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Das rote Tuch
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eBook193 Seiten2 Stunden

Das rote Tuch

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Über dieses E-Book

Als Tina ihre neue Arbeitsstelle antritt, ahnt sie noch nicht, was sie dort erwarten wird. Vom ersten Tag an ist sie den heimtückischen Angriffen ihrer Kolleginnen und Kollegen ausgeliefert, und jeglicher Versuch, sich Hilfe zu holen, scheitert. Immer tiefer gerät sie in den Strudel des systematischen Mobbings hinein und sucht verzweifelt nach einem Ausweg.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Juli 2021
ISBN9783347316867
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    Buchvorschau

    Das rote Tuch - Sybil Fuhrer

    Das rote Tuch

    Nummer 34. Hier musste es sein. Mein Blick schwenkte zu dem zerknautschten Brief, den ich in meinen Händen hielt. Ich trat zwei Schritte zurück und blickte an der Hausmauer nach oben. Okay, dachte ich etwas ernüchtert und kramte nach dem Hausschlüssel, den mir der Hausverwalter per Post zugestellt hatte.

    Der penetrante, muffige Geruch von altem Holz stieg mir in die Nase. Es roch nach Treppenhaus – nach fremdem Treppenhaus.

    Im dumpfen Hall des Eingangs war mein Bestimmungsort schnell ausgemacht. Ein Poltern und Rumpeln drang aus der Wohnung im zweiten Stock.

    Etwas zögerlich stieg ich im dämmrigen Licht die Stufen empor und näherte mich dem Tumult mit jedem Schritt. Die Wohnungstür war angelehnt. Vorsichtig drückte ich sie nach innen und trat geblendet vom Tageslicht ein. Die Männer von der Umzugsfirma hatten mein Eintreffen nicht bemerkt und hetzten wie eilige Passanten von einem Zimmer zum anderen. Damit es niemandem im Weg stand, stellte ich mein Handgepäck gleich am Eingang ab.

    Es war das erste Mal, dass ich so lange von meinen Liebsten getrennt war, und so weit entfernt von ihnen. Da stand ich nun, inmitten von braunen Umzugskartons, die mich wie der Grand Canyon ummantelten. Die Umzugsmänner hatten die wenigen Möbel nach meinen Wünschen in den Räumen platziert, die Kartons jedoch willkürlich in den beiden kleinen Zimmern abgestellt.

    Mein Arbeitgeber hatte mir zwei Tage Urlaub für den Umzug gewährt. Es fühlte sich wie ein unfreiwilliger Neuanfang an. Erst vor wenigen Wochen hatte ich mich von meinem Freund getrennt. Glücklicherweise hatten mir meine besten Freundinnen seelischen Beistand geleistet. Sie fehlten mir jetzt schon. Aber welche Wahl hatte ich?

    Die Filialen in den Ländern unseres Nahrungsmittelkonzerns waren aus Kostengründen umstrukturiert und meine Abteilung von heute auf morgen in ein Niedriglohnland ausgelagert worden. Neben all den Entlassungen konnte einigen wenigen von uns eine Stelle in der europäischen Zentrale angeboten werden, und ich war eine davon. Hätte ich abgelehnt, wäre der Gang zum Arbeitsamt unerlässlich gewesen. Ich war dankbar für die Chance, die man mir schenkte, denn die meisten von uns Betroffenen blickten fortan in eine ungewisse Zukunft. Mit meinen 25 Lenzen hätte ich es zudem schwer gehabt, mich gegen eine viel erfahrenere Konkurrenz auf dem Stellenmarkt zu behaupten. Nichtsdestotrotz hatte ich großen Respekt davor, was mich erwartete, denn es war bekannt, dass im Hauptquartier ein rauerer Umgangston herrschte als in unserer familiären Geschäftsstelle, wo jeder jeden kannte und Hierarchien lediglich auf dem Papier existierten.

    In der Wohnung nebenan wummerte der Bass von Wild Cherrys Klassiker Play that funky music. Ich warf einen Blick über den Kartonstapel hinweg, hin zu einer kahlen Wand, hinter der ich die Quelle des Sounds vermutete. Der Geruch von gebrauchten Kartons signalisierte mir, mit dem Auspacken loszulegen. Ich griff nach einer kleineren Schachtel, auf der in dicken schwarzen Lettern Diversess/ Büromaterialien stand. Mit einem feuerroten Cutter löste ich die Enden des Klebebandes. Geübt vom monatlichen Waxing zerrte ich es mit einem Ruck in meine Richtung. Die oberen beiden Enden des Kartons kamen mir entgegen wie ein Mund, der nach Atem rang.

    Ich befreite den obersten Gegenstand vorsichtig aus knisterndem Seidenpapier. Zum Vorschein kam ein Bilderrahmen aus Holz im Taschenbuchformat, den mir meine zwei besten Freundinnen Rebecka und Olivia zum Abschied geschenkt hatten. Gut gelaunt posierten wir auf dem Foto vor einem Weidezaun. Im starken Wind waren wir kläglich daran gescheitert, unsere Frisuren im Zaum zu halten. Ein Islandpony im Hintergrund trotzte der Böe unbeirrt und stahl uns mit seiner wunderschönen Mähne die Show.

    Die beiden hatten sich auf dem oberen rechten Bildrand mit einer Widmung verewigt: Liebe Tina, wir sind immer bei dir!

    Sachte fuhr ich mit meinem Daumen über das Bild und drückte es dann an meine Brust. Das Seidenpapier tänzelte unbeachtet zu Boden. Damit ich meinen beiden Freundinnen nah sein konnte, stellte ich den Fotorahmen auf das leere Regal im Wohnzimmer und machte mich weiter ans Auspacken.

    Mit jedem Karton, den ich leerte, wurde die kleine Altbau-Wohnung behaglicher. Die Küche und das Badezimmer waren in die Jahre gekommen, der Holzboden hatte einige Dellen und knarrte bei jedem Schritt. Die größten Beulen direkt beim Eingang ließ ich unter einem Läufer verschwinden.

    Vor meinem Einzug waren immerhin die Wände frisch gestrichen worden, wodurch die Räume freundlich und hell wirkten.

    Ich legte eine Tagesdecke und einige Kissen auf das Sofa, die nackten Stubenfenster verhüllte ich mit einem bis zum Boden reichenden Vorhang. Mit den Textilien kam nicht nur Wärme in die Räume, sie zauberten auch im Nu den Hall und die Nebengeräusche aus den Zimmern. Den Esstisch deckte ich mit einer bunten Tischdecke und stellte eine Vase in die Mitte, die ich bei Gelegenheit mit frischen Blumen füllen wollte. Das Endresultat zauberte mir mit einem Mal ein Lächeln auf die Lippen. Es war hyggelig, wie die Dänen zu sagen pflegen.

    Das erste Drittel:

    Tercio de varas oder: Der Einzug in die Arena

    Neben dem Empfang hatte sich eine Traube von Menschen gebildet, die darauf wartete, von den neuen Arbeitskameraden abgeholt zu werden. Inmitten der Menge erkannte ich zwei Kollegen, die wie ich von der Filiale in die Zentrale versetzt worden waren.

    Nach und nach wurde die Gruppe kleiner, bis ich als Letzte übrig blieb. Es war fast wie zu Schulzeiten, wo sich manche in der Gymnastikstunde davor fürchteten, als Letzte von den Gruppenleitern ins Team gewählt zu werden. Sie waren zumeist entweder schlecht im Sport oder unbeliebt in der Klasse.

    Ich wandte mich an die Dame am Empfang. Die etwas distanziert wirkende Rezeptionistin mit dem strammen Pferdeschwanz erkundigte sich nach meinem Namen, schaute in ihrem Computer nach und erwähnte schließlich, in der Abteilung anzurufen. Nach einem kurzen Gespräch meinte sie dann zu mir: «Es ist jemand unterwegs.»

    «Okay», antwortete ich und setzte mich auf den Rand des breiten Ledersofas im Foyer. Um die Zeit zu überbrücken, spielte ich an dem Badge herum, der mir ausgehändigt worden war und an einem hellblauen Lanyard wie eine Kette um meinen Hals hing. Auf der Vorderseite meiner Erkennungsmarke lachte mir mein eigenes Gesicht entgegen. Unterhalb des Fotos standen meine Firmeninitialen TIGI und die Personalnummer. Auf der Rückseite waren interne Notfallnummern vermerkt. Ich schmunzelte innerlich, als mir der absurde Gedanke kam, eine dieser Nummern zu wählen, falls mich niemand abholen sollte.

    Im Empfangsbereich herrschte ein reges Kommen und Gehen: Die meisten liefen vom Eingang direkt zu den Aufzügen, um in die oberen Stockwerke zu gelangen. Mal leuchtete die jeweilige Zahl über dem linken Lift auf, dann über dem mittleren und dann und wann über dem rechten. Im Gegensatz zum Kinderfernsehprogramm «1, 2 oder 3» brauchten die Kollegen das richtige Törchen nicht zu erraten. Es wurde ihnen vorab auf einem Display angezeigt. Und trotzdem gab es immer wieder solche, die vor der falschen Lifttür warteten und den richtigen Aufzug gerade noch erreichten, ehe sich dieser ohne Passagier wieder davonmachte.

    Nach gut zehn Minuten trat eine Frau aus der linken Kabine heraus und steuerte direkt auf mich zu. «Bist du Tina?»

    Ich erhob mich und nickte schüchtern.

    Sie begrüßte mich mit einem schlaffen Händedruck. «Hallo, ich bin Esmé.»

    Ich folgte ihr in denselben Lift, mit dem sie gekommen war. Dabei konnte ich es mir nicht verkneifen, auf ihren apfelförmigen Hintern zu starren, der in eine knallenge weiße Jeans gepresst war. Trotz der Turnschuhe wirkte ihr Gang unsportlich und schwerfällig. Im Kontrast dazu glänzte ihr schönes, dichtes langes Haar.

    Nach einer kurzen Fahrt öffnete sich die Fahrstuhltür. Mein Blick schwenkte auf Augenhöhe und erblickte als Erstes die Türen der Waschräume im Treppenhaus. Über einen Flur mit anthrazitfarbenen Wänden gelangte man durch eine große Glastür in die Büroräume.

    Esmé hielt ihre Ausweiskarte an den Codeleser. Ein Summen verriet, dass die Tür nun entriegelt war.

    «Aus Sicherheitsgründen darfst du niemandem gleichzeitig Eintritt gewähren! Auf diese Weise können wir ermitteln, wie viele Personen sich jeweils auf den Stockwerken aufhalten. Nebst Feuerwehrübungen dienen diese Aufzeichnungen auch beim Planen der Anzahl an Büroplätzen.»

    Ich nickte und sah mich etwas verloren um. Die Gegenwart hatte mich wie auf einer sehr schnellen Zeitreise vom Stumm- zum Science-Fiction-Film eingeholt. Mein ehemaliges Büro entsprach definitiv nicht mehr dem modernen Standard. Der Unterschied war gewaltig. Die Büroräume wirkten minimal wärmer als der Lift. Das Mobiliar war modern und glänzte, als stünde es in einem Möbelgeschäft. Auf den Schreibtischen standen Monitore, ansonsten waren sie mehr oder weniger leergeräumt.

    «Wir haben hier Clean Desk Policy», klärte mich Esmé auf. «Jeder hat einen eigenen Spind. Der Arbeitsplatz muss abends aufgeräumt werden, sonst reinigen die Putzleute nicht und es gibt eine Verwarnung.»

    In meinem früheren Büro hatten wir überall Fotos, Topfpflanzen und Geschenke aufgestellt. Zugegebenermaßen sah es ein wenig aus wie auf dem Trödelmarkt. Aber es war gemütlich und gab dem Büro eine menschliche Komponente. Mit einer Clean Desk Policy wären wir den halben Tag damit beschäftigt gewesen, unsere persönlichen Dinge auf- und abzuräumen.

    Die Tische waren in Vierer-Pools angeordnet und mit großblättrigen Pflanzen voneinander getrennt. Die herzförmigen Blätter der Monstera fühlten sich zwischen Daumen und Zeigefinger echt an. Mein Platz befand sich direkt neben der Tür. Mir fiel auf, dass die Tische im gesamten Büro höhenverstellbar waren, sodass man nach Belieben im Sitzen oder im Stehen arbeiten konnte. In der Filiale musste man für ein solches Pult ein Arztzeugnis vorweisen. Ich nahm mir vor, täglich mindestens eine Stunde im Stehen zu arbeiten. Ein Luxus, den ich großartig fand und an dem ich mich gleich versuchen wollte. Schmunzelnd hielt ich den Badge an den für die Höhe verstellbaren Schaltknopf des Pults. Der Schreibtisch machte keinen Wank. Dann drückte ich sachte mit meinem Zeigefinger auf den schwarzen Knopf, der mit einem Pfeil nach oben zeigte. Mit einem Summton bewegte sich die Tischplatte nach oben. Glück gehabt! Es funktionierte also ohne den persönlichen Schlüssel.

    Meine kindliche Spielerei hielt allerdings nicht lange an, denn eine Frau trat ins Büro, die ich auf Ende vierzig schätzte. Sie trug einen grauen Hosenanzug, der sich farblich kontrastlos in ihren Haaren fortsetzte. Barbara war die Executive Assistant und übernahm gleich das Zepter: «Das hier ist dein Platz. Ich zeige dir, wo die Büromaterialien sind.»

    Die Hand hatte sie mir zur Begrüßung nicht gereicht. Ich kam mir vor wie eine Konservendose, die man möglichst schnell zu den anderen Büchsen im Schrank stellen wollte. Sie sprach sehr schnell und wirkte herrisch. Ihre Stimme erinnerte mich an einen Eichelhäher.

    «Komm, ich zeige dir die Räume in unserem Stockwerk.»

    Ich folgte Barbara und entschied, das Stehpult nach dem Rundgang auf die ideale Höhe einzustellen. Zuerst steuerte sie die Küche an.

    «Bitte räum am Morgen den Geschirrspüler aus und lass ihn abends laufen, bevor du gehst.» Sie öffnete im Eiltempo einige der Küchenschränke, schloss diese aber genauso schnell wieder, sodass ich nicht genau erkennen konnte, was in welchem Schrank verstaut war.

    Im Spültrog türmten sich gebrauchte Kaffeetassen. Auf einem Hochtisch lag neben einer Früchteschale eine leere Panettone-Schachtel. Am Boden daneben fanden sich Krümel. Kaffee, Tee und Wasser gab es umsonst. Dazu wurden zweimal wöchentlich Früchte geliefert. Eine Gute-Luise-Birne stach mir zwischen den Äpfeln und Bananen gleich in die Augen. Die reservierte ich mir gedanklich schon mal fürs Dessert.

    Als Nächstes führte Barbara mich zu einem kleinen Abstellraum, einem Lager für Druckerpapier und Flipchart-Rollen. Zudem war hier eine kleine Leiter an die Wand gelehnt. Im selben Raum stand eine Tonne mit leeren Kartons und Altpapier.

    «Bitte informiere das Facility Management, wenn das Papier ausgeht oder die Tonne voll ist, damit sie geleert wird.»

    Ich nickte und folgte ihr weiter. An den Mitarbeitern, denen wir auf dem Flur begegneten, liefen wir mehrheitlich wortlos vorbei.

    Als Letztes zeigte sie mir eine Ecke mit Büromaterialien. Dort durfte ich mich bedienen und einige Dinge für den Büroalltag aussuchen. Ich schnappte mir eine transparente, grüne Kunststoffbox, damit ich die Schreibwaren abends spielend im Spind verstauen konnte.

    «In einer halben Stunde kommt die IT an deinen Platz, um dir ein Intro zu geben», sagte Barbara.

    «Okay.»

    Der Großteil der Systeme war identisch mit denjenigen in der Filiale, sodass ich schnell mit der Arbeit beginnen konnte. Als Administrative Assistant war ich zur Entlastung von Barbara und Esmé eingestellt worden. Hinzu kam Isabella, eine dritte Mitarbeiterin, die an diesem Tag zu Hause bei ihrer kranken Tochter geblieben war.

    Die Anfragen von Mitarbeitern wurden an eine separate Admin-Mailbox gesandt, für die ich fortan verantwortlich war. Barbara und Esmé hatten zusätzlich Aufträge an meine persönliche E-Mail-Adresse weitergeleitet. Im Verlaufe des Morgens buchte ich einige Reisen über ein Online-Tool, nahm Registrierungen für Konferenzen vor und reservierte Sitzungsräume für Meetings. Flüge, die über 1000 Schweizer Franken kosteten, oder Anfragen, die von der Regelung abwichen, musste ich von unserem Vorgesetzten genehmigen lassen. Das Unternehmen war darauf bedacht, Reisekosten zu sparen, was dazu führte, dass wir für sämtliche Mitarbeiter per se den günstigsten Flug buchen mussten. Ausgenommen von dieser Regelung waren die Geschäftsleitung und die Mitglieder des Senior Managements.

    Der Marketing-Direktor hatte sich an jenem Morgen just wegen dieser Travel Policy maßlos geärgert, was er in einer E-Mail an die Admin-Inbox bekundete:

    Hallo Admins,

    das kann doch nicht euer Ernst sein!

    Das Meeting mit der Agentur findet am Montag von 9:30 – 17:00 Uhr statt. Es ist völlig absurd, mir einen Flug

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