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Meermädchen
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eBook371 Seiten5 Stunden

Meermädchen

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Über dieses E-Book

Jason Waterstone ist ein virtuoser Tänzer und Choreograph, der bereits in jungen Jahren als Jahrhunderttalent gefeiert wird. Sein Weltruhm ist vorprogrammiert, sein Aufstieg bahnbrechend.
Der Druck, unter den Jason durch seine frühen Erfolge gerät, und die Intrigen seines Kollegen und größten Kontrahenten Roger Stevenson überschatten seine Karriere. Aufhalten können sie sie jedoch nicht.
Erst Jasons plötzlich ausbrechende Schizophrenie-Erkrankung leitet eine dramatische, zerstörende Lebenswende ein. Seine Wesensveränderungen wirken sich auf Beruf und Privateben gleichermaßen fatal aus.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Nov. 2021
ISBN9783754173060
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    Buchvorschau

    Meermädchen - Petra Vetter

    Das Buch

    Jason Waterstone ist ein virtuoser Tänzer und Choreograph, der bereits in jungen Jahren als Jahrhunderttalent gefeiert wird. Sein Weltruhm ist vorprogrammiert, sein Aufstieg bahnbrechend.

    Der Druck, unter den Jason durch seine frühen Erfolge gerät, und die Intrigen seines Kollegen und größten Kontrahenten Roger Stevenson überschatten seine Karriere. Aufhalten können sie sie jedoch nicht.

    Erst Jasons plötzlich ausbrechende Schizophrenie-Erkrankung leitet eine dramatische, zerstörende Lebenswende ein. Seine Wesensveränderungen wirken sich auf Beruf und Privateben gleichermaßen fatal aus.

    Die Autorin

    Petra Vetter wurde in Hannover geboren, studierte an der dortigen Musikhochschule und tanzte in freien Kompanien an renommierten Bühnen. Später nahm sie ihre Tätigkeit als freiberufliche Choreographin und Regisseurin auf.

    Die Erarbeitung ihrer Dramaturgien brachte sie zum Schreiben. Seitdem verknüpft Petra Vetter in Bühnenstücken ihre Choreographien mit eigener Prosa. Meermädchen ist Petra Vetters Debut-Roman, der einen Blick hinter die Kulissen des Theaters wirft.

    Weiter Informationen zu Petra Vetters künstlerischer Arbeit und ihren Veranstaltungen finden Sie auf

    www.petra-vetter-tanz.de

    Impressum

    Texte: © 2021 Copyright by Petra Vetter

    Umschlag: © 2021 Copyright by Petra Vetter

    Gestaltung: by Alyssa Vetter, Janko Buve

    Das Cover-Foto zeigt die Tänzer Isabella Heymann und Egid Mináč bei Proben zu Petra Vetters A Happy Ending

    Verantwortlich für den Inhalt:

    Petra Vetter

    Büchnerstr. 4

    51429 Bergisch Gladbach

    info@petra-vetter-tanz.de

    Druck: neobooks – ein Service der Neopubli

    GmbH, Berlin

    Dank

    An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die mich während meiner Schreibphase ermutigten und an mich glaubten. Insbesondere meinen Lektorinnen Helgard Grosseschallau und Yamina Vetter, die mich mit ihren Kommentaren und Einwänden inspirierten. Und last but not least meiner Tochter Alyssa und ihrem Freund Janko für ihre tolle Covergestaltung.

    Ein Jahrhunderttalent – Prolog

    Vaslav Nijinsky, einer der größten Solisten der Ballettgeschichte, kommt als Kind zweier Tänzer, Tomasz Nijinsky und Eleonora Bereda, mit polnisch-ukrainischen Wurzeln zur Welt. Über sein Geburtsdatum herrscht Uneinigkeit. Manchen Quellen zufolge wird er am 12. März 1888, 1889 oder 1890, anderen hingegen am 17. Dezember 1889 in Kiew geboren.

    Ab 1900 besucht er, zusammen mit seiner Schwester Bronislava, die kaiserliche Tanzakademie in Sankt Petersburg.

    1908 trifft Nijinsky den homosexuellen Impresario Sergei Djagilew, wird dessen Liebhaber und zum Star seines Ensembles Ballets Russes.

    Auf einer Tournee durch Südamerika 1913 verliebt sich der bisexuelle Nijinsky in die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky und heiratet sie noch im gleichen Jahr. Djagilew entlässt Nijinsky und Romola in einem Anfall von Eifersucht fristlos.

    Im Ersten Weltkrieg gerät Nijinsky in ungarische Kriegsgefangenschaft. Die erlebten Gräuel werfen ihn aus der Bahn, werden zu albtraumhaften Visionen.

    Erst 1916 bietet ihm Djagilew wieder eine Rolle in den Ballets Russe an. Während einer Nordamerika Tournee 1916 werden die Anzeichen einer psychischen Erkrankung immer deutlicher. Nijinsky leidet zuweilen unter Wahnvorstellungen und verfällt in religiös bedingte Konflikte. In Djagilew sieht er nun seinen ärgsten Feind.

    1919 bricht Nijinsky bei einer privaten Vorstellung in St. Moritz, die er Hochzeit mit Gott nennt, mit einer schweren Nervenkrise zusammen. Die Diagnose ‚Schizophrenie‘ beendet seine Karriere. Er lebt von jetzt an in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, umgeben von seelischer Finsternis; in innerer Qual, dämmert er 30 Jahre dahin. Erst eine Begegnung mit russischen Soldaten im Jahr 1945 befreit ihn von seinen Blockaden. Er zieht mit seiner Frau nach London und kann dort ein fast normales Leben führen.

    Nijinsky stirbt am 8. April 1950 in London, wo er auch beerdigt wird. Drei Jahre später findet die Umbettung auf den Cimetière de Montmartre in Paris statt.

    Als Tänzer aber bleibt Nijinsky ein unvergessenes Genie. Er beeindruckt durch seine außerordentliche Virtuosität, seine darstellerische Wandlungsfähigkeit, sein lyrisches Spiel, seine Grazie und seine Sprungtechnik. Sein Ballon - die Fähigkeit, einen Sprung scheinbar in der Luft zu halten- gekoppelt mit der Gabe zu lautlosen, sanften Landungen, gilt zu seiner Zeit als einmalig. Sein Name steht für perfekte Tanzkunst. Erst Rudolf Nurejews Talent (1938 -1993) wird mit dem Nijinskys verglichen.

    Nijinsky identifiziert sich mit seinen getanzten Rollen, verschmilzt mit den Charakteren seiner Darstellung. So gewaltig seine Sprünge auch sind, so zart werden seine Bewegungen in lyrischen Passagen. Sie kommen aus dem Inneren, sein Gesicht zeigt Verzückung, absolute Glückseligkeit; der Tanz entrückt ihn, ist seine Bestimmung.

    Von kleiner Statur und eher gedrungen gebaut, unterscheidet sich Nijinsky vom herkömmlichen Ideal eines Tänzers, kann die klassischen Prinzenrollen nicht gut füllen. Doch mit Mikhail Fokine engagiert sein Mentor Djagilew einen Choreographen, der das Androgyne und Katzenhafte Nijinskys erkennt und in Szene setzt.

    Fokine kreiert als erster Choreograph ein Ballett ohne tragende Handlung, also ein ‚Ballet pour le Ballet‘ und gilt als Neuerer des Genres. Zum ersten Mal steht ein Tänzer gleichberechtigt mit einer Tänzerin auf der Bühne, befreit sich der männliche Part von seiner bisherigen Rolle, die ihn auf das Tragen und Stützen der Partnerin beschränkt.

    Fokine hebt die klassische Geschlechterrolle auf, indem er dem männlichen Part eine androgyne Rolle zuweist, und Nijinsky wird zum Mittelpunkt von Handlungs- und Ausdrucksballetten. Als Goldener Sklave zeigt er in Scheherezade Verführung und Erotik, in Le Spectre de la Rose erscheint er einem jungen Mädchen, das mit einer Rose vom ersten Ball zurückkommt, als Geist ebendieser Rose. Die Grazie und Eleganz von Nijinskys Sprung durch das Fenster, mit dem er nach dem Pass de Deux das Mädchen wieder verlässt, wird in den Kritiken und beim Publikum als unerreichbar gefeiert.

    Nach Fokines Entlassung aus der Djagilew Truppe übernimmt Nijinsky dessen Aufgaben, wird zum Choreographen der Ballet Russe, doch ist er der Aufgabe noch nicht gewachsen. Seine Unerfahrenheit, dem Ensemble neue Ideen zu vermitteln, werden zur Herausforderung. So stoßen die abgehackten, eindimensionalen, im Profil verlaufenden Bewegungen in L’Après-midi d’un faune auf erheblichen Widerstand bei den Tänzern. Bei der Uraufführung dieses Werkes kommt es durch die erotischen, sexuell motivierten Bewegungen zum Skandal.

    Von ‚Fetisch und angedeuteter Onanie‘ ist in der Presse die Rede. Auch sein Werk Le Sacre du Printemps überfordert das Publikum; Nijinsky ist mit seinen Visionen seiner Zeit weit voraus. Beim Sacre verstärkt Strawinskis Musik die Ablehnung der Zuschauer. Noch während der Aufführung kommt es zu einem heftigen, gewalttätigen Tumult, und das Stück kann nur nach massivem Polizeieinsatz weitergeführt werden. Nijinsky steht die ganze Zeit auf einem Stuhl und schreit 'Sechzehn, Siebzehn, Achtzehn', um seinen Tänzern die Takte vorzuzählen, die wegen des Getöses der anwesenden Besucher die Musik nicht mehr hören. Nijinsky, der sich selbst als fühlenden Philosophen bezeichnet, ist durch die Reaktion schwer getroffen und wirkt während der Aufführung wie benommen. Später kommt es zum Krach zwischen ihm und Strawinski, weil dieser seine Musik durch die Choreographie herabgewürdigt sieht.

    Nijinskys eigene, tief verwurzelte Selbstzweifel und seine emotional gefühlte Minderwertigkeit, die er als Tänzer in Rollen wie Petruschka zum Ausdruck bringt, werden bestärkt.

    Sein Stern beginnt zu fallen. Seine Wahnvorstellung halten ihn immer stärker gefangen. Seine letzte Vorstellung Hochzeit mit Gott kann er nur mit Unterstützung seiner Frau Romola künstlerisch füllen. Er improvisiert in weiten Teilen, macht, scheinbar in Visionen, Impressionen und inneren Eindrücken gefangen, immer wieder viel zu lange Pausen, entfernt sich geistig von seinem Aufritt; dennoch applaudiert das Publikum, geht mit dem Künstler mit.

    Die Vorstellung ist das Ende von Nijinskys Karriere, denn an ergebnisorientierte Trainings- und Probenarbeit ist nicht mehr zu denken.

    Seine Liebe zum Tanz, die ihn eine Zeit lang getragen hat, ist seiner Psychose unterlegen; sein verzweifelter Kampf, sich durch die künstlerische Auseinandersetzung seine geistige Gesundheit zu erhalten, gescheitert. Nachdem er aus der Dunkelheit seiner Seele nach 26 Jahren wiederauftaucht, malt und zeichnet Nijinsky und wird Gastlehrer für junge Talente wie Serge Lifar. Sein eigener Weg als Künstler aber ist beendet.

    London 09. April 2015, Teil I

    Ich habe das Theater aus dem Leben heraus begriffen. Ich bin keine Erfindung. Ich bin das Leben. Theater ist Leben. Ich bin das Leben.

    Vaslav Nijinsky

    Ungläubig starrte Jason Waterstone auf die Bühne, während es ihm vor Zorn und innerem Aufruhr die Sprache verschlug. Die Vorhänge waren nach seinen Wünschen angebracht, desgleichen die Projektionsfolie für die Übertragungen seiner Video-Künstlerin Emily. Das Bühnenbild, bestehend aus dem großen Tauchtank mit den gläsernen Wänden und dem hohen Felsen dahinter, war ebenfalls aufgebaut, doch enthielt der Behälter trotz Probenbeginns kein Wasser. Er war leer, einfach leer.

    Von den Mitgliedern seiner Company war er, wie immer der Erste am Probenort. Er brauchte Zeit mit dem ruhigen, unbelebten Raum, bevor er mit Menschen, Bewegungen, Musik und Geräuschen gefüllt wurde. Er wollte dessen Stille in sich aufnehmen, um sich auf ihn einlassen, mit ihm eins werden zu können. Als Tänzer und Choreograph arbeitete er nicht nur mit Schrittmaterial und Musik, sondern auch mit der Beschaffenheit seiner Spielstätte, die er in sein Werk integrieren musste, um eine harmonische Einheit aus Tanz, Zeit, und der räumlichen Begrenzung zu gestalten.

    Obwohl er die Bühne seines Theaters kannte, veränderte sie sich bei jedem neuen Stück durch unterschiedliche Kulissenaufbauten, strahlte eine andere Atmosphäre aus, brachte neue Synergien. Doch mit seiner meditativen Sammlung vor Probenbeginn war es nun vorbei.

    Wie sollte er arbeiten, wenn seine Solistin nicht im Tank schwimmen konnte? Sein Groll wuchs. Zwei lange Jahre hatte er für sein Projekt gekämpft, sich über alle Widrigkeiten und Bedenken seitens seines Intendanten Arthur Miles hinweggesetzt und mit seinem Sponsor Harris Sinclair verhandelt, um allen Unkenrufen zum Trotz sein größtes Werk, das Meisterwerk seiner bisherigen Laufbahn, zu verwirklichen. Und nun wurde er sabotiert. Doch von wem?

    Ein Verdacht keimte in ihm auf, aber das würde er ihnen nicht durchgehen lassen. Er war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Sie würden ihn kennenlernen und spüren, mit wem sie es zu tun hatten.

    Im Sturmschritt erreichte er das Büro seines Intendanten, versicherte sich hastig, dass Sonnenbrille und Wollmütze, die ihn vor dem Ideendiebstahl seiner Kollegen schützten, richtig saßen, dann stand er, ohne anzuklopfen im Zimmer.

    Arthur Miles, ein mittelgroßer, drahtiger Mann in den Vierzigern, zuckte zusammen, als seine Tür aufflog. Konsterniert blickte er von seinem Computer auf und erblickte seinen Ballettdirektor. Wer sonst sollte auch einen derart vehementen Auftritt hinlegen, dachte Miles resigniert.

    Und wie Jason wieder aussah. Eigentlich war er ein gutaussehender, hochgewachsener, schlanker Mann mit hellbraunem, welligem, dichtem Haar und ausdrucksstarken, intensiven braunen Augen, aber in letzter Zeit wirkte er ausgebrannt und irgendwie verwildert. Und wieso, um alles in der Welt, trug er an einem trüben, schon recht warmen Frühlingstag Sonnenbrille und Wollmütze?

    Sein Ballettchef war der beste Mann, den er seit dessen Beginn als junger Tänzer jemals unter Vertrag hatte, doch seine Marotten wurden immer schlimmer, waren kaum noch tragbar. Seit er sein Stück Meermädchen inszenierte, häuften sich die Klagen über ihn. Er war launisch und unberechenbar geworden, und das Ensemble verweigerte nur deshalb die Zusammenarbeit nicht, weil es sich an die guten Zeiten mit ihm erinnerte, ihn deshalb nicht im Stich lassen wollte. Und weil er unbestritten der größte Tänzer und Choreograph seiner Zeit war. Miles Sorgen wurden gerade durch Jasons Erscheinen in seinem Büro nicht zerstreut, sondern eher verstärkt.

    Es fiel in Miles Verantwortungsbereich, dass die Stücke im Programmheft bis zur Premiere ‚standen‘, wie es so schön im Theaterjargon hieß; doch das Ballett seines Chefchoreographen bereitete ihm Kopfzerbrechen. Und nun lief Jason in besorgniserregend desolatem Zustand vor ihm auf und ab, machte einen wirren Eindruck. Zerstörte ihn sein Ehrgeiz oder nahm er etwa wieder Drogen? Fragen, die Miles in Unruhe versetzten, seine beklemmenden Vorahnungen nicht besänftigten. Wahrte Jason überhaupt noch eine professionelle Distanz zu seiner Arbeit? Eigensinnig hatte er sich geweigert, seinem Stück einen Namen zu geben, hatte darauf bestanden, es mit dem Arbeitstitel Mermaid–Meermädchen im Programmheft aufzunehmen.

    Sollte er ihn nach Hause schicken, ihm eine kurze Auszeit verordnen? In vier Tagen war Premiere. Er, Arthur Miles, war Intendant des berühmten Londoner Two Pieces Theatre; eine erneute geplatzte Premiere wie im Jahr 2012 konnte und wollte er sich nicht leisten. „Was kann ich für dich tun, Jason?", fragte er besorgt und fuhr sich mit der Hand durch sein blondes, welliges Haar.

    „Wie du wissen solltest, Arthur, haben wir in vier Tagen Premiere, der Tank ist leer und das Füllen und Aufheizen des Wassers auf eine akzeptable Temperatur dauert seine Zeit, platzte es aus Jason heraus. „Kann mir irgendjemand verraten, wie ich so proben soll? Wir hatten eine klare Planung, die für die Katz ist, wenn sich keiner in diesem Saftladen daran hält. Miles zog die Augenbrauen hoch. Nicht wegen des Ausdrucks ‚Saftladen‘, sondern aufgrund der Fakten. Wie konnte es zu dieser Panne kommen? Jason hatte recht; der Tank sollte längst mit Wasser gefüllt sein. Die Arbeiter hatten ihn deshalb am Tag zuvor schon früh aus dem Probenraum auf die Studiobühne umgezogen, um im Zeitplan zu bleiben. Diese Bühne im Nebengebäude war eigentlich nur ein sehr großer Raum, in dem eine Teleskoptribüne die Zuschauerplätze in Rängen nach oben führte. Je nach Platzbedarf des Stückes konnten mehr oder weniger Ränge aufgebaut werden, sich so den jeweiligen Ansprüchen flexibel anpassen. Es gab viele Möglichkeiten, die Bühne durch Trennvorhänge abzuteilen, was sie für experimentelle Projekte prädestinierte. Aus diesem Grund hatte sie Jason sicherlich auch bevorzugt. Aber warum, verflixt noch eins, war der Acryltank leer?

    Doch noch ehe Miles zu einer Antwort ansetzen konnte, brüllte Jason: „Steckt Harris Sinclair dahinter? Hat er die Gelder gestrichen, damit ich vor einem leeren Tank stehe und die Premiere platzen lassen muss? Er will meinen künstlerischen Ruin, will mich fertig machen, weil ich nichts von ihm will, seinem Baggern nicht nachgebe!" Jason schäumte. Alarmiert beobachtete Miles ihn. Was war nur in ihn gefahren?

    Harris Sinclair war der Hauptsponsor von Meermädchen. Ein erfolgreicher Investmentbanker, der seit Jahren einen Teil seines Vermögens in die Kunst investierte. Er fühlte sich dem Theater eng verbunden, wäre selber gerne Schauspieler geworden, doch lagen seine Talente eindeutig im Finanzwesen. Um seiner Passion trotzdem nahe zu sein, ließ er ein großzügig bemessenes Quantum ‚seines Talents‘ dem Theater zukommen; aus seiner Sicht eine Win-win-Situation.

    Harris Sinclair war ein Mann Anfang vierzig, gebildet und herzlich, ohne erkennbare Anzeichen von homoerotischen Neigungen. Selbst wenn sie vorhanden sein sollten, würde Sinclair niemals wegen unerwiderter Gelüste eine Aufführung sabotieren. Die Werke, die er unterstützte, waren auch seine Babys. Was für einen Blödsinn spann Jason sich da zusammen? Ohne die noble Unterstützung seines Mäzens wäre Meermädchen nie umgesetzt worden. Die Gelder des Theaters hätten für Jasons aufwendige Inszenierungs-Pläne niemals gereicht.

    „Jason, ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist, aber ich werde mich sofort darum kümmern, versuchte Miles zu deeskalieren. Auf die haltlosen Anschuldigungen seines Ballettchefs ging er erst gar nicht ein, das führte zu nichts; es galt, ein ernsthafteres Problem zu lösen. Er würde Jasons Hirngespinste bei ihm belassen; sie hatten nichts mit einer professionellen Theaterarbeit zu tun. „Weißt du, wie lange es dauert, bis der Tank vollgelaufen ist? Den heutigen Probentag können wir vergessen, das ist dir hoffentlich klar, polterte Jason.

    Arthur zuckte zusammen. Hatte Jason seine Nerven überhaupt nicht mehr unter Kontrolle? Am Theater geschah ständig Unvorhergesehenes, das gemeistert werden musste; aber das wussten alle Künstler. Natürlich war es ärgerlich, aber kein Grund zur Panik. Sie hatten, wie Jason richtig bemerkte, noch vier Tage, um alles auf die Reihe zu bringen. Das war großzügig bemessene Zeit, die genug Planungssicherheit für eventuelle Pannen enthielt.

    Irritiert beobachtete Arthur, wie Jason seine Hände knetete, als wäre er in tiefster Verzweiflung. Diese Geste brachte die Entscheidung für Miles. Schon einmal hatte sein Ballettdirektor durch Überarbeitung einen ernsten Zusammenbruch erlitten, war aber während einer Rekonvaleszenzphase wieder vollständig auf die Beine gekommen. Viel Zeit zur Erholung gab es diesmal nicht, aber Premiere hin oder her, er würde Jason zumindest heute nach Hause schicken, damit er morgen oder übermorgen ein bisschen weniger überdreht zur Probe antreten konnte.

    „Jason, sagte er deshalb unvermittelt, „mach dir einen freien Tag, während wir deinen Tank füllen. Und gib deinen Tänzern auch gleich eine Auszeit. Ihr könnt hier gerade sowieso nichts tun und habt das ganze letzte Jahr über sehr hart gearbeitet. Ruht euch ein wenig aus; wir wollen doch alle, dass die Premiere ein Riesenerfolg wird, und dafür brauchen wir ein stressfreies Ensemble. Machen wir das Beste aus dieser Panne.

    Misstrauisch sah Jason Miles an. Was war das für eine merkwürdige Idee? Tänzer brauchten vor einer Premiere Training und keinen freien Tag. Steckte Miles mit Sinclair untere einer Decke? Wollte auch er ihn sabotieren? Vorsicht war geboten. Miles war ohne jede Frage ein begnadeter Intendant und hatte das Two Pieces zu seinem heutigen Ruhm gebracht, aber Jason wusste, dass Miles liebend gerne ein eigenes Projekt inszenieren würde. Was, wenn er die Premiere verhindern wollte, um später Jasons Werk unter seinem eigenen Namen auf die Bühne zu bringen?

    Jason rückte seine Kopfbedeckung zurecht. Das sollte er nur versuchen. Durch den Schutz von Sonnenbrille und Wollmütze würde Arthur nicht zu seinen Gedanken vordringen können. Er selbst sollte jetzt so schnell wie möglich das Büro verlassen, um sich nicht länger den negativen Schwingungen dieses Raumes auszusetzen. Arthur hatte recht, er konnte heute nichts tun. Wortlos verließ er das Zimmer. Miles seufzte schwer.

    Sommer 1990

    St. Johns

    „Jason, bist du fertig? Wo steckst du nur wieder? Laut tönte Liam Waterstones fröhliche Stimme durchs Haus. Jason kniff in seinem Versteck die Augen fest zusammen und kicherte. Er liebte es, mit seinem Großvater Verstecken zu spielen. Wenn er die Augen schloss, dauerte es länger, bis er gefunden wurde, das glaubte er zumindest. „Jason!, hörte er seinen Opa erneut rufen, „komm schon, wir wollen endlich mit dem Boot los und angeln! Wenn du nicht bald kommst, sind alle Fische weggeschwommen! Dann können wir deiner Oma nicht beweisen, dass wir einen Kabeljau fürs Abendbrot fangen können!"

    Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wie der Blitz schoss Jason aus seinem Versteck hervor. Er wollte nicht schuld an einem verspäteten Aufbruch zur heutigen Bootstour sein. Dafür freute er sich viel zu sehr darauf. Er war bereits seit dem Frühstück schrecklich aufgeregt.

    Seine Großmutter, Sarah Waterstone, war heute Morgen schon in aller Frühe nach London aufgebrochen, so dass Jason alleine mit seinem Großvater gefrühstückt hatte. Sarah war die Mutter seines Vaters und 58 Jahre alt, doch wirkte sie, durch den frechen Fransenschnitt ihres mit silbernen Fäden durchzogenen blonden Haares und den blitzenden, hellblauen Augen, wesentlich jünger. Dieser Eindruck wurde durch ihre zierliche Figur noch betont. Als gefragte Illustratorin arbeitete sie freiberuflich für große Magazine und für die Werbebranche.

    Trotz des aufkommenden Pixel- und Photoshop-Hypes schätzten sie immer noch die Vorzüge des handgezogenen Strichs, so dass Sarahs Beruf nicht vom Aussterben bedroht war.

    Sie erledigte ihre Arbeit größtenteils im Home-Office und fuhr einmal im Monat in die Hauptstadt, zur Besprechung mit ihren Kunden.

    Sein Großvater war sieben Jahre älter als seine Frau und seit zwei Jahren in Rente. Von großer, kräftiger Gestalt, mit dichtem, zerzaustem, graumeliertem Haar, wirkte er wie ein alter Seebär. Aus seinem gebräunten Gesicht blickten aufmerksame, graublaue Augen, die von Fältchen gerahmt waren. An den Londoner Terminen seiner Frau hatte er sturmfreie Bude. Jason wusste nicht, was Opa damit meinte, aber es war ihm auch egal. Erwachsene sagten manchmal komische Dinge. Vielleicht verstanden sie sie ja selber nicht richtig.

    Nach dem Frühstück musste Liam noch die Bootsausrüstung zusammentragen und das Picknick zubereiten, während Jason spielte, und in seiner Fantasie bereits auf dem Meer war. Als es dann schließlich losging, konnte er sich das kleine Versteckspiel mit seinem Opa jedoch nicht verkneifen; es machte einfach zu viel Spaß.

    Doch nun ließ sich Jason folgsam in etwas zu große Segelschuhe, für die er lästigerweise ein zweites Paar Socken brauchte, stecken. Es war ein wunderschöner, aber nicht allzu warmer Sommertag, und er wollte die Jacke, die ihm sein Großvater hinhielt, nicht anziehen, doch Opa bestand darauf. Er meinte, auf dem Wasser würde es durch den Fahrtwind recht frisch werden. Als er ihm aber die Schwimmweste überziehen wollte, protestierte Jason vehement. „Opa, die brauche ich nicht, ich kann doch schwimmen. Hast du das schon wieder vergessen? Du hast es mir doch selber beigebracht! „Nein, junger Mann, das ist mir keineswegs entfallen, aber eine Schwimmweste ist auf dem Boot Pflicht, auch für kleine Wasserratten wie dich. Da gibt es keine Diskussion. Jason zog eine Schnute. Opa war wirklich ahnungslos. Erst neulich hatten ihm ein Freund und dessen Eltern, die er ins Freibad begleitete, bestätigt, was für ein toller Schwimmer er war. Und nun sollte er eine Schwimmweste tragen; das war einfach nur peinlich.

    „Komm schon, Sportsfreund, lenkte sein Opa ein und strich seinem Enkel durch das wellige, hellbraune Haar, „kein Grund, beleidigt zu sein. Schwimmwesten werden auf Booten aus Sicherheitsgründen getragen. Wir sind hier am Meer, da kann das Wetter schnell umschlagen. Wenn das Boot bei hohem Seegang von einer Welle überrollt und du von Bord geworfen wirst, kann dir die Schwimmweste das Leben retten. Schau, ich trage auch eine, obwohl ich ein super Schwimmer bin.

    Jasons braune, ausdrucksstarke Augen blitzten kurz rebellisch auf, doch er wusste, wann er verloren hatte. Deshalb ließ er sich die rote Auftriebsweste jetzt widerstandslos über den Kopf ziehen.

    Ihm fiel ein, dass seine Oma gestern strickt gegen die Idee mit dem Bootsausflug gewesen war. Er hatte einen Teil ihrer Diskussion, die nicht für seine Ohren bestimmt war, zufällig mit angehört. „Mit vier ist Jason noch zu jung, waren Sarahs Worte an ihren Mann. „Du bist mit dem Boot und der Angel beschäftigt und kannst den Kleinen nicht dauernd festhalten. Du weißt, wie quirlig er ist; wer weiß, auf was für dumme Ideen er kommt. Nachher springt er dir noch über Bord, weil er mit den Fischen um die Wette schwimmen will.

    „Sarah, beruhige dich doch, erwiderte sein Großvater. „Erstens ist Jason in zwei Tagen schon fünf, er wird selbstverständlich eine Schwimmweste tragen, und die See wird morgen so ruhig wie heute sein; ich habe den Wetterbericht gehört. Jason ist ganz wild darauf, auf Fischfang zu gehen. Lass ihm doch die Freude.

    „Gut, dass ich morgen in London bei meinem Auftraggeber bin und nichts von eurem Törn mitbekomme, Liam; das erspart mir einen Herzkasper", seufzte seine Großmutter. Damit war die Diskussion beendet.

    Seine Großeltern hatten wirklich keinen Schimmer, dachte Jason. Er war nicht wild aufs Angeln, und Fische waren ihm im Wasser viel lieber, als auf dem Teller, obwohl sie ihm schmeckten. Er wollte unbedingt aufs Meer fahren, weil er hoffte, dort dem Meermädchen Aldiana aus Großvaters Geschichte zu begegnen. Opa veränderte ihre Abenteuer bei jeder neuen Erzählung, die dadurch immer länger und spannender wurde. Doch der Kern wandelte sich kaum:

    Aldiana war in den Tiefen des Ozeans zu Hause, in denen das Licht des Himmels die Unterwasserwelt auf wundersame Weise in ihren schönsten Farben erstrahlen ließ. Sie lebte, unbeschwert und geliebt von ihren Eltern und Geschwistern, in einem großen, atemberaubenden Felsen-Palast. Das Meerwasser strömte sanft durch seine Räume, was die, in wunderschönen Muschelvasen arrangierten Unterwasserpflanzen zum Tanzen brachte.

    Dieses Glück hätte ewig dauern können, wäre Aldianas Vater Dorian der Zweite, der mächtige und gerechte Herrscher des gewaltigen Wasserimperiums, nicht eines Tages von den Drachenfischen entführt worden.

    Drachenfische waren finstere Wesen, von grausigem Äußeren, mit furchterregenden Zahnreihen und einem Giftstachel auf dem Rücken. Vor ihnen hatten selbst die Haie Respekt. Da sie Unruhestifter waren, die die anderen Bewohner des Ozeans bedrohten und tyrannisierten, waren sie von den Meerkönigen in ein finsteres Reich in den abgelegenen Teilen der Tiefsee verbannt worden.

    Trotzdem kam es immer wieder zu Aufständen, so dass die Meerkönige die Grenzen sichern mussten und deshalb eine Armee aus Haien rekrutierten, die in den Außenbereichen des Landes patrouillierten. Aber auch die Haie wurden mit der Zeit unzufrieden, denn ihre Aufgabe war anstrengend und gefährlich und trennte sie die längste Zeit des Jahres von ihren Familien. Und irgendwann hatte einer dieser Haie den Drachenfischen das streng gehütete Geheimnis der Meermenschen, das ihre Macht begründete, verraten. Wer diese Macht brechen wollte, musste den Meerkönig entführen.

    Jason konnte die Geschichte nicht oft genug hören. Sie berührte ihn, nahm ihn mit in eine fremde Unterwasser-Welt, die alleine ihm und Aldiana gehörte, die er schon bald insgeheim nur noch ‚sein Meermädchen‘ nannte. Bestimmt wusste Aldiana, dass er heute aufs Meer fuhr, bestimmt würde sie sich ihm zeigen, bestimmt wollte sie den Jungen, der heimlich in sie verliebt war, kennenlernen. Wenn er sie also treffen wollte, musste er die Schwimmweste wohl oder übel in Kauf nehmen. „Nah siehst du, ist doch gar nicht so schlimm, meinte sein Opa aufmunternd, als er Jason die Weste anlegte. Und den Fischen ist es sowieso egal, wie du aussiehst, lachte er. Pah, dachte Jason, du hast ja schon Oma; du willst heute nicht das Mädchen aller Mädchen treffen. Er musste irgendeinen Weg finden, sich von dem blöden Gummiding zu befreien, wenn Aldiana neben dem Boot auftauchte, ohne dass Opa es bemerkte. Würde sein Großvater Aldiana wohl sehen können, fragte er sich oder zeigten sich die Wasserwesen nur Kindern?

    Jason liebte die Sommerferien bei seinen Großeltern, denn er konnte hier selbstständiger unterwegs sein, als im großen London, wo er mit seinen Eltern wohnte. Seine Großeltern lebten außerhalb von Poole, in dem idyllischen Dorf St. Johns. Es lag direkt an der Küste und besaß einen eigenen Bootsanlegeplatz für die Dorfbewohner.

    Jason und Liam machten sich auf den Weg. Sie ließen die Häuser des Örtchens hinter sich und gingen nun durch ein kleines Heidegebiet mit Blick auf die eindrucksvollen Felsformationen, die sich am Strand und im Meer ausdehnten. Man konnte weit über die flache Bucht mit ihren vielen kleinen Inseln blicken. Ein Großteil der Küste war wegen seiner außer gewöhnlichen geologischen Formationen zum Weltnaturerbe der UNESCO erklärt worden, doch das interessierte Jason nicht besonders. Er fragte sich vielmehr, auf welchem dieser Felsen sich Aldiana wohl sonnte, wenn sie an Land kam. Während er noch darüber grübelte, hatten sie bereits das Boot erreicht. Selbst Jasons kleine Beine konnten den kurzen Weg zwischen Haus und Anlegeplatz in wenigen Minuten zurücklegen.

    „Bereit, Matrose?, fragte sein Großvater. „Dann ab mit dir an Bord. Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. Geschickt balancierte er über den schmalen, geländefreien Bootssteg an Deck. „Ein echter Seemann", hörte er seinen Opa hinter sich. Aus seiner Stimme klang Anerkennung. Jason strahlte; er war stolz auf sich. Beim Anblick des schmalen Stegs war ihm dann doch ein wenig mulmig geworden.

    Liam verstaute den Picknickkorb sicher in der Kajüte, ermahnte Jason, während der Fahrt ruhig sitzen zu bleiben, dann warf er den Motor an. Er löste die Taue am Anlegeplatz und fuhr hinaus aufs Meer. Jason jauchzte; der Fahrtwind zerzauste seine Haare. Vorsichtig versuchte er, direkt über die Reling ins Wasser zu blicken, doch er konnte nichts sehen, denn wenn er saß, war die Bordwand noch zu hoch für ihn. Er sah nur die Heckwelle, die hinter dem Boot schäumte, und bekam den einen oder anderen Gischt-Spritzer ab.

    Sie schipperten an Poole vorbei, der großen Hafenstadt im Südwesten Englands, die wegen ihres Naturhafens, dem zweitgrößten weltweit, berühmt war. Von hier gingen Fähren nach Frankreich, und es gab zahlreiche Bootsbauer und Werften für große Luxusyachten. Liam Waterstone war selbst ein bekannter Bootsbauer in der pulsierenden Stadt gewesen, doch als er in Rente ging, suchten er und Sarah

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