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Jamie: Im Leben nicht
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eBook391 Seiten4 Stunden

Jamie: Im Leben nicht

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Über dieses E-Book

"21 Jahre war es her, als er mich so sehr verletzte, dass ich ihn quasi aus meinem Leben herausgeschnitten hatte. Und eines Nachts steht er vor meiner Tür, klopft und ruft meinen Namen."
So beginnt Liams Erzählung über die prägendste Zeit seines Lebens.

Egal wann sein Bruder Jamie zu Besuch gekommen wäre, immer hätte er vor Liams verschlossener Tür gestanden - bis zu dieser Nacht.

"Jamie - Im Leben nicht" ist ein Roman, der den Leser nicht nur mit Spannung sondern auch mit Denkanstößen versorgen wird, denn Liams Welt bricht auseinander. Nicht nur sein Bruder Jamie, der Liam ungefragt den großen Schmerz seiner Kindheit serviert, sondern auch der Tod seines Vaters und seiner Tante Karen rütteln an seinem Lebensgerüst. Zuletzt drohen dem Einzelgänger mit der Einweisung seiner Mutter in ein Pflegeheim und dem nahenden Scheitern der Beziehung zu seiner Freundin Theresa auch die letzten Stützen wegzubrechen. Bevor ihm richtig klar wird, was passiert, befindet er sich in der Sinnkrise seines Lebens - und der einzige den das scheinbar interessiert, ist sein verhasster Ex-Bruder.

Liams einfühlsam erzähltes und bewegendes Auf und Ab wird ergänzt durch die interessante Einflechtung der Nebenfiguren und gipfelt in einem spannenden, mitreißendem Finale - ein erstauntes "Im Leben nicht" inklusive.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Feb. 2016
ISBN9783734503627
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    Buchvorschau

    Jamie - Tom Heyem

    Liams Erinnerungen

    an die Nacht des 3. Juli 2008

    Es war schon komisch. Auf einmal war er wieder da. Einfach so. 21 Jahre war es her, als er mich so sehr verletzte, dass ich ihn quasi aus meinem Leben herausgeschnitten hatte. Und eines Nachts steht er vor meiner Tür, klopft und ruft meinen Namen. Aus dem Nichts. Mir ging es damals nicht gut, also musste er es mehrmals versucht haben bis ich endgültig wach war. Ich weiß noch, dass sich seine Rufe in meinen Traum eingemischt hatten und mich wie der Aufzug eines Bergwerkstollens nach und nach aus der Tiefe meines Schlafes holten. Gleich nachdem ich meine Augen geöffnet und noch nicht ganz realisiert hatte in welchem Leben ich gerade war, hörte das Rufen auf.

    Was denn nun? Hatte ich etwas gehört oder doch nur geträumt?

    Mir wurde etwas eng um die Brust, ich bekomme jetzt noch Gänsehaut. Dort, wo sie wohl jeder bekommt, der in der Nacht aufwacht und fest davon überzeugt ist, dass sich jemand in seinen Zimmern aufhält.

    Entschlossen, diese Überzeugung gar nicht erst mit bildhaften Vorstellungen zu füttern, warf ich die Decke zurück, griff neben den Nachttisch nach dem Baseballschläger (warum der dort stand, erzähle ich später) und ging schlagbereit, langsam ins Wohnzimmer. Es klopfte wieder - dachte ich. Genauso gut hätte es eine Ratte sein können, die sich mit großen Bissen durch das Holz nagt. Ich hatte noch immer keine Ahnung, welcher Irre da nicht oder eben doch versuchte herauszufinden, wie tief der Bewohner des Hauses schläft.

    Der Mond schien schwach auf die Vorhänge der schmalen Fenster links und rechts neben der Haustür. Sie sahen so aus, wie man sich einen Geist in einer nebligen Nacht auf dem Friedhof vorstellt. Es war mir unmöglich, von drinnen zu sehen, wem ich gleich Schläge androhen würde. Einen Fuß leise vor den anderen setzend, bewegte ich mich wie ein Schlagmann in Richtung des Geräusches. Ich spürte jede einzelne Teppichfaser zwischen meinen Zehen. Hätte hinter mir eine Fliege gefurzt, ich hätte mich vermutlich selbst k.o. geschlagen.

    Neben dem rechten Fenster angekommen atmete ich, glaube ich, schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Draußen sah ich erst nur den Arm einer Silhouette, dessen Hand in einer Hosentasche verschwand. Ich beugte mich etwas weiter zur Seite, da winkte sie mir knapp zu.

    Keine Ahnung, was danach passierte. Das nächste, woran ich mich erinnere, war mein offen stehender Mund, kühler Wind um meine Schultern und seine vorsichtigen Worte:

    Hallo, großer Bruder.

    Spätestens in diesem Augenblick hielt ich den Atem an.

    Liams Erinnerungen

    an den einen Mittag im Juli 1986

    An unser allererstes Zusammentreffen kann ich mich noch ziemlich genau erinnern. Ich war acht, mein Vater besuchte mit mir Tante Karen. Wobei „Tante" eigentlich der falsche Begriff ist. Noch bevor ich geboren wurde kannten sie sich schon sehr lange und sehr gut. Auch mit meiner Mutter verstand sie sich prima.

    Es war sonnig und das Zimmer, in dem sie mir auf zwei teuer aussehenden Polsterstühlen gegenüber saßen war wunderbar hell. Die hohen Fenster teilten den gesamten Raum mit schmalen, schwarzen Schatten auf und meine rechte Körperseite wurde von dieser herrlichen Wärme bestrahlt, die die Sonne nur hinter Glas erzeugen kann.

    Mit den Worten, eine tolle Überraschung für mich zu haben (ich würde sie wirklich lieben), hatten sie mich auf die Couch gelotst. Sie war mit Samtstoff überzogen und am gemütlichsten in der Ecke von Arm- und Rückenlehne. Ich stellte die Knie an und umschloss sie aufgeregt mit meinen Armen. Das muss ausgesehen haben, wie ein junger Hund in seinem Körbchen.

    „Du weißt doch noch, was Du dir so sehr wünschst?!", setzte mein Vater strahlend an.

    Ich hatte keine Ahnung. Mir flitzten alle möglichen Wünsche durch den Kopf und spannten mich auf die Folter.

    „Ein ferngesteuertes Auto!", rief ich jubelnd und bereit, erst auf und dann übermütig von der Couch zu springen.

    Die beiden lachten. Das irritierte mich.

    „Nein, das überlassen wir mal schön dem Weihnachtsmann.", ein wohlwissender Insider-Blick, amüsierte Gesichter.

    „Was fällt dir noch ein?"

    „Ääh, ääh…", stammelte ich und kramte nervös grinsend in meinen Erinnerungen.

    „Ein Fußball?!"

    Lange nicht so gut wie ein ferngesteuertes Auto, aber auch echt cool. Nur lag ich wieder daneben. Ich machte mir Sorgen, dass meine aufgestachelten Erwartungen enttäuscht würden. Tante Karen muss mir das angesehen haben, denn sie bekräftigte den anfänglichen Enthusiasmus.

    „Viel besser als das Auto und zehn Fußbälle zusammen., dann rief sie über ihre Schulter: „Jeremy, Du kannst reinkommen.

    Jeremy? Das ist aber ein komischer Name für einen Hund (das war das einzige, was mir noch eingefallen war). Im hinteren Teil des Raumes, neben dem offenen Kamin, klinkte die Flügeltür, klapperte kurz hölzern-metallisch und sprang dann sofort wieder ins Schloss. Beim zweiten Versuch klappte es besser. Unter den Stühlen hindurch sah ich zwei kleine, in grauen Socken steckende Füße auf uns zukommen. Leise, schüchtern, aber zügig. Ich verstand noch nicht ganz.

    „Hey Jerry, komm her. Wir wollen dir deinen Bruder vorstellen."

    Bruder? Wie jetzt, Bruder? Wo sind das Auto und die zehn Bälle? Kommt der Hund noch?

    Ich konnte die Sache noch nicht einordnen. Sollte das ein gemeiner Scherz sein? Für neue Gesichter hatte ich als Kind wenig übrig und für andere Kinder genauso viel, wenn nicht sogar noch weniger. Fragend schaute ich meinen Pa an, der mich auf seine Oberschenkel gestützt zaghaft anlächelte.

    „Das ist Liam.", fuhr Tante Karen fort und zeigte dabei feierlich auf mich.

    „Hi Liam. Ich bin Je remy", kam es aus dem Mund des kleinen, dunkelhaarigen Jungen, der in einer schwarzen Hose und einem quergestreiften grau-blauen Pullover steckte. Er winkte wie die Silhouette vor meiner Tür: knapp und pragmatisch.

    Wenn ich so darüber nachdenke, war das eigentlich interessante in diesem Augenblick sein Gesichtsausdruck. Die Lippen leicht zusammengepresst, die Augenbrauen etwas nach oben gezogen. Keiner von uns kann was dagegen tun, lass uns das Beste daraus machen, schien er sagen zu wollen.

    Der kleine Bastard war damals kaum fünf Jahre alt. Was fiel ihm ein, hier einen auf sooo erwachsen zu machen? Er kam mir jetzt schon zu nahe und er war nicht das, was ich mir angeblich so sehr wünschte. Wieder sah ich meinen Vater an. Der erkannte meine Enttäuschung, war aber mehr verärgert über meine schlechten Umgangsformen.

    Ja, ist ja gut. Als könnte ich die Macht zu meinen Gunsten einsetzen (in dem Fall wohl eher auf der Dunklen Seite), zeichnete ich mit meiner rechten Hand einen kleinen Bogen in die Luft, sagte trocken „Hallo!" und hoffte damit, die Geschichte zu beenden, bevor sie ihren Anfang nahm.

    Heute weiß ich nicht recht, ob es besser gewesen wäre, sie hätte tatsächlich dort geendet. Ich meine, jede Entscheidung, ob nun von mir oder für mich gefällt, hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin, und das ist auch gut so. Aber ich glaube, jedem Menschen ist Leid vorbestimmt und nicht jeder Mensch kann es so verarbeiten, dass er am Ende akzeptiert und hinter sich lässt, was geschehen ist. Irgendwann, nachdem die kritische Menge erreicht worden ist, wird man sich immer an dieses eine Leid erinnern, dass einen aus der Spur gebracht hat und man wird sich wiederkehrend fragen, was wohl gewesen wäre, wenn.

    Ich frage mich, was wohl gewesen wäre, wenn sie mir statt des Zweibeiners einen jungen, schwanzwedelnden Vierbeiner vorgestellt hätten.

    Dr. Kellmann

    ein Tag im März 1985

    Er mochte sie nicht. Er mochte sie ganz und gar nicht. Jedoch, er hatte hier nicht mitzubestimmen. Zu weit unten stand er auf der Karriereleiter um sich gegen sie wirklich wehren zu können. Was nicht bedeutete, dass er es im Leben nicht zu etwas gebracht hatte. Als Chemiker in einer bekannten und renommierten Einrichtung der Grundlagenforschung auf dem Gebiet chemischer und biologischer Erzeugnisse für die Humanmedizin kam er sehr gut zurecht. Nicht nur, dass er ein akzeptierter Leiter eines sechsköpfigen Teams von ausgewählten und herausragenden Wissenschaftlern war, er hatte mit seinen 53 Jahren bereits mehrere Entdeckungen gemacht, die über den ewigen Status eines Zwischenstandes hinausgekommen und erfolgreich kommerziell vermarktet worden waren. Doch, er konnte etwas auf sich halten - zumindest darin stimmte er mit den Militärs überein. Es gab nun mal gute Gründe, warum sie ihn wollten. Ihn und sein Team. Bei seinem Abteilungsleiter fragten sie ausdrücklich nach Dr. Kellmann. Eigentlich eine Ehre. Trotzdem! Er mochte sie nicht. Er mochte sie ganz und gar nicht.

    Besser gesagt, er mochte Ihre Absichten nicht. Obwohl der Offizier, der ihm den Forschungsstand erläuterte, nicht unsympathisch war. Entspannt legte der breitschultrige Mann, der ebenfalls einen Doktortitel führte, die Ziele des Projektes dar und welche Erwartungen er gegenüber Kellmann und seiner Arbeit hätte. Dabei bewegte er sich immer auf Augenhöhe und beantwortete alle Fragen ohne Arroganz; hakte bei Einwänden interessiert nach. Ein geübter Redner, der ohne Zweifel zahlreiche Verhandlungen dieser Art geführt hatte. Kellmann war fasziniert von dem Zwiespalt, der sich in ihm auftat und der immer größer wurde, je länger das Gespräch andauerte. Auf der einen Seite, seine ureigene Ablehnung der Motive des Militärs, auch wenn sie scheinbar noch so gerechtfertigt sein mochten. Auf der anderen Seite, diese Ausstrahlung seines Gesprächspartners, die ihn mehr und mehr in das beruhigende Licht der Rechtschaffenheit zog. Er stellte sich die Frage, in wie vielen Einrichtungen diese Art der Rekrutierung wohl noch durchgeführt wurde.

    Geduldig wartete er ab, bis die Ausführungen beendet waren und fragte dann freimütig nach.

    „Nun, Dr. Kellmann, unsere Abteilung hat den ein oder anderen vielversprechenden Lösungsansatz für die derzeitig angespannte Situation ermittelt. Einige unserer Experten beurteilen die Lage als kritisch, weswegen wir unter einem gewissen Zugzwang stehen. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, das wir weitere Einrichtungen wie diese hier kontaktier en und zur Zusammenarbeit animieren."

    Zur Zusammenarbeit animieren, so nennt er das also…, dachte sich Kellmann und nickte gleichzeitig verständnisvoll.

    „Allerdings habe ich mir die Freiheit genommen, dieses spezielle Anliegen, dieses eine Projekt, was wir beide hier besprechen, unter meine Verantwortung zu stellen. Ich habe nicht vor, weitere Personen darin einzuweihen. Schlicht und ergreifend aus meiner Beurteilung heraus, dass hier, mit Ihnen und Ihrem Team, eine führende und unerreichte Kompetenz arbeitet."

    Der Zwiespalt wurde erneut größer. Unmerklich atmete Kellmann durch. Er wollte konzentriert bleiben, sich nicht blenden lassen.

    „Sie sehen, wir besprechen Details, die nur zwischen uns ausgetauscht werden und ich möchte, dass es auch dabei bleibt. Welche Einrichtungen oder welche … Kollegen, wenn ich das so sagen darf, darüber hinaus beschäftigt werden, ist wirklich nicht von Interesse. Sie werden als exklusiver, externer Spezialist fungieren und haben alle Freiheiten. Vorausgesetzt Sie willigen ein, uns, und nur uns, jeglichen Fortschritt mitzuteilen. Also, was sagen Sie dazu?".

    War das sein Ernst? Am liebsten hätte Kellmann gelacht. Als ob tatsächlich die Wahl bestanden hätte, die Mitarbeit abzulehnen. Nicht nur seinem eigenem Chef hätten in dem Fall unangenehme Konsequenzen gedroht, ihm selber wären alle Fallstricke in den Weg gelegt worden, die seitens des Militärs geeignet erschienen, um Kellmann beruflich und privat unter Druck zu setzen. Er wägte nur kurz zwischen den möglichen Antworten ab und kam zu dem Schluss, dass er sich die Reichweite und Auswirkungen der denkbaren Druckmittel vermutlich nicht einmal in Gänze ausmalen konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzustimmen.

    „Sehr schön! Wir begrüßen Ihre Kooperation sehr und ich persönlich freue mich außerordentlich, Sie an diesem Projekt zu wissen. Ich bin überzeugt, wenn hier überhaupt ein Durchbruch gelingen kann, dann durch Sie!".

    Das Gesicht des Offiziers hellte sich sichtlich auf. Mit ausgestrecktem Arm ging er auf Kellmann zu, sie gaben sich die Hand. Major Tanner freute sich tatsächlich über den Ausgang des Gespräches. Kellmann hoffte, dass diese Freude nicht noch vergrößert werden würde.

    Dr. Kellmann

    tags darauf im März 1 985

    „Hey?! Erde an Mo-hond! Hörst Du mir überhaupt zu?"

    Er hörte ihr zu. Wenigstens hin und wieder. So lange bis ihn seine Gedanken wieder forttrugen. Gerade eben zum Beispiel sprach seine Frau noch davon, dass ihr Tag von einem bezaubernden feuerroten und crémeweißfarbenen Arrangement aus Rosen gerettet wurde.

    Ihre Laune bei der Gartenschau am Vortag war durch das schlechte Wetter nämlich gehörig in den Keller gesackt. Offenbar hat es nicht nur geregnet, was sie bei den eigentlich milden Temperaturen nicht im Geringsten gestört hätte, sondern es wehte auch stark. Wenn man dem Wetterbericht Glauben schenken wollte, dann sollen es Winde aus den kälteren Regionen im Norden gewesen sein, die die Nässe auf der Haut mit jeder Böe zu Schnee gefrieren ließ. Aber nach der glücklichen Begegnung mit diesem farbenfrohen Dornengewächs, dem man förmlich ansah, wie viel Freude es dabei hatte, aufzublühen, verlief der Tag dann doch sehr angenehm.

    Jetzt saßen sie in der Küche des Einfamilienhauses und mittlerweile schilderte sie die Pläne für ihren gemeinsamen Garten in aller Ausführlichkeit. Kellmanns Konzentration verlagerte sich zunehmend nach innen.

    Ziersträucher sollten her, drei Meter hoch und zu Figuren aus bekannten Theaterstücken geschnitten.

    Kellmann nickte abwesend und gab ein teilnahmsloses Brummen als Kommentar.

    In die eine Ecke des zukünftigen Privatparadieses würde bestimmt hervorragend ein Pavillon aus Kirschholz passen, mit einer Wendeltreppe in der Mitte als Aufgang zum Karussell.

    Er nickte wieder und kratzte nichtvorhandenen Schmutz unter seinen Fingernägeln hervor.

    Und gegenüber sei genug Platz für das Streichelgehege.

    Mit den Ziegen,

    (erneutes Brummen)

    und dem Elefanten.

    Warte ! Du willst uns einen Elefanten in den Garten stellen?".

    Plötzlich war Kellmann hellwach und blickte entgeistert in das Gesicht seiner Frau. Sie lächelte sanft, schaute ihm suchend in die Augen.

    „Ich dachte, Du würdest bereits bei den Ziersträuchern aufwachen. Die kannst Du doch genauso wenig leiden wie den Geruch im Zoo."

    Während sie eine Pause machte, schaute er weiter ungläubig. Es war ihm immer noch unbegreiflich. Wozu wollte sie auf einmal einen Elefanten im Garten halten?

    Und wie soll der überhaupt durch den Torbogen am Eingang passen?

    „Was ist los mit dir?", fragte sie mitfühlend und strich ihm über die Schulter.

    Jetzt verstand er es. Natürlich war es ihr nicht entgangen, dass ihn in den letzten Tagen etwas beschäftigt hatte. Eine Sorge, die über die globale Krise hinausging. Experten beurteilen die Lage als kritisch, zitierte er gedanklich und hatte sofort den charismatischen Unheilsbringer vor Augen. Denjenigen, der ihn selber zum aktiven Teilnehmer werden ließ.

    Tatsächlich konnte man mittlerweile ein gespanntes Sirren in den Straßen wahrnehmen. Man konnte es nicht hören, aber es lag wie Elektrizität in der Luft. Die Leute schienen jederzeit darauf gefasst zu sein, etwas Schlimmes zu erleben. Ein detonierender Sprengsatz hinter der nächsten Ecke, eine Nachricht über angegriffene oder verletzte Familienmitglieder, dass sie die Stadt plötzlich verlassen mussten. Zufällig erfuhr er von einigen Bekannten, die bereits Vorräte angelegt und Notfallgepäck zusammengestellt hatten, um schnellstmöglich reagieren zu können. Laut sprach das natürlich niemand aus, man wollte ja nichts heraufbeschwören. Aber im privaten Kreis sorgte man scheinbar vor und hinter vorgehaltener Hand wurden Pläne diskutiert, die als vielversprechend galten und bloß nicht an die Falschen oder an zu viele Personen geraten sollten.

    Auf diese Art Gedanken ließen sich die Kellmanns gar nicht erst ein. Weder er, noch seine Betty. Ihr Sohn Liam war in seinem ersten Schuljahr noch mit weit bedeutenderen Ereignissen konfrontiert, als dass er die Geschehnisse um sich herum wirklich verarbeiten konnte. Er stellte also auch keine Fragen, wenn in den Nachrichten gesagt wurde, dass die Welt aktuell einem Pulverfass glich.

    „Es ist wegen des Auftrages, von dem ich dir erzählt habe."

    "Ich erinnere mich. Die Sache, weswegen sie zu dir und niemand anderem gekommen sind. Willst Du mir vielleicht doch erzählen, worum es geht?"

    „Nein, er ließ den Kopf resignierend nach vorn sacken und murmelte weiter, „das würde keinen Unterschied machen. Außerdem ist es streng geheim.

    Streng geheim? Es ging nicht wirklich darum, dass er sich verpflichten musste ihnen, und nur ihnen, Fortschritte oder Erkenntnisse zu berichten. Selbst wenn er seiner Frau alles haarklein erzählt hätte, wären Konsequenzen nicht zu befürchten gewesen. Wer sollte diesen Verstoß denn mitbekommen? Der wahre Grund war seine Unfähigkeit zu lügen. So lange er das Schild der Geheimhaltungspflicht vor sich hertrug, würde er nicht in die Verlegenheit kommen, sich etwas ausdenken zu müssen. Das würde Betty so oder so bemerken. Sie würde Fragen stellen, und zwar die richtigen Fragen. Er hatte das schon oft genug erlebt. Als er damals zum Beispiel das Familientreffen sausen lassen wollte, um mit seinen Kollegen eine Messe zu besuchen oder als er ihr versuchte zu erklären, dass er den gemeinsamen Fototermin nicht vergessen hatte, sondern sich an diesem Tag einfach nicht fotogen fühlte. Ihm wurde dabei immer warm, weil das Blut in seine Wangen schoss. Er wusste, dass ihn das verrät und wurde sichtlich unruhiger.

    Nein! Mit Unwahrheiten hatte er genug Erfahrungen gemacht. Genauso wie seine Frau, die dazu häufig überreagierte und daraufhin auch schon einer Ohnmacht nahe gekommen war. Zweifelsohne würde sie die erste erleben, sobald sie diese Sache erst mit großen dunklen Augen und stechendem Blick anstarren würde.

    „Dann sag mir doch wenigstens, wer nach dir gefragt hat."

    In seinem Kopf überschlugen sich Wörter, die sich zu Fragen formierten, und Bilder, die ihm mögliche Antworten zeigten.

    Wer könnte ihn noch beauftragt haben?! Was und wie viel musste er sagen, damit sie nicht nachhakt?! Sollte er wenigstens Häppchen der Wahrheit anbieten, um glaubhaft zu sein? Sein Blutdruck erhöhte sich merklich. Wenn er ihr etwas preisgeben würde, egal, ob Brust oder Keule, wären keine drei Minuten nötig und sie stünde mit einem Schock und offenem Mund vor ihm. Er blieb also dabei ruhig zu sprechen und sich darauf zu konzentrieren entspannt zu wirken:

    „Betty, ich darf dir das wirklich nicht sagen."

    „Ha., lachte sie amüsiert auf, „das klingt ja, als ob die Mafia bei euch zu Besuch war.

    Jetzt einfach nichts sagen!

    Nichts sagen und weiter auf den Tisch starren!

    „Oder die Armee."

    Verdammt!

    Sein Innerstes fing Feuer. Die erste Regel im Brandfall: Ruhe bewahren. Ihre Blicke, die wie Rotlicht sein Gesicht aufwärmten, ignorieren. Dieses stärker werdende Kribbeln, als würden tausende Ameisen in seinem Körper umherirren, unterdrücken. Nicht beachten! Einzelne Schweißtropfen zwängten sich aus seinen Poren und sein eigener Körper wurde ihm zu eng. Wenn er nicht sofort eine aufrechtere Sitzposition einnehmen würde, drohte er zu bersten wie ein Silo unter Überdruck.

    So ruhig und unauffällig wie irgend möglich drückte er seinen Rücken ins Hohlkreuz, atmete möglichst langsam tiefer ein.

    Betty sagte nichts mehr. Im Augenwinkel erkannte er aber ihre weiterhin auf ihm ruhenden Blicke. Er konnte ihr nicht ewig ausweichen, das war ihm bewusst. Also dreht er den Kopf zur Seite um ihr ins Gesicht zu sehen. Mit halboffenem Mund und mit Sorge in den Augen saß sie vor ihm.

    „Die Armee?", krächzte sie ungläubig.

    Er hatte es wieder nicht geschafft. Und ein Versuch, ihr diese Überzeugung zu nehmen, war zweckfrei.

    Erst mit der abfallenden Anspannung merkte er, wie verkrampft seine Gesichtszüge eigentlich waren. Die zusammengezogenen Augenbrauen rückten an ihren ursprünglichen Platz zurück und seine Lippen traten wieder zum Vorschein, so verbissen hatte er die letzten Sekunden verbracht. Kein Wunder, dass seine Frau ihn lesen konnte wie ein offenes Buch.

    Was konnte er jetzt tun? Das, was sie nun eh schon wusste, brauchte er auch nicht mehr zu leugnen oder zu verschweigen. Also nickte er und bestätigte ihre Annahme mit einer leisen Zustimmung. Damit hatte sich die Situation jedoch weiß Gott noch nicht aufgelöst. Einige Ameisen gingen bereits erneut auf eine Erkundungsreise durch seinen Magen.

    Dr. Kellmann

    10 Minuten später, März 1985

    Innerlich war er in einer Spirale gefangen. Er wollte sich beruhigen, was ihm nicht gelang und das verärgerte ihn zusätzlich. Betty saß noch immer konsterniert vor ihm.

    Beruhige dich!, forderte er sich stillschweigend auf.

    Der sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen hatte erneut begonnen und er würde ihn nicht gewinnen. Es war für ihn unmöglich seiner Frau etwas vorzumachen. Aber aufzugeben und sie mit einer Tatsache zu konfrontieren, die sie womöglich nicht verkraften würde, die am Ende vielleicht sogar ihre Ehe auf eine nie gekannte Zerreißprobe stellte, kam nicht in Frage. Ein Taktikwechsel musste her.

    Bisher hatte er sich immer darauf versteift, seine Aufregung zu verbergen, wenn er versuchte, etwas für sich zu behalten. Nie hatte das einen für ihn zufriedenstellenden Ausgang genommen. Das stand ihm auch dieses Mal bevor, allerdings mit drastischeren Folgen. Wenn also nicht das Verbergen das Mittel der Wahl war, dann blieb nur eine Alternative: Offenheit.

    Soweit, so gut. Das allein würde die Situation immer noch nicht entschärfen, aber ein Versuch war es wert. Von nun an konnte er sich erlauben, nicht mehr verkrampft auf seine Bewegungen und Gefühlsregungen zu achten. Er erhob sich von seinem Stuhl und lief auf und ab. Das entspannte ihn erheblich und half ihm beim Nachdenken. Eine Begründung für seine Aufregung musste immer noch her, vor allem, weil Betty langsam ihre Worte wiederfand.

    „Du wirst helfen Menschen zu töten?", stellte sie mehr fest, als dass sie fragte.

    Ihr Entsetzen konnte er in ihrer Stimme hören. Es vermischte sich mit Ungläubigkeit. Sie flehte ihn an: „Du hattest keine Wahl, richtig? Sag mir, dass Du keine Wahl hattest!".

    Daraufhin wandte er sich zu ihr, die Hände in die Seiten gestützt. Er sah Tränen in ihren Augen, und ihre Angst, dass er ihrer Aufforderung nicht folgen konnte.

    „Man hat doch immer eine Wahl.", gestand er ihr nach kurzem Zögern wahrheitsgemäß. Bevor sie vollends in Tränen ausbrach fügte er schnell an: „Aber für mich hätte es nur bedeutet, dass ich dieser Wahl später erneut begegnet wäre. Der gleiche Mann hätte sie mir wieder gestellt. Aber nicht ohne vorher zu demonstrieren, was für mich oder sogar für uns auf dem Spiel stehen kann. Glaub mir, so lief das in anderen Einrichtungen auch."

    Betty blickte an ihm vorbei ins Leere.

    „Als ob es einen Unterschied machen würde, ob Du eine Wahl hattest oder nicht. Du wirst helfen, Menschen umzubringen! Du wirst sie umbringen!"

    Kellmann ging zu dem Stuhl, der seiner Frau am Tisch gegenüber stand, und stütze sich auf die Lehne. Die Liebe seines Lebens war dabei sich selbst zu verurteilen und das konnte er nicht ertragen. Sie war ein herzensguter, zuvorkommender Mensch, der jede Art und Form des Lebens schätzte und mit Freuden unterstützte. Seien es Carl und Richard, die verzogenen Jungs der Grands von gegenüber, oder Willy, der Obdachlose, der sie jedes Mal auf Kleingeld ansprach, wenn sie vom Lebensmitteleinkauf aus dem Laden der Stadt kam. Immer war sie bereit zu helfen, immer hatte sie ein paar Münzen parat. Sie war absolut selbstlos und schien wahrhaftig keine Gegenleistungen für ihre Taten oder kleinen Nettigkeiten, wie sie es immer nannte, zu erwarten. Damit brachte man sie nur in Verlegenheit.

    Sie saß mit fassungsloser Miene in der Küche ihres Hauses und erkannte, dass ihr Mann, den sie liebte und unterstütze wo sie nur konnte, ihr in ihrem heiligsten und einfachsten Prinzip scheinbar nicht beistand. Kellmann konnte förmlich dabei zusehen, wie sich seine Frau von ihren Gedanken in ein dunkles Loch tragen ließ. Wenn sie erst zu der Überzeugung gelangen würde, dass Sie einen Mörder geheiratet hatte, wäre es um seine liebe Betty und ihre Ehe geschehen.

    Er legte seine Hände auf die ihren.

    „Nein, Betty. Das werde ich nicht."

    In ihrem Gesicht versuchte er zu erkennen, ob seine Worte durchgedrungen waren.

    „Hörst Du mich, Betty? Ich werde keine Menschen umbringen. Ich werde auch nicht dabei helfen."

    Langsam dreht sie ihren Kopf in seine Richtung. Sie forderte ihn stumm auf, weiter zu erzählen, denn sie glaubte ihm nicht. Warum auch? Kellmann war in letzter Zeit verschwiegen und verschlossen gewesen und dafür musste es einen triftigen Grund geben, nämlich den, dass er Menschen das Leben nehmen würde. Das belastet ihn und er weiß nicht, wie er das mit seinem Gewissen vereinbaren kann.

    Oder nicht?!

    „Ich bin einfach nicht in der Lage dazu."

    Ihre Ungläubigkeit wich Unverständnis. Gleichzeitig löste sich Kellmanns Ausweglosigkeit in Erleichterung auf. Mit seiner Offenheit hatte er einen Weg entdeckt, die Windmühlen zu umgehen.

    „Wie meinst Du das, Du bist nicht in der Lage dazu? Bist Du etwa deswegen so schlecht drauf, weil Du nicht in der Lage bist, Menschen umzubringen??"

    Ihre Stimme brach, sie baute sich vor ihm auf. Unverständnis wich nun aufkeimender Wut, ein Indiz für ihr völlig zerfallenes Nervenkostüm. Sie war nicht weit von einem Zusammenbruch entfernt. Kellmann versuchte die Lage zu entspannen indem er betont ruhig erwiderte:

    „Nein, Betty, natürlich nicht. Ich will und werde niemals Menschenleben in Gefahr bringen oder auslöschen. Wo denkst Du hin? Es ist die Tatsache, dass es eine Fragestellung auf meinem Gebiet gibt, deren Antwort ich nicht mal ansatzweise nahe komme. Auf meinem Gebiet, in welchem ich mich auskenne wie sonst niemand anderes. Verstehst Du?".

    Er sah ihr fest in die Augen. Er hielt stand. Selbst, als sich ihr Gesichtsausdruck kein bisschen veränderte. Sie musste ihm ansehen, dass er innerlich immer noch aufgeregt, nervös war. Das sah sie immer dann an ihm, wenn er versuchte etwas zu verheimlichen. Tief bohrte sie mit ihren Blicken, als ob sie allein dadurch seine Hülle wie eine Walnuss knacken könne. Kellmann hatte immer wieder versucht, mit kleinen Unwahrheiten davon zu kommen. Zumeist waren das Banalitäten, die sich schnell in Gelächter und einen gespielten Tadel verwandelten. Hin und wieder blieb ihr das Lachen aber auch im Hals stecken (wie das eine Mal, als er versuchte ihr weiß zu machen, dass er nüchtern vom Betriebsausflug nachhause gefahren war). Dann wusste er, woran er war und versuchte sie zu beschwichtigen.

    Betty wusste aber auch, dass

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