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In die Welt hinaus: Ein Opernleben in drei Akten. Aufgezeichnet von Susanne Zobl
In die Welt hinaus: Ein Opernleben in drei Akten. Aufgezeichnet von Susanne Zobl
In die Welt hinaus: Ein Opernleben in drei Akten. Aufgezeichnet von Susanne Zobl
eBook322 Seiten3 Stunden

In die Welt hinaus: Ein Opernleben in drei Akten. Aufgezeichnet von Susanne Zobl

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Über dieses E-Book

Tenor mit Lizenz zum Siegen

Er wurde vom Straßensänger zum Kammersänger, sagt Star-Tenor Piotr Beczała scherzhaft über den Verlauf seiner atemberaubenden Karriere: Der Ausnahmesänger sang einst für Passanten der Wiener Innenstadt und steht heute auf den Bühnen der größten Opernhäuser der Welt, von der New Yorker Met und Mailänder Scala bis zur Wiener Staatsoper und den Bayreuther Festspielen. Egal ob als tragisch liebender Werther oder gefährlich-verführerischer "Rigoletto"-Herzog, Piotr Beczała begeistert sein Publikum in jeder Rolle.
Trotz seines unglaublichen Erfolgs ist der sympathische Weltbürger auf dem Boden geblieben: Charmant und frech erzählt er von seinem Werdegang, prominenten Kollegen, Probenpannen und eigenwilligen Regiekonzepten, verrät, was Backen mit Premieren zu tun hat, und warum es gerade in Krisenzeiten wichtig ist, konsequent zu sein und gegen den Strom zu schwimmen.

Mit zahlreichen Privatfotos in Farbe
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Feb. 2021
ISBN9783903217607
In die Welt hinaus: Ein Opernleben in drei Akten. Aufgezeichnet von Susanne Zobl

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    Buchvorschau

    In die Welt hinaus - Piotr Beczała

    OUVERTÜRE AUF DER ENGELSBURG

    Von meiner Liebe, vom Leben hatte ich Abschied genommen. Noch einmal hatte ich sie, meine Tosca, vor mir gesehen. Ich sank auf die Knie. Die Musik war mit meiner Stimme verklungen. Ein Rauschen wogte mir entgegen. Applaus! »Bravo!« Immer mehr, immer lauter tönten sie. Die Jubelrufe holten mich jäh zurück in die Wirklichkeit. Jetzt war ich nicht mehr Giacomo Puccinis Cavaradossi, nicht mehr der Maler, der Liebende, der todgeweihte Revolutionär, der vor den Zinnen der Engelsburg seine letzte Stunde durchlitt, bevor ihn die Schergen des Polizeichefs Scarpia richten. Jetzt war ich wieder der Tenor auf einer der zentralen Bühnen der Welt, der Wiener Staatsoper. Der Applaus wollte nicht enden. Ich verharrte auf meinen Knien, so wie ich die Arie beendet hatte. Das gab mir zumindest wenige Momente, um innezuhalten, abzuwägen. Doch das Klatschen, die Bravorufe wurden intensiver, mehr noch, immer fordernder. Ich wusste, was mein Publikum von mir verlangte, ich spürte die Energie, die es mir gab, und was ich ihm schuldig war. Noch einmal wollte man »E lucevan le stelle« von mir hören.

    Sollte ich tatsächlich Cavaradossis Geschichte unterbrechen? Wollte ich es wirklich verantworten, dass meine Kollegin – in dieser Vorstellung war es Karine Babajanyan – weitere sechs Minuten auf ihren Auftritt warten musste? Der Applaus sagte mir, was ich zu tun hatte. Marco Armiliato, der Dirigent, gab mir aus dem Orchestergraben ein Zeichen, scheinbar spürte auch er diese Spannung. Als ich mich erhob und zurück an jenen Platz ging, wo ich zuvor die Sterne angerufen hatte, hörte ich, wie die Bravorufe lauter wurden und in Jubel umschlugen. Meine Emotionen trugen mich höher, es war fast so, als schwebte ich durch Margarethe Wallmanns legendäre Inszenierung. Plötzlich war alles ganz still. Die Szene begann von Neuem. Die Klarinette hob an. Aus dem Tenor Piotr Beczała war wieder der Maler Cavaradossi geworden.

    Was danach geschah, war außergewöhnlich. Auch das Publikum setzte zur Wiederholung an, wieder brandete mir eine Welle von Applaus entgegen. Marco hob seine Hand: Drei Finger signalisierten ein drittes Mal. Sein fragender, aufmunternder Blick traf mich. Ich zögerte und verweigerte schließlich. Denn zu viel ist zu viel. Es wäre künstlerisch nicht vertretbar.

    Es geschah nicht zum ersten Mal, dass ich eine Arie wiederholte. Was sich aber bei jener Tosca am 23. Juni 2019 ereignete, war ein spezieller Moment hoch sechs. Ich hätte schon bei der ersten Vorstellung ein Encore geben können, wollte es aber nicht. Was in solchen Augenblicken in einem Sänger auf der Bühne vorgeht, ist nur schwer erklärbar. Ich muss als Erstes meine Gedanken sortieren.

    Bei Rollen wie dem Duca in Verdis Rigoletto erwartet man fast, dass der Tenor »La donna è mobile« wiederholt. Auch im Troubadour wird »Di quella pira« nicht selten ein zweites Mal vom Publikum gefordert. Aber von mir verlangt man auch Arien, die untypisch für ein Dacapo sind. Das erste Mal ließ ich mich in einer Aufführung von Jules Massenets Werther in Barcelona dazu überreden. Das Publikum wollte unbedingt mein »Pourquoi me reveiller« noch einmal hören. Was für eine Situation! Auch in Verdis Luisa Miller applaudierte das Publikum so lange, bis ich Rodolfos »Quando le sere al placido« noch einmal sang. Was ich dort und in Wien erlebte, ist völlig untypisch für den Opernbetrieb. Denn jede dieser drei Arien ist Teil einer Szene. Keine davon ist eigentlich ein Hit.

    Im Grunde genommen wiederhole ich Arien nur sehr ungern. Denn in diesem Moment wird der Sänger auf der Bühne mitten in der Handlung zu einer Privatperson. Ich aber verkörpere meine Figuren. Vom ersten Auftritt bis zum Ende verwandle ich mich in die Figur, die ich singe. In besonderen Momenten versuche ich, mich von außen zu betrachten. Für mich ist die Wiederholung einer Arie stets ein egoistischer Akt, sowohl vonseiten des Publikums, das etwas erzwingen will, als auch von meiner Seite, weil ich mich dazu zwingen lasse.

    Man kann nie wissen, ob sich die Spannung aufrechterhalten lässt. Aber das nehme ich in Kauf. Das Wichtigste in der Oper ist der Austausch von Energien zwischen uns Sängern und dem Publikum, und den kann man nicht mit Gewalt herbeiführen. Er entsteht eben … oder nicht.

    Ich bin nicht der Erste und nicht der Einzige, der eine Arie wiederholt hat. In den Sekunden, in denen man die Entscheidung zu treffen hat, wie man fortsetzt, steht die Zeit still. Hat man sich aber entschieden, gleicht es einer Erlösung.

    Manche glauben, die Wiederholung gehört dazu. Aber das ist gefährlich, denn nichts, auch kein Encore, darf in der Oper zur Routine werden. Es sollte etwas Außergewöhnliches bleiben.

    Interessant ist, wie unterschiedlich das Publikum auf der Welt reagiert. Jedes Opernhaus hat ein anderes Energie-Level. An der New Yorker Metropolitan Opera applaudiert man heftig und kurz, da braust der Beifall auf wie eine Sturmböe. In Wien passiert das Gegenteil. Hier nehmen sich die Leute Zeit für ihren Applaus. Meine Frau meint oft, ich sei ein Weltmeister im Applaus-Killen. Aber manchmal muss der Künstler die Entscheidung treffen, wann es weitergeht. Es kann gefährlich werden, wenn man diesen Moment des Triumphs nur eine Spur zu lange genießt und damit zu sehr aus der Rolle heraustritt.

    Aber wir Sänger brauchen die Momente, in denen man die Zuneigung des Publikums spürt, denn diese Menschen sind es, die uns beflügeln.

    Ich hoffe, ich kann Ihnen mit meiner Geschichte etwas von dieser Energie vermitteln.

    ERSTER AKT

    Als Orangen noch Luxus waren – Kindheit im kommunistischen Polen

    Ich sehe mein Leben wie eine Wanderung durch einen Bach. Einen Bach, der erfrischt, der aber immer wieder zu einem reißenden Gebirgsfluss anschwellen kann. Man kommt darin nur ans Ziel, wenn man sich gegen den Strom stellt. Immer vorwärts gehen, Schritt für Schritt, darauf kommt es an. Wenn du nur eine Sekunde denkst »Jetzt war ich brillant«, und du richtest dich auf, spült dich die Strömung weit zurück.

    Bei dieser Wanderung denke ich nicht an Schuberts Mühlbach. Wogegen ich mich mein Leben lang gestemmt habe und noch immer stemme, ist das jeweilige System, in dem, mit dem und gegen das ich lebe. Meinen Lebensplan habe ich selbst entworfen. Doch darüber liegt stets noch ein anderer. Denn egal, wo man ist oder was man macht, es gibt immer ein bestimmtes System, das es zu überwinden gilt. Jenes, in dem ich mich heute befinde, habe ich selbst gewählt, jenes, aus dem ich stamme, war alles andere als von »Glanz und Wonne« geprägt wie die Herkunft von Richard Wagners Lohengrin. Viele meinen, dass der Beruf eines oft als »Startenor« titulierten Sängers zwischen Applaus, Glamour und Prunk oszilliert. Wäre es doch so! Stress, Neid, Menschen, die einem das Leben schwerer machen, als es schon ist, kreuzten meinen Weg. Leicht hatte ich es nie, aber ich verstand es, Hindernisse als Herausforderungen zu sehen, die mich weiterbrachten. Früher bestimmte der Kommunismus meinen Alltag. Er hat mich eine Gangart fürs Leben gelehrt.

    Ich bin im Polen der 1960er-Jahre geboren. Leere Regale in den Geschäften und stundenlanges Anstellen um ein Stück Fleisch waren der Alltag meiner Eltern. Orangen und Bananen waren Raritäten, die man höchstens zu Weihnachten auftischte. Auch Butter war ein Luxus. Von Oper war damals bei uns keine Rede. Wir lebten in einem Vorort von Czechowice-Dziedzice, zwei Stunden südwestlich von Krakau. Das nächste Musiktheater befand sich im mehr als sechzig Kilometer entfernten Bytom, für eine Familie ohne Auto unerreichbar.

    Meine musikalischen Erfahrungen beschränkten sich daher zunächst auf die Gesangsbücher in der Sonntagsmesse. Künstler, Musiker oder Sänger gab es in meiner Familie keinen einzigen. Alle hatten handfeste Berufe. Mein Großvater war Baumeister und hat die meisten Häuser in unserer Umgebung gebaut. Mein Vater Antoni war Meister in einer Textilfabrik, meine Mutter Janina Schneiderin. Als Kind dachte ich gar nicht daran, Sänger zu werden. Ich hatte nur eine Sehnsucht: Ich wollte reisen, in die Welt hinaus. Mein Fernweh hatte Karl May entfacht, ich verschlang seine Romane, wurde Teil seiner Geschichten, die Durch die Wüste, Durchs wilde Kurdistan oder in Winnetous Welt führten. Ich wollte reisen. Heute kann ich es. Meine Frau Kasia und ich haben gelernt, uns überall auf der Welt einzurichten, egal, ob in Wien, Zürich oder New York. In meiner Kindheit aber war schon der Weg in die Kirche für viele in meiner Umgebung eine Herausforderung: Drei Kilometer Fußmarsch, das war fast ebenso weit entfernt wie meine Schule oder das Haus meiner Tante, von der ich die Milch holte. Oft schickte mir meine Mutter meinen Vater entgegen, denn ich liebte diesen Weg, die Wälder, die Natur. Manchmal machte ich auch einen Umweg über unsere Fußballwiese, wo ich andere Buben für ein kleines Spiel traf. Meine Mutter scherzte oft: »Wenn du allein um die Milch gehst, wird sie sauer.«

    In frühen Kindertagen

    Es ist heute schwierig, einem jungen Menschen all das zu erklären. Man bewältigte tatsächlich die meisten Distanzen per pedes. Die drei Kilometer waren der Radius, in dem meine Familie lebte und arbeitete.

    Auch mein Vater legte den Weg zu seiner Fabrik in Komorowice zu Fuß zurück, bis er ein Motorrad und später ein Auto kaufen konnte. Als Fünfjähriger konnte ich mir nicht einmal vorstellen, dass ein Auto eine andere Form als die eines Kastenwagens haben konnte, bis Ende der Siebzigerjahre der Polonez mit abfallendem Heck aufkam. Das zeigt, wie eng unser Horizont damals gewesen sein muss.

    Kasia, meine Frau, nennt unsere damalige Heimat ein »großes Gefängnis«. Doch als Kind bekam ich von all dem nur wenig mit. Mein Zuhause waren die Felder um Czechowice. Diese hatten schon meinen Urgroßeltern gehört. Wenn eines ihrer Kinder heiratete, schenkten sie ihm ein Grundstück, auch mein Vater bekam eines. Denn erwerben konnte man in dieser Zeit keinen eigenen Grund. So kam es, dass in den sieben Häusern in der nächsten Umgebung ausschließlich Tanten und Onkel wohnten. Ich habe das geliebt: Zum einen musste ich mir keine fremden Namen merken und zum anderen war immer etwas los. Allein mit meinen Cousins hätte ich eine Hockeymannschaft formieren können.

    Das Leben in unserer kleinen Siedlung glich jenem in einem echten Dorf. Als ich noch sehr klein war, wohnten wir bei meinem Großonkel Josef. Er war der »Pótek«, der Pate, meines Vaters. In seinem Haus hatten wir zwei Zimmer für uns gemietet. Als ich drei war, kam meine Schwester Krystyna auf die Welt, vier Jahre später mein Bruder Arkadiusz. Da mein Vater Meister war, hatte ihm seine Firma eine Drei-Zimmer-Wohnung, sogar mit Telefon, versprochen. Mein Vater aber verzichtete darauf, denn er hätte sie nur bekommen, wenn er der Partei beigetreten wäre. Aber diese Bedingung wollte er nicht erfüllen. Ohne Parteibuch aber war im Kommunismus nichts zu haben.

    »Wenn es sein muss, baue ich mir mein Haus allein«, sagte er. Das musste er natürlich nicht, denn bei uns in der Familie halfen immer alle zusammen. Auch ich wollte meinen Anteil leisten. Mit den Händen eines Sechsjährigen tat ich, was ich konnte. Die Fußballwiese tauschte ich gegen die Baustelle ein. Ich siebte Schotter, bediente den Lastenaufzug, legte überall Hand an, wo es mir als kleinem Buben möglich war. Nach drei Jahren war unser Haus fertig. Der Tag, an dem der Deckel auf die Sickergrube gelegt wurde, bleibt mir bis heute in Erinnerung. Am selben Tag siegte Polen bei der Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft 4 : 1 gegen Holland. Das historische Datum, 10. September 1975, und das Ergebnis schrieb ich selbst in den Beton ein. Man kann es heute noch lesen.

    Wir waren der letzte Haushalt in der Siedlung, der ein Telefon bekam. Schuld daran war mein Vater, denn er wollte nie um irgendetwas betteln, obwohl er bereits im Gemeinderat war und ein Anrecht auf einen Telefonanschluss gehabt hätte. Aber das war ihm egal. Er war ein sehr zurückhaltender Mensch. Meine Frau Kasia meint, dasselbe trifft auf mich zu. Wahrscheinlich hat sie recht. Man trifft mich nie mit einer Schachtel Bonbons oder Champagner in einem Besetzungsbüro an – höchstens mit selbst gebackenem Kuchen. Aber im Kommunismus war ohne Schmiergeld kaum etwas zu bekommen. Davon bekam ich als Kind allerdings nichts mit.

    Der Kirschbaum meiner Großmutter und eine abenteuerliche Nachtfahrt ans Meer

    Im Garten meiner Großeltern mütterlicherseits stand ein alter Kirschbaum. Kein Ast war mir zu hoch, wenn es darum ging, die Kirschen zu ernten. Das war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Wie oft ich unfreiwillig auf dem Boden landete, habe ich nicht gezählt, aber mein Ernteeifer lehrte mich klettern, wovon ich heute noch zuweilen auf der Bühne profitieren kann. Ein anderer sommerlicher Höhepunkt war das Heidelbeerpflücken in den Bergen. Jeder von uns trug einen Krug, am Ende sammelten wir unsere Erträge in einem großen Korb. Mein Bruder aß meist mehr, als er sammelte, ich füllte mein Gefäß immer am schnellsten. Wenn meine Frau Kasia und ich heute in unserem Haus in Żabnica sind, setzen wir diese Tradition fort. Auch in unserer Gegend gibt es ausreichend Heidelbeeren.

    Uns Kindern diente im Sommer ein Karpfenteich als Freibad. Aus Holzbrettern bauten wir uns ein Sprungbrett. Ich will gar nicht daran denken, wie oft ich bei meinen Sprüngen in dieses trübe Wasser im Schlamm stecken geblieben bin. Karpfenteiche können mir heute gestohlen bleiben. Das Meer war da schon etwas anderes. Reisen an die Adria oder die Ägäis waren schon theoretisch schwer möglich und praktisch undenkbar, denn die kommunistische Regierung hielt ihr Volk im Lande. Trotzdem mussten wir nicht auf Strandferien verzichten, denn wir hatten die Ostsee. Größere Betriebe bauten Ferienheime für ihre Angestellten. Die Fabrik, in der mein Vater arbeitete, besaß eines in Ustka. Das aber war 600 Kilometer von Czechowice entfernt. Bei unserem ersten Urlaub Mitte der Siebzigerjahre war noch längst keine Rede von einem Polonez. Was also tun? Unser Budget war sehr gering, aber meine Eltern machten das Unmögliche möglich: Wir »charterten« einen LKW. Zu fünft, meine Eltern und wir drei Kinder, fuhren wir auf einem Lastwagen mit, der Textilien transportierte. Nur eine Plane war über uns gespannt. So eine Nachtfahrt in den Norden Polens wäre heute natürlich verboten. Man konnte sich auch bequemere Arten zu reisen vorstellen, aber das machte uns nichts aus. Wir freuten uns so, ans Meer zu kommen. Es war Sommer, es war warm und für mich pures Abenteuer. Zurück sind wir mit dem Zug gefahren.

    Auch im Winter vermissten wir Kinder nichts. Wir bauten uns kleine Ski-Schanzen oder spielten Eishockey. Den Puck fertigten wir selbst an: Wir füllten eine leere Konservendose mit Zement und fertig war unser Geschoß. Als Schlittschuhe dienten mir Kufen, die mir mein Vater aus Metallstücken gefertigt hatte. Später schenkte mir mein Onkel echte Eislaufschuhe. Aber sie waren in Größe 45 und mir mit meinen dreizehn Jahren viel zu groß. Ich stopfte sie mit Zeitungspapier aus, bis sie mir mehr oder weniger passten.

    Mit meinen Eltern Janina und Antoni Beczała

    Hasen oder Zucchini und meine kulinarischen Höhepunkte

    Nie werde ich unsere Familienfeste bei meinen Großeltern vergessen. Dabei kamen oft mehr als dreißig Leute zusammen. Am ersten Weihnachtstag versammelte sich die Familie bei den Eltern meines Vaters. Neben den panierten Karpfen – die waren zu Weihnachten Pflicht – stellte meine Oma immer einen großen Topf Gulasch bereit, von dem alle satt werden konnten. Am 26. Dezember besuchten wir meine Großeltern mütterlicherseits, die Borgiełs. Auf keinem Tisch durfte der Gemüsesalat fehlen. Meine beiden Großmütter traten dabei in einen richtigen Konkurrenzkampf. Tatsächlich waren ihre Salate ganz verschieden: Meine Borgieł-Oma schnitt das Gemüse sehr grob, verwendete nur Kartoffeln und Essiggurken. Dadurch konnte man jede einzelne Zutat erkennen und schmecken. Meine andere Großmutter setzte auf Salzgurken und viele sehr weich gekochte Kartoffeln. Verbunden mit der selbst gemachten Mayonnaise ergaben diese eine feine Masse, die den klein geschnittenen Sellerie und die Karotten verband. Köstlich waren beide. Auch heute darf auf Kasias und meinem Weihnachtstisch der Salat nicht fehlen. Meine Frau hat ein delikates Rezept aus jenem der Borgiełs und jenem der Beczałas kreiert.

    An Festtagen war in unserer Familie nicht zu spüren, wie hart die Zeiten waren. Zu Weihnachten und zu Ostern bekamen wir vom Staat Essensmarken, wie im Krieg. Mit diesen Kärtchen konnte man sich um Zucker, Mehl, Margarine, selten auch um Butter und um Fleisch anstellen. Mehr als zwei Kilogramm gab es jedoch nicht. Fleisch war in Polen noch in den Siebziger- und Achtzigerjahren Mangelware. In den Fleischerläden hingen die nackten Haken nutzlos wie zur Verzierung von den Halterungen. Man musste sich bereits in der Nacht anstellen, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, ein Stück Fleisch zu kaufen. Denn auch die Marken waren keine Garantie dafür, dass man bekam, was man wollte.

    En famille: Meine Mutter mit meiner Schwester Krystyna und ich mit meinem Vater

    Doch mein Vater wusste Rat: Kaninchen. Sieben Jahre hielt er die nahrhaften Nager. Das mögen Tierfreunde heute für grausam halten, aber wer hätte sich damals Vegetarismus leisten können? Mehrmals in der Woche gab es bei uns Hasenbraten. Den konnte ich bald nicht mehr sehen. Meine Mutter spezialisierte sich irgendwann auf Pasteten. Damit konnte ich mich anfreunden, zumal man den Hasen nicht in persona vor sich hatte.

    Trotz der bescheidenen Lebensverhältnisse verband die Menschen eine echte Herzlichkeit. Es war undenkbar, in einer Straßenbahn oder einem Autobus einem älteren Fahrgast nicht sofort seinen Sitzplatz zu überlassen. Wenn man heute nach Polen blickt, hat man den Eindruck, dass der Kommunismus komplett vergessen ist. Die meisten leben so, als hätte er nie existiert. Die Supermärkte sind voll, Essen wird, wie in anderen Ländern auch, im Überfluss gekauft und weggeworfen. Vielleicht erinnern sich manche durch die Coronakrise an diese gar nicht so guten alten Zeiten.

    Die Arbeit teilten wir Kinder uns

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