Fate of Whisky: Rückkehr der Vergangenheit
Von Joachim Koller
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Über dieses E-Book
Joachim Koller
Joachim Koller, geboren 1978 in Wien, hat nach dem Schulabschluss mehrere Jahre im Reisebüro verbracht. Wohl auch deshalb zählt neben dem Schreiben das Reisen zu seiner großen Leidenschaft. Seine Lieblingsdestinationen sind dabei Kreta, Schottland und Barcelona.
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Buchvorschau
Fate of Whisky - Joachim Koller
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1: Vergangenheitsbewältigung
Kapitel 2: Geister der Gegenwart
Kapitel 3: Neue Zeitrechnung
Prolog
Nie wieder, schwor sich Niko, ich bin zu alt für diese Scheiße.
Sein Kopf brummte, die letzte Nacht war zu lang und sehr feuchtfröhlich gewesen. Erschöpft lehnte er auf der Couch, massierte seine Schläfen und genoss die Ruhe und den Geruch des Kaffees auf dem Tisch vor ihm. Noch immer dröhnte die Bassmusik des Vorabends in seinem Kopf, außerdem hatte er eindeutig zu viel Alkohol getrunken.
Die Stille hielt nur kurz an. Keine fünf Minuten später wurde die Schlafzimmertür aufgerissen und eine junge Frau kam heraus, weitaus munterer und frischer als er. Ihre blonden Haare mit feuerroten Strähnen waren wild durcheinander, aber im Gegensatz zu Niko wirkte sie ausgeschlafen.
»Morgen! Du bist also auch schon auf«, bemerkte Kira fröhlich.
»Leise... bitte«, jammerte Niko.
Sie grinste ihn an.
»War es dir zu viel gestern?«
»Kleine, ich bin keine zwanzig Jahre, so wie du, sondern doppelt so alt. Da spürt man auch die Nächte doppelt.«
»Keine Sorge. Es war ja mein letzter Abend in Wien. Heute darfst du zeitig ins Bett gehen, nachdem ich zurück nach Kreta fliege. Ich hoffe, mit vierzig bin ich noch so aktiv wie du.«
Niko war vor einigen Wochen in eine neue Wohnung gezogen, als Kira, eine gute Freundin von Kreta, überraschend ihren Besuch angekündigt hatte. Nun, nach einem ergiebigen Frühstück, half sie ihm, die letzten Kisten zu verstauen. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, ihr die Stadt zu zeigen. Tagsüber besuchten sie Museen, Kirchen und Parks, in der Nacht lernte Kira die unterschiedlichsten Bars und Diskotheken kennen.
»Manos wird es bereuen, nicht mitgekommen zu sein.«
»Wenn dein Freund lieber eine Schiffstour macht«, meinte Niko und verstaute eine Schachtel voller Bücher in einem Regal.
»Die ist aber sinnvoll! Wir arbeiten bei einer Organisation, die sich darum kümmert, Plastik aus dem Meer zu fischen.
Und da der Umweltschutz auf Kreta gerade erst im Aufbau ist, haben wir jede Menge Arbeit.«
»Das glaube ich dir.«
»Was ist denn da drinnen?«, fragte Kira und deutete auf einen Schuhkarton mit der Aufschrift ›1993/94‹.
Niko hielt kurz inne und nahm ihr die Schachtel behutsam ab.
»Erinnerungen.«
»Was genau? Ein spezieller Urlaub, dein erstes krummes Ding, oder...?«
»Eine lange Geschichte aus meiner Schulzeit.«
»Deine erste Liebesgeschichte!«, meinte Kira neugierig und wollte nach der Schachtel greifen.
»Lass sie lieber zu. Da sind zu viele Dinge drinnen, an die ich nicht sonderlich gern zurückdenke.«
Kira grinste breit.
»Ach wie süß. Der alte Mann und seine erste Liebe. Wie war sie, stürmisch und wild, oder eher zwei schüchterne Kinder, Händchen halten und zarte Küsschen im Mondschein?«
»Sie war wild, verrückt und mit einem abrupten Ende«, antwortete Niko und stellte die Schachtel auf den Tisch.
Kira gab keine Ruhe, bis er ihr erlaubte, einen Blick hineinzuwerfen.
»Klar, auch hier findet man ein Messer.«
»Ein sogenanntes Sgian dubh. Es gehörte früher zur Kleidung eines schottischen Clanmitglieds.«
»Schottland, okay. Und hier haben wir eine fast vergilbte Kinokarte... Kolosseum?«
»So hieß das Kino, heute ist dort ein Supermarkt.«
»Bodyguard?«, las Kira vor, »Klingt nach einem Actionfilm.«
»Eher eine Schnulze.«
Als Nächstes zog sie eine kleine Dinosaurierfigur heraus.
»Du kennst doch Jurassic Park? Damals kam der erste Teil ins Kino«, erklärte Niko.
»Und dieses Armband, selbstgeknüpft und aus deinem so geliebten Paracord.«
»Es war mein erstes Paracord-Armband. Ein Weihnachtsgeschenk«, sagte Niko und starrte auf das Band.
Erinnerungen an den Abend, an dem er das Armband erhalten hatte, aber auch wie seine Jugendliebe von einem Tag auf den anderen vorbei war, kamen hoch.
»Konzertkarten!« Kira zog zwei Karten hervor und wedelte damit vor Nikos Gesicht.
»Bon Jovi und Roxette. Das waren Bands, die in meiner Jugend ihren Höhepunkt hatten.«
»Und die man heute auch noch kennt. Vom welchem Film ist dieses Bild?«
Sie hielt ein Bild in der Hand, wie es früher in den Auslagen der Kinos neben dem Filmplakat hing. Auf dem Bild war eine Gestalt mit weiß angemaltem Gesicht zu sehen, die mit ausgebreiteten Händen in einer dunklen Gasse stand.
»The Crow, die Krähe. Das Original mit Brandon Lee.«
»Nie davon gehört. Sieht aber düster aus.«
Als sie auch noch ein kleines Buch mit Fotos herausnahm, reichte es Niko.
»Gib die Sachen wieder hinein und mach sie zu«, bat er mit ernster Stimme. Er wollte nicht über dieses Kapitel nachdenken. Kira kannte ihn gut genug, um nicht weiter nachzufragen. Sie steckte sich einen Kopfhörer ins Ohr und griff nach dem Korb voll mit dunklem Gewand. Dabei summte sie eine Melodie, die Niko nicht erkennen konnte.
»Was hörst du?«
»Den bekanntesten österreichischen Schlager- oder Volksmusiksänger zurzeit.«
Niko sah sie fragend an. Die von ihr erwähnte Musikrichtung war ihm alles andere als geläufig und überhaupt nicht sein Musikgeschmack.
Kira schaltete den Lautsprecher ein:
Es is' verdammt lang her, wuoh-oh
Verdammt lang her
Und so wie's früher woar mit sechzehn Joahr
Wird's nie mehr
Obwohl Niko wenig für diese Musik übrig hatte, den Sänger erkannte er.
»Andreas Gabalier und seine Musik sind nicht mein Metier.«
»Aber es passt zu der Schachtel voller Erinnerungen. Wie alt warst...«
»Fünfzehn, sechszehn. Können wir das Thema jetzt lassen?
Dein Flug geht heute Nachmittag, lass uns vorher etwas essen gehen.«
Später an dem Tag, nachdem sie gemeinsam zu Mittag gegessen hatten, fuhr Niko Kira zum Flughafen. Kira saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, sah aus dem Fenster und summte unentwegt eine Melodie.
»Ein Ohrwurm?«
»Ja, dieses ›Verdammt lang her‹ geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«
Niko schüttelte nur verständnislos den Kopf, widersprach aber nicht, als sie das Lied erneut auf ihrem Handy vorspielte.
»Solang es nicht das Einzige ist, was dir von deinem Wienurlaub in Erinnerung bleibt.«
»Nein, keine Sorge. Es war eine tolle Woche. Danke nochmal für die Ausflüge, Besichtigungen und die langen Nächte.«
»Von denen ich mich jetzt erst einmal erholen muss.«
Mit dem Versprechen, Kira, ihre Familie und Freunde demnächst in Kreta zu besuchen, verabschiedete sich Niko von ihr und fuhr wieder zurück nach Wien. Kiras Entdeckung der alten Schachtel hatte bei ihm Erinnerungen ausgelöst, über die er lange nicht mehr nachgedacht hatte.
Während er Bilder aus seiner Jugendzeit im Kopf hatte, begann er unwillkürlich zu summen. Erst nach einigen Minuten bemerkte Niko, dass Kira ihn angesteckt hatte.
»Verdammter Ohrwurm!«, fluchte er mit einem Lächeln im Gesicht.
Kiras Entdeckung ließ ihn nicht los. Am Abend, nachdem er alleine daheim sein Abendessen beendet hatte, setzte sich Niko mit einem Glas Whisky auf den Balkon und blickte in den Sternenhimmel. Über seine Kopfhörer ließ er ein Lied in Dauerschleife laufen, in der Hand hatte er das Fotoalbum mit Bildern aus seiner Schulzeit. Eines der Bilder wurde bei seinem Schulfest aufgenommen. Er blickte in die Kamera, im Arm ein etwa gleichgroßes Mädchen im selben Alter. Ihre langen roten Haare wehten zur Seite, beide lächelten verliebt und unbekümmert.
Rund um das Paar waren Getränkestände und Jugendliche mit ihren Eltern und Lehrern zu sehen.
Still every night I burn
Every night I scream your name
Every night I burn
Every night the dream's the same
Der Song ›Burn‹ von The Cure in seinen Ohren erinnerte ihn nicht nur an den Film ›The Crow - Die Krähe‹, sondern auch an die schönen Momente mit seiner damaligen Freundin.
»Auf dich, Julia. Wo immer du auch bist«, sagte er zu sich selbst und leerte ein Glas Whisky - ein schottischer Single Malt, den er schon in seiner Jugendzeit probiert hatte - in einem Zug.
Kapitel 1
Vergangenheitsbewältigung
Niko saß im Wartezimmer der Kanzlei seines besten Freundes Martin Leitner. Der Anwalt, für den er immer wieder diverse Botengänge übernahm und als Chauffeur zu Diensten war, hatte ihn für einen neuen Auftrag zu sich gebeten.
Wahrscheinlich wieder eine Fahrt quer durch Österreich, um bei einer Firma einen Vertrag auf Punkt und Komma zu kontrollieren.
Während er wartete, sah er auf seinem Handy die neuen Fotos durch, die Kira ihm geschickt hatte. Vor zwei Wochen war sie zurückgeflogen, nun erhielt Niko laufend Bilder von ihr und ihrem Freund Manos, sowie ihrem Bruder, der mit Martins Tochter dabei war, ein Haus zu bauen.
»Komm rein Niko«, holte ihn Martin aus seinen Gedanken.
Auf dem großen Arbeitstisch in Martins Büro stand eine geöffnete Flasche Whisky.
»Alkohol am Vormittag?«, wunderte sich Niko, der wusste, dass Martin höchstens ein Glas Wein oder Bier am Abend trank.
»Der ist für dich, ein schottischer Single Malt. Er soll einer der Besten sein.«
Niko stutzte.
Schottland, schon wieder. Ich hasse solche Zufälle, dachte er, während er das Etikett der Flasche las.
»Edradour, zwölf Jahre alt. Klingt und riecht nach einer teuren Sorte. Warum?«
»Weil ich einen besonderen, wenn auch ganz einfachen Auftrag für dich habe.«
In Nikos Kopf läuteten die Alarmglocken.
»Ganz einfach?«
»Ja, verbunden mit einem Ausflug und etwas Urlaub...«
»Stopp!«, unterbrach Niko energisch, »Wir wissen beide, was das letzte Mal passiert ist, als du mich auf Urlaub geschickt hast.«
Martin lächelte zustimmend.
»Ja, du hast auf meine Tochter aufgepasst und nebenbei eine alte Schatzkammer entdeckt. Aber dieser Urlaub geht nach Schottland.«
Schottland, ernsthaft?
»Du sollst nur eine Dame auf ihrem Privatflug nach Edinburgh begleiten und sie zum Schloss ihrer Familie bringen, mehr nicht.«
Niko schenkte sich etwas Whisky in das bereitstehende Glas.
»Etwas genauer bitte.«
»Ein Klient von mir hat mit einer Firma hier in Wien einen Vertrag abgeschlossen. Es geht um Triebwerke und Elektronik für ein Gezeitenkraftwerk im Norden Schottlands. Die Familie hat aber auch ihre Finger im Edelsteinhandel und da kommt seine Tochter ins Spiel.
Sie war auf Kundenbesuch in Wien und soll morgen mit dem Privatjet der Familie heimfliegen. Bei sich trägt sie einen Koffer mit einer Sammlung von Edelsteinen, die sie zur Präsentation mitgenommen hatte. Da dieser Koffer äußerst wertvoll ist, bittet mein Klient um Begleitschutz. Da habe ich an dich gedacht. Ich bin nächste Woche auf Urlaub, also gibt es nichts zu tun. Das wäre doch ideal. Einfach hinüberfliegen, ein kleiner Ausflug zu einem Schloss und dann ein paar Tage frei. Es wird ein Spaziergang für dich, inklusive etwas Urlaub. Was soll da schon schiefgehen?«
Niko leerte das Glas und verdrehte dabei die Augen.
»Diesen Satz hast du vor einem Jahr auch gesagt. Du weißt, was dann alles passiert ist.«
»Keine Sorge, dieses Mal wird es sicherlich ganz anders.«
Garantiert, dachte Niko skeptisch, ich habe ja auch überhaupt keinen Bezug zu Schottland.
Zwei Tage später fand sich Niko erneut auf dem Flughafen ein, dieses Mal vor der Abflughalle für Charter- und Privatflüge. Sein Plan war, die junge Frau zu ihrem Familienschloss zu fahren und danach mit dem Mietwagen die Insel zu erkunden. Martin hatte ihm eine Auszeit von mindestens zwei Wochen in Aussicht gestellt. Nachdem er herausgefunden hatte, dass es in Schottland erlaubt war, wild zu campen, hatte er seine Survivalausrüstung mitgenommen.
Neben einem Taschenmesser hatte er auch das Sgian dubh, das letzte Geschenk seiner damaligen Freundin eingesteckt.
Da er auf einem Privatflug nicht an die üblichen Sicherheitsbestimmungen gebunden war, konnte er alles im Rucksack verstauen. Kira hatte ihn an seine Jugendliebe erinnert, die möglicherweise immer noch in Schottland lebte.
Egal, Schottland ist ein großes Land. Ich werde sicherlich nicht wie ein Verrückter versuchen, sie ausfindig zu machen. Das ist über zwanzig Jahre her, die Wunden von damals sind inzwischen verheilt.
Martin hatte ihm ein Bild von der Dame mitgegeben, welches er herausnahm und erneut studierte.
Es zeigte die Frau an einem See, wobei der Hintergrund verschwommen war. Ihr grünes Shirt war nass und lag am schlanken Körper an. Er wusste, dass sie fünfundzwanzig Jahre alt war, wobei sie auf dem Bild jünger aussah. Ihre tiefblauen Augen fielen besonders auf, auch wegen ihrer sehr hellen Hautfarbe. Die Haare, die wellig über die Schultern reichten, waren blond gefärbt, den dunkelbraunen Haarnachwuchs konnte man auf dem Bild deutlich erkennen.
Du siehst ja süß aus. Aber ich habe mit so jungen Dingern nicht die besten Erfahrungen, dachte er und sah sich um. Es dauerte nur einige Minuten, bis vor ihm ein Taxi hielt und eine Frau mit einem kleinen, silbernen Koffer ausstieg.
»Alison MacHart?«
»Aye, that's me.« Niko bemerkte sofort den schottischen Dialekt. Er stellte sich vor und betrachtete sie dabei von Kopf bis Fuß.
Ich hatte Recht mit meiner Vermutung, stellte er fest, als er ihr Outfit sah. Sie trug einen maßgeschneiderten Hosenanzug, gestylt, als würde sie zu einem weiteren Termin mit ihren wertvollen Steinen erscheinen. Niko hatte vermutet, dass die Tochter reicher Eltern so erscheinen würde und sich in einen schwarzen Anzug gequält.
»Du bist also mein Aufpasser«, stellte Alison zu Nikos Überraschung auf Deutsch fest.
»Es war der Wunsch ihres Vaters, deshalb...«
»Naw!«, unterbrach sie ihn, wobei ihr Schottisches Nein wie ein lang gezogenes »Nah« klang.
»Keine übertriebenen Höflichkeitsfloskeln, sonst komme ich mir blöd vor. Ich heiße Alison und fertig.«
Vielleicht ist sie nicht ganz so überheblich, wie befürchtet.
»In Ordnung. Dein Vater hat darauf bestanden und ich führe den Auftrag seines Anwalts aus.«
Niko folgte der jungen Frau an einem unbesetzten Schalter vorbei ins Freie, wo bereits eine Limousine auf sie wartete.
Sie fuhren über das Rollfeld, vorbei an den Linienmaschinen.
Die blassblaue Maschine, auf die sie zusteuerten, wirkte im Vergleich zu den Passagierflugzeugen unscheinbar, wobei sie von außen mehrere Räume erahnen ließ.
Auch das Innere war alles andere als eng. Ledermöbel, breite Sitze, Holzvertäfelungen, der Boden mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt. Niko sah sich um und versuchte dabei, sich sein Staunen nicht anmerken zu lassen. Seine Vermutung mit den Räumen traf ebenfalls zu. Vom großzügigen Raum, in dem er sich nach dem Einsteigen befand, führte ein Gang zu den Räumlichkeiten der Crew und der Pilotenkanzel. Das andere Ende des Raumes hatte zwei Türen, die verschlossen waren.
»Nimm Platz, mach es dir bequem. Wir starten in zehn Minuten«, meinte Alison und warf ihre Reisetasche auf einen der Sitze.
Nikos Blick auf den silbernen Koffer quittierte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Willst du sehen, wieso mein Vater sich Sorgen um den Inhalt macht?«
»Es sollten Edelsteine darin sein.«
Alison winkte Niko zu sich an einen Tisch und deutete ihm Platz zu nehmen. Nachdem sie die Kombination am Zahlenschloss eingegeben hatte, drehte sie den Koffer zu Niko und öffnete den Deckel.
Nikos Augen wurden groß, als er den Inhalt sah. Vor ihm leuchteten unterschiedliche Edelsteine in verschiedensten Farben, sorgfältig in weichen, schwarzen Samt eingebettet.
Sie waren in Formen geschliffen, von kugelrund, oval, quadratisch bis zur Form eines Tropfen. Außerdem lag ein unbearbeitetes Goldnugget im Koffer, welches mindestens fünf Zentimeter lang und bis zu zwei Zentimeter breit war.
Daneben glänzte eine Silberplatte in Form eine Scheckkarte, die knapp einen Zentimeter dick war.
Ich habe wenig Ahnung von den Steinen, aber alleine das Gold und Silber sind schon eine ordentliche Summe wert, staunte Niko.
»Meine Familie ist seit Jahrhunderten im Abbau und Handel von Edelmetallen und Edelsteinen tätig. Gold gibt es in Schottland nicht sehr viel, bei Silber sieht es noch schlechter aus. Aber Edelsteine wie diese hier kann man auch heutzutage noch in Schottland finden. Wir handeln auch mit den bekannten Edelsteinen wie Diamanten, Rubinen und so weiter. Aber diese hier sind schottischen Ursprungs.«
Zuerst zeigte sie ihm zwei zu Kugeln geschliffene violette Edelsteine.
»Diese Edelsteine kennst du vielleicht. Amethysten findet man in Europa relativ häufig. Selbst in Österreich gibt es eine besonders große Ader.«
Sie deutete auf einen dunkelblauen Stein in ovaler Form und erklärte Niko, dass es sich um einen Azurit handelte.
»Dem Azurit wird nachgesagt, er soll die Konzentrationsfähigkeit und die geistige Aufnahmebereitschaft fördern. Er gilt als Stein der Erkenntnis und des geistigen Wachstums.«
Als Nächstes hob sie einen ovalen, grün glänzenden Edelstein heraus. Er war perfekt geschliffen, die unzähligen kleinen Flächen spiegelten das Licht und gaben ihm den Anschein, zu leuchten.
»Ein Demantoid, ursprünglich aus Russland. Der berühmte Juwelier Peter Carl Fabergé hat diese Steine gerne für seine weltbekannten Fabergé-Eier benutzt.«
Fabergé-Eier? Dann sind diese Edelsteine sicherlich ebenfalls ziemlich teuer. Der Wert dieses Koffers steigt und steigt.
»Besonders schön finde ich diese zwei Steine.« Sie nahm zwei gelbliche Edelsteine hervor und reichte einen Niko. Beide hatten die Form eines Quadrats mit abgerundeten Ecken, die Unterseite lief zu einer abgerundeten Spitze zusammen.
»Dieser Citrin wurde mit achtundfünfzig Facetten geschliffen, was eine hohe Lichtstreuung bietet und das Gelb deutlich zur Geltung bringt. Diese außergewöhnlich dunklen Edelsteine haben zwanzig Karat, der Wert liegt bei ungefähr dreihundert Euro.«
»Und dein Job ist was genau?«, warf Niko ein.
»Ich suche Abnehmer, Juweliere, die selbst Schmuckstücke herstellen und manchmal auch Großhändler auf. Es klingt nicht sehr interessant, aber ich komme viel in Europa herum.«
Vielleicht sollte ich ihr meine kleine Edelsteinsammlung daheim zeigen.
Wobei, von meinem kleinem Depot an Diamanten weiß niemand und das soll auch so bleiben.
»Warum sprichst du so gut Deutsch?«
»Ich habe nach der Schule in Wien studiert.«
Die Kabinentür wurde geschlossen und Niko nahm Platz.
Alison setzte sich ihm gegenüber.
»Mein Vater hat darauf bestanden, also habe ich meinen persönlichen Bodyguard für den Trip nach Schottland. Mach es dir gemütlich.«
Hatte die Erwähnung von Schottland schon Erinnerungen wachgerufen, sorgte die Aussage der jungen Frau für sehr detaillierte Bilder in Nikos Kopf.
Er machte es sich in dem breiten, lederbezogenen Sitz bequem und schloss die Augen. Seine Musikbibliothek hatte Niko vor der Abreise auf den neuesten Stand gebracht, weshalb sich viele Songs auf dem Handy befanden, die ihn an seine Vergangenheit erinnerten. Während Carl Peyer die erste Strophe von ›Romeo und Julia‹ sang, reiste er gedanklich zurück in seine Schulzeit.
Genauer in den kalten Jänner des Jahres 1993.
Es is scho so lang, es is scho so lang her,
mia woan no Kinder oda doch scho mehr,
so verliebt, dass des nur amoi gibt
Des erste grosse Wunder, so spannend und so nei,
voller Angst und voller Hoffnung, so gfangen und so frei, mia woan jung, unbesiegboa jung
Jänner 1993
Es war der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Niko stapfte durch den zentimeterhohen Schnee über den Schulhof zu der Gruppe Jugendlicher, die vor dem Tor ins Gebäude standen. Seine Schulkameraden waren gerade dabei, über ihre Ferienerlebnisse zu erzählen. Nikos Schilderung fiel kurz und unspektakulär aus.
»Wir sind in Wien geblieben. Keiner von uns fährt Schi und ich bin sowieso mehr der Sommertyp.«
Während er sich Geschichten von Tiefschneefahrten in Tirol und Aprés-Ski Diskotheken anhörte, schweifte sein Blick immer wieder über die eintreffenden Schüler. Da er nach einem bestimmten Mädchen Ausschau hielt, fiel ihm nicht auf, wie jemand näher kam und ihn unsanft rempelte.
»Na, hast du schöne Ferien gehabt, daheim?« Die herablassende Stimme gehörte zu Mathias, mit dem Niko schon immer seine Probleme hatte. Wenn es nach den Gerüchten in der Schule ging, störte es den Sohn einer bekannten Politikerfamilie, dass sich Niko mit einem Mädchen so gut verstand, welches er selbst näher kennenlernen wollte.
»Ich brauche keine großen Reisen, um schöne Ferien zu haben. Zieh ab!«, fauchte Niko ihn an. Beim Eingang zum Schulareal konnte er endlich eine bekannte Gestalt entdecken. Dick eingehüllt in eine weiße Daunenjacke kam das großgewachsene Mädchen auf ihn zu. Als sie ihre Kapuze abnahm, kamen ihre rotbraunen Haare zum Vorschein. Die dichten Locken fielen umso mehr auf, da sie einen sehr blassen Teint hatte. Neben ihren Haaren fiel ihr breiter Mund auf, mit auffällig roten Lippen. Diese Lippen warfen beim Näherkommen der Gruppe ein Lächeln zu.
»Hallo, Julia!«, begrüßte Niko die junge Frau und kam ihr entgegen.
Einige aus der Gruppe grinsten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Niko über beide Ohren in das Mädchen verknallt war. Obwohl auch einige ihrer Freundinnen Andeutungen gemacht hatten, dass Julia ihn sehr gern hatte, waren beide zu schüchtern und wollten ihre Freundschaft nicht riskieren.
Julia umarmte Niko und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wangen. Niko durchfuhr ein wohliger Schauer, als er ihre Lippen spürte. Gleichzeitig war er bemüht, sich vor seinen Freunden nichts anmerken zu lassen. Rot wurde er trotzdem.
»Ich habe dir so viel zu erzählen. Die Woche in der Schweiz war traumhaft. So viel Schnee, das Essen, jeden Tag Schifahren. Am liebsten wäre ich dort geblieben.«
Sie winkte in die Runde.
»Aber ganz ehrlich, diesen Haufen hier würde ich schon sehr vermissen.«
Julia legte den Arm um Niko und zog ihn zu sich.
»Besonders dich, Niko.«
Er spürte, wie sein Gesicht glühte, wollte etwas antworten, doch ihm fiel nichts Intelligentes ein.
Zwei Schulstunden später waren die Weihnachtsferien schon wieder vergessen. Die gesamte Gruppe war in der Pause im Freien versammelt.
»Ich würde gern in den neuen Film mit Kevin Costner, Bodyguard«, meinte Julia, erntete aber nur ablehnende Blicke.
»Herz, Schmerz, Bussi, Bussi. Nein danke, das ist mir zu langweilig.«
»Das ist doch nur so eine Liebesschnulze.«
»Ja, aber mit Kevin Coster!« Julia wandte sich an Niko.
»Hättest du vielleicht Lust? Ich weiß, es ist nicht ganz dein...«
»Ja gerne, warum nicht?«, antwortete er sofort.
»Dann haben wir heute Abend ein Date.«
Niko versuchte ruhig und gelassen zu wirken. Aber innerlich stieg seine Nervosität, sein Bauch zog sich zusammen. Ein echtes Date mit seiner großen Flamme, endlich einmal nur zu zweit. Das konnte nur ein schöner Abend werden.
»Und was ist mit unserem Spieleabend?«, warf Daniel ein. Er wohnte im gegenüberliegenden Haus von Niko, zusammen verbrachten sie viele Nachmittage vor ihren Amiga Computern.
Da Daniel kein großes Interesse an Mädchen zeigte, verstand er nicht, wieso ihn die Freunde schmunzelnd angrinsten.
»Ich glaube, Niko zieht den Abend mit unserem Rotschopf dem Fertigspielen von Indiana Jones vor.«
Julia klopfte Daniel auf die Schulter.
»Ihr Jungs und eure Spielsachen. Indiana Jones and the Fate of Atlantis? Soll ich dir verraten, wie es ausgeht?«
»Du hast es nicht...«
»Doch, ich habe das Rätsel um Atlantis gelöst. Soll ich dir eine kurze Zusammenfassung geben, wie ich es geschafft habe?«
»Nein!«, antwortete Daniel trotzig, »Ich will es selbst schaffen.«
Mit einem schelmischen Grinsen drückte sie den verdutzen Daniel an sich.
»Nichts gegen Indy, aber das beste Spiel ist immer noch Monkey Island, egal ob 1 oder 2. Es war aber auch leicht zum Durchspielen.«
Daniel sah sie überrascht an.
»Jetzt übertreibst du aber.«
Niko hatte miterlebt, wie sich Daniel mit seiner Hilfe nächtelang an dem Adventure-Game die Zähne ausgebissen hatte. Er war auch dabei gewesen, als sie zusammen den zweiten Teil beendet hatten. Den folgenden Tag war Daniel der Held in der Klasse, verriet aber nicht, wie die Geschichte um den Piraten Guybrush ausging.
Julia strich ihre nassen Haare zurück und baute sich vor Daniel auf.
»Brauchst du einen Beweis?«
Daniel blickte sie unsicher an, wurde nervös, als sich die junge Frau zu seinem Ohr beugte und ihm etwas zuflüsterte.
Niko konnte an ihren Lippen ablesen, was sie Daniel verriet.
»LeChuck ist sein Bruder.«
»Okay, okay. Ich glaube dir«, stotterte Daniel, dem die Nähe zu einer Frau nervös machte.
Der restliche Schultag konnte gar nicht schnell genug vorübergehen. Nachdem sie Zeit und Treffpunkt für den Abend ausgemacht hatten, sprintete Niko heim. Seine Aufregung konnte er nur schwer verstecken, so musste er sich den ganzen Nachmittag doppeldeutige Meldungen von seinem Bruder anhören. Stefanos, der ein Jahr älter war, deckte ihn mit wenig hilfreichen Tipps zu, die ihn alle nicht interessierten. Für ihn war nur wichtig, Zeit alleine mit Julia zu verbringen.
Obwohl sie sich für 19 Uhr verabredet hatten, stand Niko schon eine halbe Stunde früher vor dem »Kolosseum«, einem der bekanntesten Kinos in Wien. Nervös stapfte er durch den Schnee, wischte sich immer wieder die Flocken aus den kurzen Haaren. Der dichte Schneefall ließ ihn hoffen, dass er nach dem Film, der ihn nicht wirklich interessierte, Julia noch heimbegleiten konnte und somit einen romantischen Spaziergang im Schnee vor sich hatte. Andererseits hatte er aber auch die Befürchtung, dass sie ihren Kinobesuch nur als Treffen zwischen zwei guten Freunden sah.
Julia kam ohne Kopfbedeckung und war somit leicht zu erkennen. Mit einem breiten Lächeln kam sie auf ihn zu, ihre roten Haare leuchteten und glänzten unter der Straßenlaterne. Niko kam ihr entgegen, während er überlegte, wie sie reagieren würde, wenn er sie nicht wie sonst nur freundschaftlich begrüßen würde. Doch als sie direkt vor ihm stand waren diese Gedanken verflogen. Er umarmte sie kurz, küsste sie auf die Wange und schon waren sie auf dem Weg ins Innere des Kinos.
Der Film war für Niko nur Nebensache. Er wünschte sich, dass der Film ähnlich lang wie Kevin Costners bekanntester Film »Der mit dem Wolf tanzt« dauern würde. Er genoss die Nähe, traute sich aber vorerst nicht, etwas zu unternehmen.
Fünf Minuten nachdem der Film begonnen hatte, spürte Niko, wie Julias Hand auf seiner lag. So sehr er es auch versuchte, er konnte seine Nervosität nicht verbergen.
Zaghaft drehte er seine Handfläche und hielt ihre Hand fest.
»Es ist schön, endlich alleine mit dir zu sein«, flüsterte Julia.
Niko brachte keinen Ton heraus, drückte ihre Hand etwas fester und ließ sie nicht mehr los.
Zur Hälfte des Films war sie dicht an ihn gekuschelt, sein Arm lag um ihre Schulter und ihr Kopf lehnte an seinem.
Als es im Finale des Films richtig romantisch wurde, drehte er seinen Kopf zu ihr. Scheinbar schien Julia darauf gewartet zu haben, denn sie drehte sich ebenfalls zu ihm. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm Niko seinen Mut zusammen und küsste seine Angebetete. Darauf hatte Julia nur gewartet, die seinen Kuss zuerst zögernd, doch dann stürmisch erwiderte.
Beide bekamen nicht mit, wie der Film endete, da sie sich von ihrem ersten Kuss nicht lösen wollten. Erst als es im Saal heller wurde, erhob sich Julia und sah ihn mit strahlendem Lächeln an.
Bis sie wieder im Freien waren, gingen sie wortlos, händehaltend nebeneinander.
»Dir ist klar, dass ich schon lange in dich verschossen bin?«
Julia sprach leise, auch für sie war die Situation vollkommen neu.
»Mir geht es ganz genauso. Aber ich habe mich nie getraut...«
»Ich möchte nur... Wir verstehen uns so gut. Nicht, dass es jetzt vielleicht...«
Niko blieb stehen und zog sie zu sich.
»Dieselben Sorgen hatte ich auch.«
So entschieden sie sich, alles für sich zu behalten, solange es ging. Wobei beide denselben Gedanken hatten: In wenigen Tagen würde es sowieso jeder mitbekommen, dazu waren sie beide zu verliebt ineinander.
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Niko wachte aus seinem Traum auf und