster stand ein breites altes Holzregal, randvoll mit Büchern. Auf dem Boden des Schaufensters, direkt vor dem Regal, lagen ebenfalls Unmengen von Büchern.

    Die Einbände der Bücher sahen alt aus, sehr alt. Es war eher eine antiquarische Buchhandlung. Im gleichen Moment hatte Roscoe das Gefühl ein Déjà Vu zu haben. Mit langsamen Schritten näherte er sich dem Geschäft. Roscoe drückte die alte Messingklinke der Tür nach unten und trat in das Geschäft. Mit einem langgezogenen Knarren und Quietschen öffnete sich die alte Holztür. Ein kleines Glockenspiel aus Messing, das durch das Öffnen der Tür angestoßen wurde und nun fröhlich hin und her tanzte, meldete sein Eintreten mit einem Klingeling… Klingeling an.

    Das Innere des Buchladens hielt das, was er von außen versprach. Er war eher düster. Alles erschien in einem sepiaartigen Farbton. Der Fußboden bestand aus alten abgewetzten Holzdielen, die jeden Schritt mit einem Knarren bestraften. Die Wände links und rechts bestanden aus hölzernen und in die Jahre gekommenen Bücherregalen. Im hinteren Teil des Raumes stand ein alter breiter Tresen aus dunklem Weichholz. Ein kleiner Teil davon diente wohl als Tresen selbst, da der Rest ebenfalls mit gestapelten Büchern belegt war.

    Hinter dem Tresen standen links und rechts zwei etwa 1 Meter breite alte Holzregale. In der Mitte war ein offener Durchgang. Ein Vorhang aus bunten kitschigen Glasperlen versperrte die Sicht auf das, was dahinterlag. Der Raum wurde durch zwei Lampen beleuchtet. Eine Deckenlampe mit drei Glühbirnen und einer Lampe, die auf dem Tresen stand. Es schien kaum Tageslicht in den Laden, da das Schaufenster dicht mit Büchern zugestellt war.

    Im Raum lag ein Duft von altem Papier und einer Mischung von Leder, Holz, frischem starken Kaffee und Tigerbalsam. Man hatte das Gefühl, als beträte man eine andere Welt zu einer anderen Zeit.

    »Hallo, ist hier jemand?«, fragte Roscoe und ging zum Tresen.

    »Oh, ein Kunde. Ich komme schon, ich habe nur gerade einen neuen Kaffee aufgesetzt. Er muss gleich durch sein, dann kann ich ihnen eine Tasse Kaffee anbieten. Ich bin Wilbur Destiny, der Besitzer dieses bescheidenen Buchladens. Wie kann ich ihnen helfen?«, fragte Wilbur freundlich.

    »Wilbur Destiny, Destiny, Destiny´s Bookstore, jetzt verstehe ich«, sagte Roscoe und reichte Wilbur die Hand.

    »Ja, ein kleines Wortspiel meinerseits. Viele meiner Kunden haben mich schon darauf angesprochen. Und für viele war es auch so etwas wie Schicksal«, antwortete Wilbur und stellte zwei Tassen auf den Tresen.

    Roscoe sah sich den Mann an. Wilbur Destiny war etwa 1,90 Meter groß. Er musste so Anfang der Sechziger sein. Er könnte aber auch bereits wesentlich älter sein, er war schwer zu schätzen. Er war hager, jedoch nicht dünn oder gar abgemagert. Er wirkte mehr drahtig. Er hatte längeres graugesträhntes licht gewelltes Haar. Er trug eine ovale Nickelbrille, die ihm fast von der Nase zu rutschen droht. Sein Gesicht war faltig und gebräunt. Ein kleiner grauer Bart zierte seine Oberlippe.

    Wilbur Destiny trug eine dunkelbraune Cordhose, die von ein paar alten Hosenträgern gehalten wurde, die an die Hose geknöpft waren. Als Oberteil trug er ein, ja einfach nur ein langärmeliges verwaschenes rotes Unterhemd, wie man es aus alten Wild West Filmen kennt. Er trug einen alten braunen Fedora Poet Hut, den er leicht nach hinten geschoben hatte.

    Wilbur Destiny hatte kräftige Hände, die von einem Mann erzählten, der mit schwerer Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen musste. In seiner linken Hand brannte eine selbstgedrehte Zigarette.

    Wilbur´s Schläfen glänzten etwas und verteilten einen leichten angenehmen Pfefferminzgeruch, Tiger Balsam.

    Aus dem Hinterzimmer hörte man Musik von einem alten Plattenspieler.

    Bei genauem Hinhören fuhr es Roscoe durch Mark und Bein. Es lief die Platte Parlami d´amore Mariù von Tino Rossi. Eine Platte, die er bereits von seinem Vater kannte und die er auch auf seinem MP3 Player hatte.

    Für den Bruchteil von Sekunden fühlte sich Roscoe zurückversetzt nach Philadelphia, zurückversetzt in seine Kindheit.

    »Wie kann ich ihnen helfen, suchen sie ein bestimmtes Buch?«, fragte Wilbur freundlich und lächelte Roscoe dabei an.

    »Was? Ja, nein… eigentlich nicht. Ich will einfach nur entspannen. Vielleicht will ich auch flüchten… aus dieser Welt voller Lügen und Betrug. Verzeihung, nein, ich habe keine festen Vorstellungen. Kein Sachbuch, nichts, wo man mich wieder belehren will, einfach etwas, was einfach nur schön zu lesen ist«, erklärte Roscoe.

    »Ah… ich verstehe. Lassen sie mich einmal überlegen. Ich denke… ja, ich denke ich habe da was für sie. Vielleicht trinken sie ihren Kaffee und ich suche mal eben das Buch, ja?«, fragte Wilbur und war auch schon verschwunden.

    Roscoe war wie hypnotisiert. Dieses Lied im Hintergrund, Wilbur Destiny, der Buchladen, die ganze Situation… es hatte alles etwas Irreales. Man fühlte sich wie außerhalb der Realität, als gäbe es im Geschäft selbst keine Zeit.

    Roscoe steckte sich eine Zigarette an und trank seinen Kaffee, während er Wilbur dabei beobachtete, wie er von Regal zu Regal ging.

    »Ah, da ist es ja. Ich wusste doch, dass ich es noch habe. Ich denke, dass sie das interessieren wird«, rief Wilbur, der gerade von einer kleinen Trittleiter hinunterkletterte.

    »Wie ist der Titel des Buches?«, fragte Roscoe neugierig.

    »Ich denke nicht, dass sie es kennen. Es ist ein altes Buch. Soweit ich weiß, wurde es nur in einer sehr kleinen Auflage verlegt. Der Titel des Buches sagt nicht viel über den Inhalt des Buches aus. Es handelt von einem jungen Mann, der in der Fremde sein Glück sucht. Der Titel ist… Vom Glück verurteilt… es ist als Tagebuch geschrieben, aber sehr interessant zu lesen. Hier sehen sie mal«, sagte Wilbur und reicht Roscoe das Buch rüber.

    Bereits als Roscoe das Buch in seinen Händen hielt, wusste er, dass er das Buch lesen musste. Es war ein brauner etwas abgegriffener Einband aus dunklem Leder mit goldener Schrift.

    »Vom Glück verurteilt… mmh, das hört sich seltsam an, finden sie nicht?«, fragte Roscoe.

    »Manchmal erkennen Menschen ihr Glück nicht. Dann kann es schon mal sein, dass das Glück etwas nachhilft. Es ist aus dem Jahr 1872. Der junge Mann ist der Sohn einer Rancherfamilie aus Lockhart, Texas. Das ist in der Nähe von Austin. Nach einem tragischen Schicksalsschlag beschließt er nach Arizona zu gehen. Also ich habe es verschlungen«, antwortete Wilbur und nahm einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

    Roscoe hielt das Buch fest in seinen Händen. Ein junger Mann, der nach einem Schicksalsschlag seine Heimat verlassen hat. Das erinnerte Roscoe an sein eigenes Leben.

    »Ich denke ich nehme es. Ich habe etwas übrig für Neuanfänger. Was bekommen sie dafür, Mr. Destiny?«, fragte Roscoe höflich.

    »Was es ihnen wert ist. Sagen wir 8 Dollar?«, fragte Wilbur.

    »Das ist es sicherlich wert. Haben sie eigentlich alle Bücher gelesen, die sie hier anbieten?«, fragte Roscoe zurück.

    »Ach wissen sie. Mir ist die Welt da draußen zu modern. Ich habe hier in meinem Laden die ganze Welt in Büchern. Und so verschieden ist die Realität nicht von der Phantasie. Ich wünsche ihnen viele schöne Stunden mit dem Buch«, antwortete Wilbur, nahm etwas braunes Verpackungspapier und wickelte das Buch darin ein.

    »Ich bedanke mich, Mr. Destiny«, sagte Roscoe und nahm das Buch.

    Er lächelte Wilbur noch einmal an und verließ das Geschäft.

    Als er wieder in seinem Bus saß, erschien ihn alles so unwirklich. Er sah das Buch in dem eingewickelten braunen Papier an, blickte noch einmal zum Geschäft von Wilbur Destiny und drehte dann den Zündschlüssel.

    Auf seinem Weg nach Hause machte er noch einen kleinen Stopp bei Jack in the Box und lies sich zwei große Papiertüten mit Hamburger und Pommes einpacken. Vom Ultimate Cheeseburger über den Jumbo Jack, bis hin zum Double Jack.

    Roscoe war für die nächsten zwei Tage versorgt. Zuhause angekommen, setzte er sich direkt an seine Textjobs. Innerhalb von zwei Stunden hatte er alles erledigt. Er mailte seine Arbeit zur Agentur und schaltete seinen Computer ab.

    Roscoe nahm eine warme Dusche, zog sich gemütliche Klamotten an, verteilte seine Snacks um sich herum und stellte ein Sixpack Budweiser bereit.

    Dann machte er es sich auf seinem Bett bequem und nahm das Buch zur Hand. Er biss einmal kräftig in einen seiner Hamburger und schlug das Buch auf.

    Vom Glück verurteilt

    von Conny Rickman

    Kapitel 1 - Lockhart frisst mich auf

    Ich bin Conny Rickman. Ich bin 17 Jahre und lebe mit meinen Eltern auf einer Ranch in Lockhart, Texas. Mein Leben besteht aus dem täglichen Einerlei eines Ranchersohnes. Ich miste den Stall aus, reite die Stacheldrähte ab und verjage mit meiner alten Sharp die Wölfe. Ich kümmere mich um das kranke Vieh, separiere es und hohle notfalls den Veterinär.

    Wenn eine Kuh kalbt, bringe ich sie in den Stall und helfe bei der Geburt. Dann brenn ich das Kalb und bringe es wieder auf die Weide zurück.

    Ansonsten bin ich beim Vieh und langweile mich.

    Das mache ich nun schon seit meinem 13. Lebensjahr.

    Ich hatte nie richtig die Möglichkeit eine Schule zu besuchen. Anfangs ging ich noch ein oder zweimal in der Woche zur Schule nach Lockhart. Die Arbeit auf der Ranch forderte jedoch meine ganze Aufmerksamkeit. Da war noch das Feld, was mein Vater als Viehfutter für die Winterzeit angelegt hatte. Dieses Gebiet durfte während der Sommerzeit vom Vieh nicht betreten werden. Hier wurde das Heu angesammelt, was dem Vieh für den relativ kurzen Winter zur Verfügung stand. Das Feld musste gemäht und das Heu gebunden und in den Heuschober gebracht werden. Das war meine Arbeit bis zu meinem 17. Lebensjahr. Alle drei Jahre trieben wir eine ausgesuchte Menge Rinder nach Lockhart und verkauften sie.

    Dann bekam jedes Familienmitglied einen Wunsch erfüllt. Bei meiner Mutter war es ein neues Kleid aus lindgrüner Baumwolle mit Blumenmuster und kleinen Seidenapplikationen. Mein Vater kaufte sich ein neues Gewehr. Eine Winchester 30/ 30. Ich bekam meinen ersten Revolver. Einen Colt, Kaliber 45 longcolt, einen sogenannten Peacemaker. Mit braunen Holzgriffen. Es war die Quickdraw Version. Mein Vater und ich verbrachten nach der Arbeit viel Zeit zusammen und wir übten uns im Schießen.

    Ja, und nun sitze ich hier und langweile mich zu Tode.

    Ich habe während des Tages sehr viel Zeit. Während die Rinder ruhig ihr Gras fressen, liege ich da und lese. Ich denke, dass ich während der ganzen Zeit so gut 100 Bücher gelesen haben muss.

    Mr. Bender, der Besitzer des Kolonialwarenladens in Lockhart hebt mir immer die neuen Bücher auf, die ich dann gegen die alten ausgelesenen Bücher tauschen kann.

    Seit einiger Zeit verspüre ich jedoch den Wunsch, selbst etwas zu schreiben, vielleicht ein Tagebuch.

    Es begann eigentlich damit, dass mein Vater nach einem weiteren Viehverkauf ein größeres Stück Land und weitere Zuchtrinder dazukaufte. Nach gut zwei Jahren wuchs unser Viehbestand auf stattliche 1.200 Stück Vieh an. Mein Vater stellte im Laufe der Zeit zwei weitere Cowboys ein. Er selbst fuhr nur noch zu Viehauktionen. Er kaufte und verkaufte. Die Ranch wuchs und wuchs.

    Roscoe legte das Buch zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als er mit seinem Vater nach der Arbeit zusammensaß und sie sich gemeinsam ein Baseballspiel im Fernsehen ansahen. Die Mutter war in der Küche und das ganze Haus roch nach frischem Apfelkuchen. Nach frischem Apfelkuchen mit warmer Vanillesauce. Und Zimt, Zimt war auch immer dabei. Immer wenn Mutter ihren Apfelkuchen zubereitete verströmte allein der Duft des frischen Apfelkuchens eine Weihnachtsstimmung im ganzen Haus. Es hatte immer etwas von einem Feiertag.

    Roscoe erinnerte sich auch an die Tage, an denen er mit seinem Vater nach der Arbeit einfach nur im Wohnzimmer saß, seine Hausaufgaben machte und seinen Vater dabei beobachtete, wie er sich eine Pfeife zurecht stopfte und sie dann ganz langsam und gemütlich rauchte. Allein bei diesem Gedanken vernahm Roscoe den süßlichen Duft, den Vaters Tabak im ganzen Haus verbreitete.

    Roscoe verspürte eine leichte Müdigkeit, drückte seine Zigarette aus und schloss die Augen. Innerhalb weniger Sekunden schlief er tief und fest.

    Gegen Abend wachte Roscoe auf und verspürte ein nagendes Gefühl von Hunger im Magen. Er nahm sich einen Double Jack Burger aus der Tüte und setzte sich frischen Kaffee auf.

    Er verbrachte den ganzen Abend bis spät in die Nacht hinein mit Lesen. Inzwischen war Roscoe im Buch einige Kapitel weiter.

    Er las, wie Conny sich immer mehr vom elterlichen Geschäft zurückzog und sich einen Beruf in der Stadt nahm. Mr. Bender, der Kolonialwarenhändler, erweiterte sein Geschäft um eine Bibliothek. Er hatte inzwischen tausende Bücher angesammelt. Gleichzeitig gab er eine kleine Wochenzeitung heraus, den Lockhart Observer.

    Der Lockhart Observer bestand aus lediglich zwei Seiten, einer Titelseite und einer noch traurigeren Rückseite. Trotzdem kam der Observer in Lockhart gut an und entwickelte sich schnell zu einer wöchentlichen festen Institution. Nach zwei Monaten erreichte Bender die Grenze seiner physischen Kapazitäten. Er entschloss sich jemanden festes einzustellen.

    Mr. Bender kannte Conny schon eine ganze Weile und wusste von seiner Liebe zur Literatur. Eines Tages machte Mr. Bender ihm ein Angebot.

    Conny sollte den wöchentlichen Observer herausgeben und sich um die Bibliothek kümmern.

    Conny war gerade 25 Jahre alt geworden. Nach 12 Jahre Rancharbeit verließ er den elterlichen Betrieb und zog nach Lockhart. Er wohnte in einer kleinen 2 Zimmerwohnung über dem Kolonialwarengeschäft von Mr. Bender.

    Mr. Bender war mit ihm als Bibliothekar und Schreiber des Lockhart Observers mehr als zufrieden. Er kannte alle Buchtitel und so gut wie alle Buchinhalte. Jedes Buch wurde für 15 Cent ausgeliehen. Aus Mr. Bender´s anfänglichen kleinen Bibliothek wurde innerhalb eines Jahres eine stattliche Stadtbücherei.

    Der Observer wuchs auf 4 Seiten und finanzierte sich allein durch die vielen Anfragen von Anzeigenkunden.

    Alle waren zufrieden. So ging ein Jahr ins Land. Conny war gerade 26 Jahre geworden. Seine Eltern bereiteten ihm ein großes Geburtstagsfest auf der Ranch.

    Die Ranch ist mittlerweile auf die 5fache Größe angewachsen. Die Rinderzucht lief gut. John und Ruth, Conny´s Eltern, haben sich bereits von der aktiven Arbeit auf der Ranch zurückgezogen und fuhren nur noch gemeinsam zu Viehauktionen. Sein Vater beschäftigte inzwischen 12 Männer, die sich um alle Arbeiten auf der Ranch kümmerten.

    Zwei Tage nach seinem 26. Geburtstag verlor Conny beide Eltern bei einem schrecklichen Unfall. Ein paar betrunkene und wild um sich schießende Cowboys sorgten dafür, dass die Pferde vom Wagen, mit dem John und Ruth Rickman gerade auf dem Nachhauseweg waren, durchgingen und der Wagen vom Weg abkam und sich überschlug.

    Die Verantwortlichen konnten nie ermittelt werden… Ruth und John Rickman verstarben noch an der Unfallstelle.

    Conny erfuhr erst gegen Abend vom Tod seiner Eltern, als der Sheriff bei ihm vor der Tür stand und ihm Mitgefühl heuchelnd die Nachricht brachte.

    Für Conny brach eine Welt zusammen. Er hatte die einzigen Menschen in seinem Leben verloren, die ihm etwas bedeutet haben. Innerhalb weniger Stunden veränderte sich schlagartig sein Leben. Nach der Beerdigung lebte er noch eine ganze Weile auf der elterlichen Ranch und versuchte den Ranchbetrieb aufrecht zu erhalten.

    Nach drei Monaten musste er sich aber eingestehen, dass er die Ranch nicht weiterführen konnte… nicht wollte.

    Bei der Testamentsverlesung stellte sich heraus, dass Ruth und John ein kleines Vermögen angehäuft hatten.

    Das Barvermögen betrug ganze 38.700 Dollar.

    Nachdem Conny die Rinderzucht und die elterliche Ranch verkaufte, befanden sich insgesamt 59.100 Dollar auf seinem Bankkonto.

    Fünf Jahre lebte Conny noch in Lockhart von seinen Ersparnissen.

    Eines Morgens beschloss er abrupt sein Leben zu verändern. Er wollte raus aus der grauen Welt seiner Kindheit, raus aus dem Schleier von Armut, Verzicht und Arbeit. Raus aus den Erinnerungen an seine Eltern und dem tragischen Ende.

    Genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich ein schönes Leben hätten machen können, schlug das Schicksal zu und beendete alle Wünsche mit einem Schlag. Er wollte nicht länger in dieser Umgebung leben. Er beschloss nach Westen zu gehen.

    Roscoe klappte das Buch abrupt zu und warf es vor sich aufs Bett.

    »Das ist doch ein Witz«, sagte Roscoe laut und lachte.

    Er zündete sich eine Zigarette an und sah wieder auf das Buch. Ihn beschlich ein leicht mulmiges Gefühl im Magen. Was er da bislang gelesen hatte entsprach seinem Leben. Es spielte in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, aber es war seine Geschichte.

    Die Kindheit, das Elternhaus, die Entwicklung des elterlichen Geschäftes, die Tatsache, dass Conny mit 25 Jahren in eine eigene Wohnung zog und sich vom Geschäft der Eltern abwendete.

    Ja und dann die Sache mit dem Unfall. Zwei Tage nach Conny´s Geburtstag sterben beide Eltern bei einem tragischen Unfall. Das war sein Leben. Jemand erzählte hier sein Leben.

    Roscoe schüttete sich seinen Kaffeebecher noch einmal voll und griff wieder zum Buch. Seine Gedanken explodierten in seinem Kopf wie ein Feuerwerk auf einem Jahrmarkt. Wenn es ein Tagebuch sein soll, dann wären es also Erlebnisse, die dieser Conny selbst erlebt hat, haben soll oder zumindest behauptet er es.

    Allerdings wäre es ein seltsamer Zufall, dass sich zwei Leben so sehr ähneln sollten. Andererseits wäre es ein noch größerer Zufall, wenn sich jemand so etwas aus den Fingern gesaugt hätte, was mit meinem Leben identisch wäre.

    Roscoe zündete sich eine weitere Zigarette an und las weiter im Buch.

    Vom Glück verurteilt

    von Conny Rickman

    Kapitel 5 - Der Weg nach Westen

    Es ist gute 5 Jahre her, seit ich meine Eltern verloren habe. Ich lebte die letzte Zeit einfach in den Tag hinein. Mehr und mehr bekam ich das Gefühl, dass ich in Lockhart keine Luft mehr bekam. Die Stelle bei Mr. Bender habe ich bereits vor längerer Zeit aufgegeben. Mr. Bender war sehr verständnisvoll und schenkte mir zum Abschied sogar noch ein großes Konvolut an Büchern.

    Ich ging zum Stellmacher und kaufte mir einen Planwagen. Es war ein Mix aus einem typischen Planwagen, so wie ihn die alten Siedler benutzten und einem Chuckwagon, einem Planwagen, der als Küche umgebaut war und so den Cowboys auf ihren Viehtrieben dienlich war. Er war gute zwei Fuß länger als ein gewöhnlicher Planwagen.

    Ich konnte in ihm leben. Er bot mir ein Lager für die Nacht und gleichzeitig die Möglichkeit mich zu verpflegen. Er sollte für lange Zeit mein mobiles Zuhause sein.

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