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Wie die Nummer 5 zum Halten kam: Jugenderinnerungen
Wie die Nummer 5 zum Halten kam: Jugenderinnerungen
Wie die Nummer 5 zum Halten kam: Jugenderinnerungen
eBook257 Seiten3 Stunden

Wie die Nummer 5 zum Halten kam: Jugenderinnerungen

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Über dieses E-Book

Wir brachten nicht nur die Straßenbahn Nummer 5, die durch unser Viertel fuhr, außerplanmäßig zum Halten und stiegen in fremde Gärten ein, sondern schlugen uns auch mit der autoritären Haltung mancher Väter und mancher Lehrer herum. Wir wuchsen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auf. Viele unserer Eltern waren nach dem Krieg mit nahezu Nichts aus ihrer alten Heimat geflohen und waren froh, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Für viele Familien war es schon Wohlstand, wenn sie in den ersten Jahren genügend Heizmaterial und Essen hatten. Wir Kinder fanden diesen Zustand damals nicht ungewöhnlich, da wir alle in derselben Situation waren. Das änderte sich aber mit den Jahren: Die Väter brachten mehr Geld nach Hause und wir konnten uns ein paar neue Sachen leisten.
Die meisten von uns gingen damals erst einmal auf eine Realschule. Alle aus unserer Klasse erlernten einen Beruf, der ihnen eine gesicherte Existenz ermöglichte. Einige gingen weiter auf Fachhochschulen oder Universitäten und promovierten. Eine Klassenkameradin habilitierte sich in Geschichte.

Wir hatten Stärken und nutzten sie: lernen und nicht aufgeben. Wir wollten raus aus der Enge der kleinen Wohnungen und weg von dem Sparzwang; wir wollten zeigen, was wir konnten; wir hatten Perspektiven und nutzten unsere Chancen. Die Arbeitswelt brauchte gute junge Leute. Wir hatten kein Problem, einen Job zu finden. Den Regierungen war damals klar, dass das Land nur dann die notwendigen qualifizierten Fachleute bekommen würde, wenn sie uns, die Kinder der kleinen Leute, finanziell förderten.

Aus diesen Jahren erzähle ich meine Geschichten. Nicht alles, was ich berichte, muss sich so abgespielt haben. Diese Erinnerungen habe ich im Laufe mehrerer Jahre aufgeschrieben. Oft nutzte ich die Zeit auf nächtlichen Transatlantikflügen dazu. Jedes Mal, wenn ich später ehemalige Klassenkameraden getroffen hatte, wurde die eine oder andere Episode verändert oder ergänzt. Manchmal gab es unterschiedliche Sichtweisen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juni 2020
ISBN9783347082649
Wie die Nummer 5 zum Halten kam: Jugenderinnerungen
Autor

Uwe Trostmann

Dr. Uwe Trostmann wurde 1952 im Schwarzwald geboren. Aufgewachsen und gelebt hatte er die meiste Zeit in Freiburg und im Breisgau, bevor es ihn vor wenigen Jahren noch weiter südlich nach Kandern zog. Als Naturwissenschaftler hatte er über 30 Jahre in der pharmazeutischen Industrie gearbeitet. Beruflich und privat bereiste er große Teile der Welt und ist auch heute noch sehr viel unterwegs. Zuhause fühlt er sich aber im Schwarzwald. Auf seinen Reisen lernte Uwe Trostmann viele Länder und unterschiedliche Menschen kennen, deren Lebensweisen, soziale und politische Strukturen sein Interesse für Politik und Geschichte weckten. Mit Beginn der Rente widmete er sich vermehrt diesen Themen und vor allem der neueren deutschen Vergangenheit und der aktuellen Politik. Die Geschichte der Menschen zwischen den Weltkriegen und während des Aufbaus der BRD und auch die aktuellen sozialen und politischen Veränderungen sind Thema seiner ersten Bücher. Angeregt durch die dramatischen sozialen und politischen Veränderungen in unserem Land, schrieb er sein Erstlingswerk »Fake – Der Lügenfaktor«, was seit 2017 als Buch vorliegt. Anfang 2020 wurde die erste Version überarbeitet und mit dem Titel »Fake oder die Wahrheitsmacher« neu herausgegeben. In seinem Werk »Fischhaut« setzt er sich mit dem Leben eines Deutschen auseinander, der zwischen 1930 und im Nachkriegsdeutschland sein persönliches Glück zu finden sucht. »Wie die Nummer 5 zum Halten kam« ist eine Sammlung von autobiografischen Erzählungen aus seiner Jugendzeit in Freiburg Haslach und wurde im Sommer 2020 veröffentlicht. In seinem ersten Kriminalroman „Giftiges Blut“ lässt Uwe Trostmann Chief Inspector Steve Brennan und seine Assistentin Roberta Foster sich mit mysteriösen Fällen von Vergiftungen beschäftigen, die ihren Ursprung vor vielen hundert Jahren in Schottland haben. Im zweiten Kriminalroman "Die 10 Kapitel der Vergeltung" stellt sich Chief Inspector Roberta Foster die Frage, was in Briefen angekündigte Morde, eine Geiselnahme, ein korrupter Polizeiinspektor und Kokain-Dealer miteinander zu tun haben. Im dritten Kriminalroman "Pest Blut" drohen Terroristen mit der Verseuchung des Trinkwassers von Birmingham. Können Chief Inspector Roberta Foster und ihr ehemaliger Chef Steve Brennan weitere Anschläge mit noch mehr Pest-Opfern verhindern? Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.

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    Buchvorschau

    Wie die Nummer 5 zum Halten kam - Uwe Trostmann

    Ein neuer Anfang

    Vielleicht gibt es tatsächlich eine Vorbestimmung. Ich erinnere mich, dass ich oft einen neuen Anfang suchen musste. Das passierte mir in meinem privaten Leben ebenso wie in meinem beruflichen. Ich wurde Wissenschaftler, genauer Chemiker, und später medizinischer Wissenschaftler. Vieles im Labor, ich möchte behaupten, das meiste, lief nicht so, wie es auf dem Papier geplant war. Da fügten sich chemische Bindungen nicht zu neuen Substanzen zusammen, oder wenn nach 20 Versuchen der neue Stoff tatsächlich synthetisiert worden war, zeigte er entweder nicht die gewünschten chemischen Eigenschaften oder später nicht die gewünschten biologischen Wirkungen im Zellexperiment.

    Noch einmal von vorne, zurück auf Start war die Devise. Langanhaltende Enttäuschung war nicht erlaubt. Als Wissenschaftler lernte ich, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen. Diese Beharrlichkeit hatte ich mir schon als Kind aneignen müssen, denn meine Mutter gab mir zu verstehen, dass das einmal nicht Gelungene so oft wiederholt werden musste, bis es klappte. Fiel mein Bauklotzturm zusammen, so sollte ich ihn wieder aufbauen, aber so, dass er stehen blieb. Gefiel mir ein Bild nicht, sollte ich es neu malen. Konnte ich eine Rechenaufgabe nicht lösen, ermutigte mich meine Mutter so lange nachzudenken, bis ich das Resultat gefunden hatte. Manchmal war es später eine Art Wut über den Misserfolg, die mich zum erneuten Versuch antrieb.

    Und so lernte ich, vermeintlich unlösbare Aufgaben zu lösen. Handwerklich bin ich nicht mit besonders viel Fingerspitzengefühl ausgestattet. Dennoch baute ich später ein paar Regale oder Lautsprecherboxen selber und sägte und schraubte so lange daran herum, bis das Ergebnis gut war. Der Stolz auf die gemeisterte Aufgabe war und ist meine antreibende Kraft. Ähnlich muss es anderen in der Jugend ergangen sein, die danach auch Naturwissenschaftler geworden waren. Nur so waren sie später in der Lage, Experimente im Labor so lange zu wiederholen, bis sie das gewünschte Ergebnis bekamen oder sagen konnten, so geht es nicht. Ich konnte es später verschmerzen, dass ich vom Vater nie ein Lob erhalten hatte. Er hatte die meisten Sachen gar nicht erst angepackt, wenn er nicht zu 100 Prozent sicher gewesen war, dass er die Aufgabe bewältigen konnte. Später erkannte ich, dass es solche bei ihm nicht häufig gegeben hatte.

    In meinem privaten Leben brauchte ich zum Glück nicht 20 oder mehr Anläufe, bis eine neue Beziehung stand, eine Wohnung oder ein Haus gebaut worden war. Das hätte mich schon frühzeitig die letzten Kräfte gekostet und mein Konto schnell geleert. Bis heute habe ich es auf drei längerfristige Beziehungen gebracht. Dazwischen liegen ein paar kurzfristige.

    Einige meiner Bekannten sind öfter umgezogen oder hatten mehr Jobs als ich. Doch einige taten sich schwer damit. Und das war mein Vorteil: Ein Ende ist immer schmerzhaft, ich kam aber schnell wieder auf die Füße. Im Labor hatte ich keine Zeit, tagelang über eine missglückte chemische Reaktion zu jammern. Stattdessen musste ich schnell Erklärungen finden und mir einen neuen Ansatz überlegen.

    Meine Generation wuchs noch mit der Erwartung in die Arbeitswelt hinein, dass der erste Job bis zur Rente in ein und derselben Firma gemacht werden könnte. Doch bald wurden wir eines Besseren belehrt. Es begann die Zeit der Firmenübernahmen, in deren Folge Abteilungen und Aufgaben „konsolidiert" wurden. Wir lernten schnell, dass das eine bessere Bezeichnung für einen Rausschmiss war. Personalberater machten uns Mut zu einem Neuanfang. Ein solcher sei immer eine neue Chance, sagten sie. Ich hatte Glück damit, andere weniger. Schon bald mussten wir lernen, dass sich dieses Karussell aus Firmenübernahmen, Umorganisationen oder Projektentscheidungen immer schneller drehte. Viele hielten diesem Druck nicht stand. Rückblickend stelle ich allerdings fest, dass gerade unsere Generation, die in den Fünfzigerjahren geboren wurde, recht gut damit umgehen konnte. Die meisten haben durchgehalten. Lag das auch an den schwierigen Startbedingungen? Hatten die uns für das Durchhalten geprägt?

    Missglückte menschliche Beziehungen kann ich, wie die meisten, nicht so einfach wegstecken. Ich konnte diese Probleme weder mit meiner Labormethode lösen, noch hatte ich dafür einen Personalberater. Die Erfahrungen möchte ich dennoch nicht missen.

    Jetzt bin ich dabei, mein Haus auszuräumen, das ich mit meiner ersten Frau vor 34 Jahren gebaut habe. Ich suche einen Neuanfang mit meiner Lebenspartnerin; wir bauen ein gemeinsames Haus in einer anderen Stadt. Ich bin jetzt 66 Jahre alt und frage mich, ob ich diesen Neuanfang auch noch so problemlos hinbekomme. Nachdem die ersten Kisten gepackt sind, merke ich den Unterschied: Hier geht es nicht um eine Erinnerung an gestern, sondern um Jahrzehnte. Meine Eltern sind vor zehn Jahren gestorben. Sie haben Erinnerungsstücke hinterlassen: Hochzeitsgeschirr, Fotoalben, Familienunterlagen. Unweigerlich beginne ich darin zu blättern. Unsere erste Wohnung in Freiburg. Klein war sie für heutige Verhältnisse. Meine Mutter steht auf dem Balkon. Offenbar hatte sie gerade Wäsche aufgehängt.

    Angekommen in den Fünfzigern

    Recht bescheiden und bunt hatte es bei uns angefangen. Bunt gemischt, beinahe multikulti nach heutigen Maßstäben: Aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Baden und Freiburg stammten die Nachbarn. Rudi, Horst, Kai, Christiane, Heiko, Werner, wir Kinder kannten keine Unterschiede. Wir wohnten im Freiburger Stadtteil Haslach, in einer Siedlung, die in den fünfziger und sechziger Jahren erbaut wurde. Aus heutiger Perspektive sahen die Häuser nicht nur nach Sozialwohnungen aus, es waren auch solche. Drei Stockwerke hoch, zwischen vier und acht Eingänge, drei Wohnungen auf jeder Etage.

    Gleichmäßig waren sie gebaut, weiß verputzt, die Fensterrahmen weiß gestrichen. Der Fahrradkeller hatte einen Ausgang zum Hinterhof. Er war meist verschlossen, jeder sollte durch den Haupteingang kommen und gehen. Unser Hauseingang lag zur Straße, andere Häuser hatten ihn zum Hof. Vier Häuserblöcke waren um einen Hof gebaut. Der größte Teil des Platzes bestand aus einer Rasenfläche, an deren Enden jeweils rechteckige kleine Bereiche mit Steinplatten belegt waren. Darauf befanden sich Teppichstangen. Teppiche hatten schon viele Familien, denn ständig hing einer dort. Außer wenn es geschneit hatte, denn dann wurden die Teppiche mit der Oberfläche auf den Schnee gelegt, und unsere Mütter bearbeiten sie mit dem Teppichklopfer. Zurück blieb ein brauner Abdruck, den unsere Mütter mit Wohlgefallen betrachteten – denn der Teppich war nun sauber. Diese Häuserblocks waren unser Zuhause, der Ort, an dem wir wohnten und spielten. Von dort aus gingen wir später zur Schule. Das Viertel war sauber und gepflegt, jeder Bewohner sorgte dafür. Die Mieter der Erdgeschosse säuberten die Wege vor dem Haus, die anderen kümmerten sich um die Treppenhäuser.

    „Wir sind Flüchtlinge", sagte mein Vater. Er wollte damit klarstellen, dass er und Mutter ohne Hab und Gut aus dem Krieg gekommen waren. Er betonte im nächsten Satz aber auch, dass sie schon viel erreicht hatten. Ein gewisser Stolz klang mit, und er wollte sich auf keinen Fall in die zweite Reihe stellen. Vater organisierte für mich einen Vertriebenenausweis. Er meinte, das Papier könnte noch einmal nützlich sein. Als ich Jahre später bei der Wohnungssuche auf die Frage, ob ich Vertriebener sei, diesen Ausweis vorlegte, begriff ich, dass dieses Papier nichts wert war. Ich war kein Flüchtlingskind, sondern hier geboren. Warum sollte ein Nachkriegskind auch Vorteile haben?

    Die Mitglieder sind nicht besonders groß. Mein Vater Erich, 1,68 Meter groß in seiner besten Zeit, schlank, lange Zeit durch seine körperliche Arbeit im Garten gut durchtrainiert, war ein cholerischer Mensch, der sich oft nicht unter Kontrolle hatte. Er sah diese Eigenschaft als Stärke an und setzte sie bewusst ein, wenn er bei Liselotte, meiner Mutter, etwas erreichen wollte. Seine dunklen, in früheren Jahren schwarzen Haare waren stets streng nach hinten gekämmt, beim Ausgehen mit Pomade. In seinem Auftreten machte sich seine lange Soldatenzeit bemerkbar: Wenn er konnte und durfte, spielte er den befehlenden Oberkommandierenden, wenn nicht, den unterwürfigen, befehlsempfangenden Soldaten. So sahen wir ihn aus dem Haus marschieren, mit gerader Haltung, den Hals in die Länge gezogen. Zu Hause hatte er seine Befehlsempfänger: meine Mutter und mich. Vater gab die Befehle, wir gehorchten. Meine Mutter hatte das im Dritten Reich gelernt, für mich aber waren seine Wutausbrüche schon in frühen Jahren verabscheuungswürdig.

    Meine Mutter, eine kleine, mehr rundliche als schlanke Frau mit blonden Haaren, war im Vergleich zu meinem Vater still. Die Zeit während des Dritten Reiches und im Krieg hatte sie Gehorsam lernen lassen. Sie war die ideale Partnerin für Vater. Sie hielt Ordnung, wo er es nicht konnte, aber verlangte. Sie pflegte seine Kleidung, sie fand immer noch billigere Lebensmittelquellen, um den Zwang von meinem Vater zum Sparen entgegenzukommen. Mutter ließ sich viel von ihrem Mann gefallen, viel zu viel. Er brüllte sie an, er schlug sie, er demütigte sie verbal und vor anderen Frauen. Sie wurde wütend, sie weinte, sie spionierte ihm nach. Aber sie brachte zeitlebens nicht die Kraft auf, sich von seinen Fesseln zu befreien. Immerhin wusste sie auch zu genießen, wenn er sie ließ.

    Heute, wo das Thema Flüchtlinge in Deutschland wieder aktuell ist, werden in den Familien die alten Erinnerungen wach, und die Medien bringen entsprechende Rückblicke. Viele von denen, die 1945 aus Ostpreußen oder Pommern gen Westen flüchteten, leben nicht mehr. Dennoch werden die alten Geschichten der Eltern und Großeltern wieder lebendig. Viele Kinder und Enkel erinnern sich.

    In meiner eigenen Familie habe ich allerdings kaum etwas dazu erfahren. Für meinen Vater war das alles erledigt, und er versuchte, sich so gut wie möglich in seiner neuen Umgebung einzuleben. Er hielt auch nichts vom Trauern um die verlorene Heimat:

    „Der Russe wird das Land nie wieder zurückgeben, meinte er. Polen und Russland waren für ihn politisch dasselbe, da machte er keinen Unterschied. In meiner frühesten Jugend sah ich ab und zu eine Ausgabe des Ostpreußenblattes, aber es verschwand bald aus dem Haushalt. Suchte ich nach den Heften, wurde mir gesagt: „Das verstehst du noch nicht.

    Ich fand das sehr bedauerlich, weil ich die alten Bilder so interessant fand. Mutter erklärte mir, dass Ostpreußen für meinen Vater erledigt sei. Außerdem würde in dem Blatt Hetze betrieben. Gegen wen? Ich verstand das nicht so richtig, das Wort Hetze hörte sich für mich auch nicht so gut an.

    An- und vor allem untergekommen waren meine Eltern, die aus Ostpreußen und Pommern kamen, in Südbaden: mein Vater zunächst bei der französischen Armee in Todtnauberg, meine Mutter in Freiburg und meine Großeltern mütterlicherseits am Kaiserstuhl.

    Meine Eltern erzählten selten von ihrem Leben in der alten Heimat. Fing meine Mutter in meiner Gegenwart davon an, wurde sie schnell von meinem Vater zurückgepfiffen:

    „Das will der Junge gar nicht hören."

    Für meinen Vater war das Hier und Jetzt die neue Heimat, und ich sollte nicht beeinflusst werden. Was eine selten gute Einstellung von ihm war. Noch heute hören wir die Schreihälse, die nach den Grenzen von 1939 rufen. Ihn zog es jetzt in die Berge, und er wanderte bei jeder Gelegenheit, wenn er nicht im Garten war. Mutter aber lebte bis zu ihrem Tod geistig in der alten Heimat weiter. Sie vermisste sie sehr. Sie war nie richtig in der neuen Heimat angekommen. Heute denke ich, dass sie ebenso traurig über ihre Situation in der Ehe mit ihm war. Kontakte durfte sie nur haben, wenn er es erlaubte. Und es waren nicht viele, die er ihr gestattete.

    Meine Eltern versorgten mich nicht gerade bücherweise mit interessanten Informationen zur Geschichte der Vorfahren. Alles, was ich weiß, passt in wenige Sätze: Vater war in Königsberg aufgewachsen und 1933 Soldat geworden. Von diesem Jahr an war er nur noch an den Wochenenden und im Urlaub zu Hause gewesen. Nur selten machte er Andeutungen zu seinen Jungenjahren. Er und seine Freunde verbrachten viel Zeit mit dem Segelboot auf dem Fluss Pregel. Sie hatten die Boote selbst gebaut und segelten von Königsberg zum Frischen Haff. Wenn er darüber sprach, sah ich, wie sich das strenge Gesicht meines Vaters aufhellte. Das kam äußerst selten vor.

    Über die Familie meines Vaters wurden keine Geschichten erzählt. Kein Wort zu Eltern, Geschwistern, Tanten. Eine einzige Fotografie existiert von den ernst blickenden Großeltern, Fritz und Johanna Trostmann, mit allen fünf Kindern: Lene, Paul, Erich, Willi und Ernst. Ich habe diese Großeltern nie kennengelernt. Gerne hätte ich mehr über sie erfahren. Was machte der Großvater, wie war sein Charakter? Und die Großmutter? Auf meine Nachfrage hörte ich lediglich, dass mein Großvater bereits während des Krieges in Ostpreußen starb, meine Großmutter kurz danach. Und die Vorfahren? Erst nach dem Tod meines Vaters fand ich Urkunden und ein paar Unterlagen in seinen Hinterlassenschaften. Erstaunlicherweise reichen sie bis 1754 zurück. Erichs Vater war Kutscher, seine Eltern übten handwerkliche Berufe aus.

    Ernst, der jüngste Bruder, war im Krieg gestorben. Zu Paul hatte mein Vater keinen Kontakt, zu Lene und Willi nur ab und zu. Willi hat zwei Kinder, Alfred und Walburga, die ich noch heute jedes Jahr einmal treffe. Lene hat einen Sohn, den ich jedoch nicht kenne, und Paul hat keine Kinder.

    Auch meine Mutter erzählte nicht viel über die Vergangenheit. Ein Vorfahr namens Carl Ludwig Hermann Ginnow wanderte mit seiner Familie über Bremen nach New York aus. Ihr Ziel war Oshkosh in Wisconsin, wo immer noch ein Teil der Familie lebt. Meine Mutter pflegte aber keinen Kontakt mit diesen entfernten Verwandten.

    Und wie hatte meine Mutter die Flucht erlebt? Sie war auch über die Ostsee gekommen. War das eine Ferienreise? Immer waren sie vor „dem Russen" geflohen, hieß es. Aber hatte sie mal einen gesehen? Auch ihre Mutter, meine Großmutter, hüllte sich in Schweigen. Das Erlebte muss schwerwiegend gewesen sein. Sie versuchten zu verdrängen. Für sie war alles vorbei: Wichtig war, dass sie lebten. Sie hatten Arbeit, eine warme, trockene Wohnung und zu essen.

    Da ich vom Vater gelernt hatte, dass man nicht so viel fragen soll, bekam ich auch keine Antworten. Irgendwann hatte ich die Lust verloren, keine Antworten auf meine Fragen zu diesen Themen zu bekommen. Ich wuchs in Freiburg auf, hatte meine Freunde und hörte nur selten das Wort Vertriebene - mein Vater vermied es ganz und gar und verbot mir, es auszusprechen. Wahrscheinlich schwang für ihn in dem Wort ein Unterlegensein mit. Als Soldat wollte er kein Verlierer sein. Meine Mutter redete auf Geheiß vom Vater nicht mit mir darüber, sie musste schweigen. Jahrzehnte später habe ich es versäumt, nachzufragen. Als mein Interesse wuchs, waren die Eltern schon zu alt, um erzählen zu können. Hätten sie gewollt?

    Manchmal bekam ich ein wenig davon mit, welche Schwierigkeiten sie als Flüchtlinge hatten, aber eher nebenbei. Weil die Wohnungsnot riesig war, wurden in der Nachkriegszeit Wohnungen und, falls nötig, auch einzelne Zimmer beschlagnahmt. Die Haus- und Wohnungsbesitzer waren gewiss nicht erfreut, und das schürte so manche Ressentiments. Meine Großeltern mütterlicherseits, Otto und Martha Bröker, die in Oberrotweil am Kaiserstuhl in der Nähe von Freiburg sesshaft wurden, bekamen das in den ersten Jahren tagtäglich zu spüren; sie hatten im Anbau eines Bauernhofs eine Zweizimmerwohnung zugewiesen bekommen. Ich erinnere mich, dass die vermietende Bäuerin auch zu uns unfreundlich war, und ab und zu fiel die eine oder andere Bemerkung über die Fremden. Dass die vom Geld der Einheimischen lebten und denen die Wohnungen wegnähmen – wenn ich so etwas heute, 60 Jahre später, höre, kommt mir das irgendwie bekannt vor.

    Meine Großmutter beherrschte die Küche. Sie war eine kleine, etwas rundliche Frau, ihre langen Haare trug sie stets zu einem Dutt geknotet und verließ nie ohne Kopftuch das Haus. Großmutter verlor sich beinahe in der großen und spartanisch eingerichteten Küche. Der Herd wurde mit Holz befeuert. In den ersten Jahren gab es keinen Kühlschrank; eine Kammer diente dazu, die Lebensmittel frisch zu halten. Ein Bad gab es nicht. Waren wir zu Besuch bei ihr, so hatten wir uns in der Küche gewaschen. Ich war oft bei den Großeltern. Dort befand ich mich außer Reichweite meines herrschsüchtigen Vaters. Das wöchentliche Bad erfolgte in einer Wanne, in die ich als kleiner Junge gut hineinpasste. Großmutter machte dazu große Mengen Wasser auf dem Herd warm. Wenn ich eine Zeit lang eingeweicht war, wurde der Schmutz der vergangenen Woche von mir abgeschrubbt. Großvater sah sich die Szene mit einem verschmitzten Lächeln an.

    Die Toilette war außerhalb der Wohnung. Ein überdachter Weg führte dort hin. Wasserspülung gab es erst Jahre später. Also musste man einen Eimer Wasser mitnehmen. Bibbernd lief ich als kleiner Junge ängstlich den Weg entlang, in einer den Eimer, in der anderen Hand eine Taschenlampe, denn weder draußen, noch auf jenem Örtchen gab es Licht. Im Winter, wenn alles eiskalt war, wurde im Flur abends ein Nachttopf bereitgestellt.

    Im Wohn-Esszimmer stand ein riesiger graugrüner Kachelofen, der von der Küche aus befeuert wurde. Die warme eingebaute Bank war der Lieblingsplatz von meiner Mutter und mir. Dunkle lange Holzdielen machten den Raum zusätzlich gemütlich. Ich liebte diese Wohnung. Für mich wurde sie zum Rückzugsort an manchen Wochenenden und in den Ferien.

    Meine Großeltern halfen unentgeltlich auf dem Hof, und offenbar verschaffte ihnen das etwas Respekt. Ich sehe noch heute Großvater: Ein kleiner, zufriedener Mann mit rundem Kopf ohne Haare, ein ehemaliger Dampflokführer, wie er mit

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