Rossinis Geheimnis oder warum Gesang die Welt erlöst
Von Manfred Flügge
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Buchvorschau
Rossinis Geheimnis oder warum Gesang die Welt erlöst - Manfred Flügge
Impressum
Manfred Flügge
Rossinis Geheimnis oder warum Gesang die Welt erlöst
Schaut, was das Auge einer Frau zu leisten vermag
oder alleine eine singende Stimme! …
Singe, wer nicht reden kann! …
Nicht wir erfinden die Musik, sie ist schon da, nichts entgeht ihr,
man muss sich nur dreingewöhnen!
Wir müssen uns nur hineinversenken bis über die Ohren.
Anstatt uns den Dingen zu widersetzen, brauchen wir uns
nur geschickt in sie einzubooten auf ihrem seligen Seegang!
Paul Claudel, Der seidene Schuh
Rossini, divino Maestro, Helios von Italien, der du deine klingenden Strahlen über die Welt verbreitest! Verzeih meinen armen Landsleuten, die dich lästern auf Schreibpapier und auf Löschpapier! Ich aber erfreue mich deiner goldenen Töne, deiner melodischen Lichter, deiner funkelnden Schmetterlingsträume, die mich so lieblich umgaukeln, und mir das Herz küssen, wie mit Lippen der Grazien! Divino Maestro, verzeih meinen armen Landsleuten, die deine Tiefe nicht sehen, weil du sie mit Rosen bedeckst, und denen du nicht gedankenschwer und gründlich genug bist, weil du so leicht flatterst, so gottbeflügelt! – Freilich, um die heutige italienische Musik zu lieben und durch die Liebe zu verstehn, muß man das Volk selbst vor Augen haben, seinen Himmel, seinen Charakter, seine Mienen, seine Leiden, seine Freuden, kurz seine ganze Geschichte. …
Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeisterung für die Freiheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmut bei der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit, dabei sein leises Hoffen, sein Lauschen, sein Lechzen nach Hülfe, alles dieses verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu elegischer Weichheit herabgleiten.
Heinrich Heine
Welche Mutter möchte schon ihren einzigen Sohn kastrieren lassen? Wem würde sie damit einen Gefallen tun? Und wozu soll die schmerzliche und riskante Operation gut sein? Um stimmlich ein Knabe zu bleiben, um weder Knabe noch Mann zu sein, sondern ein Frauenersatz? Um nichts zu sein als eine körperlose Stimme?
Aber soll die Stimme den Körper leugnen? Ist sie nicht das, was den Körper über sich selbst hinaus erhebt, ohne ihn zu leugnen oder gar zu opfern? Stimme ist der Klang des Körpers, ist eine reine Gegenwartskunst. Daher ihre Intensität, daher ihre Flüchtigkeit. Die geschulte Stimme hat ihre Vorgeschichte und ihre Vorbereitung, eine Nachgeschichte hat sie nur in der Erinnerung (oder auf fixierenden Medien); ihre Intensität aber erreicht sie nur im erfüllten Augenblick, im Nu der Mystiker, dem absoluten Augenblick, der sein Gegenteil beschwört: die Ewigkeit – aber vor teilnehmenden Ohrenzeugen.
Der Kastrat war ein Missverständnis, eine Folge von absurden Gesetzen im Vatikanstaat, nach denen Frauen nicht öffentlich singen durften, war eine Idee perverser Kardinäle, wie vielleicht die Oper als Kunstgattung insgesamt. In dieser Kunst allerdings, gerade im Gesang, gerade auf der Bühne, ist die Sache mit männlich und weiblich nicht so eindeutig, wie es scheint. Und aus dieser Uneindeutigkeit, ja latenten Verwechslung und Vermischung stammt der unheimliche, phantomatische und fantastische Reiz des Operngesangs. Und dieser Reiz und damit vielleicht das Wesen der Oper lässt sich bei niemand besser nachempfinden und ausloten als bei dem scheinbar so arglosen und leichtfertigen Gioachino Rossini.
Seine Mutter hat ihn nicht kastrieren lassen, ernst gemeintem Rat zum Trotz; ihr Sohn hat es ihr gedankt. Auch zu unserem Glück. Gioachino Rossini blieb ein Mann und musste später die Folgen tragen, dass er nicht nur der Muse Erato gehuldigt hatte, sondern auch der Göttin Venus. Er diente auf seine Weise den schönen Stimmen dieser Welt. Kinder hatte er allerdings keine. Die einzigen Geschöpfe, um die er die Welt vermehrte, leben als Gestalten auf den Bühnen der ganzen Welt.
Über Rossini kursieren unendlich viele Anekdoten. Die Anekdoten haben ihn populär gemacht, aber sie haben sein Bild als Mensch und als Komponist verzerrt. Nein, er war kein Koch und Rezepterfinder – das Tournedos Rossini (kleine Stückchen Rinderfilet mit einer Scheibe Gänsestopfleber) wurde erfunden vom Pariser Küchenchef Casimir Moisson, bei dem Rossini in seinen späten Jahren Stammgast war, aber er war sehr wohl ein kulinarischer Genießer und Kenner; nein, er hat nicht mit dem Komponieren aufgehört; er hat nach langem Kampf mit allerlei Krankheiten