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Die Klasse von 77: Ein Punkrock-Roman
Die Klasse von 77: Ein Punkrock-Roman
Die Klasse von 77: Ein Punkrock-Roman
eBook331 Seiten4 Stunden

Die Klasse von 77: Ein Punkrock-Roman

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Über dieses E-Book

Wir schreiben das Jahr 1977. In einem verschlafenen Nest irgendwo in der Provinz geht das Leben seinen gewohnten, langweiligen Gang. Das ändert sich, als das erste Album der Ramones den Weg ins Kinderzimmer unseres neunjährigen Helden findet. Von nun an ist nichts mehr so, wie es war. Die neue Musik aus New York wirkt wie ein Weckruf, ein Signal zum Aufbruch aus der Provinz. Zusammen mit seinem besten Freund Ralphie und dem Schulschwänzer Krusti gründet er seine eigene Band, und die drei Jungs treten an, um der Welt zu zeigen, dass auch Viertklässler Punkrock spielen können. Aber die Hürden, die sie nehmen müssen, sind hoch: Woher bekommen sie Instrumente? Wie schreibt man griffige Punktexte? Wo findet sich ein geeigneter Proberaum? Und vor allem: Wie verhindert man, dass Eltern und Lehrer sich einmischen und alles kaputtmachen?

Im Jahr 2016 feiert Punk seinen vierzigsten Geburtstag. Diese Geschichte führt uns zurück in die Zeit, als er noch in den Kinderschuhen steckte, und das im wahrsten Sinn des Wortes. Man stelle sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn als Dorfpunks vor. »Die Klasse von 77« ist eine schillernde Pop-Satire, ein Coming-of-Age-Roman der etwas anderen Art, urkomisch, laut und schnell. Wie Punkrock eben.

Auf seinem Weg zum Punk-Olymp bekommt das eigensinnige Trio es unter anderem mit einem merkwürdigen Krautrock-Kaplan zu tun, einem geschäftstüchtigen Hausmeister und den neugierigen Mädchen vom Enid-Blyton-Club. Am Ende treffen sie sogar auf eine vergessene Hippie-Kommune. Und immer steht die Frage im Raum: Wird irgendwann eine Plattenfirma aus London anklopfen und die Band unter Vertrag nehmen? Wird sich der Traum von der internationalen Karriere erfüllen?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Sept. 2016
ISBN9783945715499
Die Klasse von 77: Ein Punkrock-Roman

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    Buchvorschau

    Die Klasse von 77 - Francis Kirps

    Inhaltsverzeichnis

    Die Klasse von 77

    Teil Eins

    Nikolaustag

    Ramonesmania

    Probleme

    Das Meeting

    Enter Krusti

    Das Gothic-Punk-Missverständnis

    Konzepte, Schmonzepte

    Die hohe Schule des Rock ’n’ Roll

    In der Gartenlaube

    Die Wasserpistolen

    Der Kraken im Ziggurat

    Der große Modelleisenbahnraub

    Anarchie

    Gitarren-Gambit mit Kaplan Müller

    Punkrock im Pfarrheim

    Das Gollum-Lied

    Es geht voran

    Pläne

    Gummibärchen weinen nicht

    Die Jagd nach dem Silbernen Riesen-Alk

    Der Club

    Teil Zwei

    Der Geburtstags-Gig

    Die Roten Zoras

    Die Bananenplatte und die Folgen

    Pankration

    Die Arschbomben

    Doktor Martens vs. Mister Chuck

    Klebstoff

    Der große IQ-Test

    Großstadtlichter

    El Paradiso

    Wissenswertes über Innsborn

    Buddy Hollys Brille

    Das Mädchen mit den grünen Haaren

    Bootsmann Bottervogel

    Na und?

    Über den Autor

    Die Klasse von 77

    Ein Punkrock-Roman von Francis Kirps

    Verlag Andreas Reiffer

    Edition The Punchliner

    Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen

    Lektorat: Lektorat-Lupenrein.de und Anselm Neft

    1. Auflage, 2016, Originalausgabe, identisch mit der Printversion

    (c) Verlag Andreas Reiffer, 2016

    ISBN 978-3-945715-49-9

    Verlag Andreas Reiffer, Haupstr. 16 b, 38527 Meine

    www.verlag-reiffer.de

    www.facebook.com/verlagreiffer

    They did not know it was impossible, so they did it.

    Mark Twain 

    Teil Eins

    Nikolaustag

    Tack. Tock. Tack.

    Das war kein Traum. Irgendjemand klopfte an mein Zimmerfenster. Der Nikolaus?

    Langsam wurde ich wach. Nein, der Nikolaus konnte es nicht sein, an den glaubte ich ja nicht mehr. Ich setzte mich im Bett auf. Hatte mein Vater wieder die Fenster verwechselt? Oder war er vom Dach gerutscht und baumelte jetzt an der Regenrinne, dabei mit den Stiefeln gegen meine Fensterscheibe stoßend? Dass er in seinem Alter noch den Nikolaus spielte, fand ich mehr als albern. Er war jetzt über dreißig, da begann der Muskelabbau und die Reflexe waren auch nicht mehr die eines jungen Hüpfers. Wegen mir hätte er es nicht machen müssen. Auf welchem Weg die Geschenke mich erreichten, war mir herzlich egal. Hauptsache sie kamen an. Hoffentlich war dem Playmobilpiratenschiff nichts passiert. Aber die Dinger waren echt robust. Hochseetüchtig, wenn man dem Hersteller Glauben schenken wollte. Ich knipste die Nachttischlampe an. Normalerweise schlich mein Vater sich auf den Dachboden, wo die Geschenke versteckt waren, stieg dann zur Dachluke raus und seilte sich in Nikolauskluft samt Geschenkesack zum Wohnzimmerfenster im ersten Stock ab. Ich sah auf meinen Radiowecker: 23:32. Das war zu früh. Vor vier Uhr morgens wurde er nie aktiv, da war das Risiko zu groß, dass ich noch wach war und ihm auflauerte, um ihn zu enttarnen. Er kannte meine Abläufe fast so gut, wie ich die seinen.

    Wieder Klopfen ans Fenster, dringlicher diesmal. Ich stand auf und ging nachsehen. Unten in unserem Garten stand eine hagere Gestalt im strömenden Regen und bewarf mein Fenster mit Steinchen. Wie in einem schlechten Kinderbuch. Gähn.

    Ralphie, mein bester Freund, konnte es nicht sein, der hatte einen Zweitschlüssel. Und selbst wenn er den Schlüssel verloren hätte: Auf so etwas Abgeschmacktes, wie Kieselsteinchen gegen mein Fenster schmeißen, wäre er nie verfallen. Er hätte einfach geklingelt. Ralphie war einer, der nicht lang fackelte.

    Ich stellte Heinz-Rudolf III., meine Venusfliegenfalle, vom Fenstersims auf den Boden und öffnete das Fenster. Die Gestalt fuchtelte mit den Armen, sie schien einen Buckel zu haben, aber ich konnte alles nur verschwommen erkennen. Vielleicht sollte ich besser meine Brille aufsetzen. Ich ging zurück zum Nachttisch und nahm auch gleich die Stabtaschenlampe aus der Schublade. Wenn schon Kinderbuchklischees, dann richtig.

    Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannte ich, wer es war: Da zappelte mein Cousin Iggy und machte mir Zeichen, die ich nicht deuten konnte. Der Buckel entpuppte sich als Seesack, den er um die Schulter hängen hatte.

    »Hallo, alter Knabe«, sagte ich, »so spät noch unterwegs?«

    Cousin Iggy legte einen Finger auf den Mund und zeigte auf einen Punkt genau unter meinem Fenster. Ah, die Eingangstür. Dann wollte er wohl reinkommen. Um diese Uhrzeit. Wie ungewöhnlich.

    Ich lief nach unten und öffnete lautlos die Tür. Iggy schlüpfte herein. Er war tropfnass und noch dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Cousin Iggy war schon vierzehn und der einzige meiner Cousins, zu dem ich einen Draht hatte. Ein blitzgescheiter Kopf.

    »Wenn du dich vorher angemeldet hättest, dann hätte ich mich gerichtet und meiner Mutter aufgetragen, dir etwas zu kochen«, begrüßte ich ihn vorwurfsvoll.

    »Schon in Ordnung, Kleiner«, flüsterte Cousin Iggy und wuschelte mir durchs Haar.

    »Begib dich schon mal in meine Gemächer. Ich komme dann gleich nach«, sagte ich und deutete auf die Treppe ins erste Stockwerk. Cousin Iggy huschte treppauf. Ich ging in die Küche, nahm eine Flasche Limo und eine Tafel Schokolade aus dem Kühlschrank und eilte auf Zehenspitzen in mein Kinderzimmer. Gäste musste man fürstlich bewirten, egal zu welcher Stunde sie hereinschneiten.

    Cousin Iggy saß im Schneidersitz auf dem Boden und rubbelte sich das nasse blonde Haar mit einem T-Shirt trocken. Regenbahnen liefen über seine schwarze Lederjacke und bildeten kleine Pfützen auf dem Boden. Seine Jeans hatten Löcher an den Knien. Im Lichtstrahl der Stabtaschenlampe wirkte sein Gesicht sehr blass.

    »Mach das Ding aus«, sagte er und schirmte seine Augen mit der Hand ab. Ich legte meine Taschenlampe in die Nachttischschublade, dann schloss ich das Fenster und stellte Heinz-Rudolf III. wieder zurück an seinen Platz. Ich drehte die Heizung unter dem Fenstersims ein wenig auf. Heinz-Rudolf III. verkühlte sich immer so leicht. Und Cousin Iggy sah auch aus, als könnte er ein bisschen Wärme vertragen.

    Ich ließ mich auf das Bett fallen, dass die Federn krachten: »Was liegt an, werter Gevatter, dass du mich zu dieser unchristlichen Uhrzeit überfällst?«, fragte ich Cousin Iggy. Der grinste: »Hast du immer noch nicht gelernt, normal zu reden? Aber im Ernst: Ich stecke in Schwierigkeiten.«

    In Schwierigkeiten, wie aufregend. Charles Dickens ick hör dir trapsen. Ich beugte mich nach vorn und blickte Cousin Iggy in die Augen: »Ich bin dein Mann. Schwierige Fälle sind mein Spezialgebiet.«

    »Kann ich heute Nacht hier bleiben? Ich bin aus dem Internat weggelaufen. Hab’s nicht mehr ausgehalten, bei den Pfaffen.«

    Aus. Dem. Internat. Weggelaufen. Wie konnte er nur? Ich hatte mein ganzen Leben lang davon geträumt, in einem Internat zu sein, wild und frei, auf Du und Du mit Burggespenstern, rätselhafte Fälle lösend.

    »Bei den Jungs aus meiner Gang werden sie nach mir suchen. Hier wird mich niemand vermuten.«

    Ich betrachtete Cousin Iggy ein wenig genauer. Unter dem rechten Auge war ein Bluterguss und seine Lippe war aufgeplatzt, am Mundwinkel klebte getrocknetes Blut. Als er meinen Blick bemerkte, betastete er die Stelle.

    »Klar kannst du hierbleiben. Was ist denn passiert?«, fragte ich.

    »Das willst du nicht wissen«, sagte Cousin Iggy und biss ein großes Stück von der Schokoladentafel ab. Er öffnete den Seesack und holte einen Schlafsack heraus. »Ich könnte auf dem Dachboden …«

    »Dachboden ist nicht sicher«, unterbrach ich ihn »Mein Vater spielt Nikolaus.«

    »Ach, du Scheiße, das hab ich ganz vergessen.«

    Den Nikolaustag vergessen. In was für einer Welt lebte der Mann?

    »Dann schlaf ich einfach hier auf dem Boden.« Cousin Iggy schaufelte Comichefte, Ritterfigürchen, Bücher, Spielzeugpanzer und versteinerte Trilobiten beiseite, rollte den Schlafsack aus und streckte sich darauf aus. »Ist nur für diese eine Nacht«, sagte er. »Morgen früh zieh ich weiter. Ich geh nach London.«

    »Nach London«, hauchte ich ehrfürchtig. »Kann ich mit? Mein Englisch ist für einen Neunjährigen ganz passabel.«

    »Und was wird dann aus ihm?« Cousin Iggy deutete auf Heinz-Rudolf III.

    Da hatte er nicht unrecht. Meine Mutter fürchtete sich vor der Pflanze und wagte sich nicht in ihre Nähe. Seit ich angefangen hatte, Heinz Rudolf III. mit Fischstäbchen und Rahmspinat zu füttern, war er ganz schön gewachsen.

    »Wenn ich erstmal in London bin, kannst du ja nachkommen«, sagte Iggy.

    »Kennst du denn Leute da?«

    »Ich hab Adressen. Freunde von Freunden. Ich komm’ schon unter, keine Sorge.«

    »Brauchst du Geld?« Ich deutete auf mein Sparschwein.

    Cousin Iggy zog ein dickes Bündel Geldscheine aus der Jackentasche und wedelte damit vor meinem Gesicht herum.

    »Wow, wo hast du die denn her?«

    »Frag lieber nicht.« Iggy stecke das Geld wieder ein. »Bis London wird’s reichen. Und da such ich mir dann Arbeit.«

    Uh, Arbeit. Das klang aber gar nicht gut.

    »Keine Angst, nur vorübergehend«, sagte Iggy. »Wenn ich genug Geld zusammen hab, kauf’ ich mir ’ne Gitarre und gründe eine Punkband. Hast du schon von Punk gehört?«

    Ich schüttelte den Kopf. Iggy grub eine Musikkassette aus seinem Seesack und reichte sie mir. »Das ist Punk. Kannste behalten. Als kleines Dankeschön.«

    »Ramones«, las ich auf dem Deckblatt. Ich verstaute die Kassette unter meinem Kopfkissen. Cousin Iggy schlüpfte in den Schlafsack und gähnte. Der wollte doch nicht etwa schlafen? Die Nacht hatte gerade erst begonnen.

    »Was sollen wir spielen?«, fragte ich.

    »Bin zu müde zum Spielen.«

    »Ich bin aber gar nicht müde«, entgegnete ich.

    »Dann lies mir doch was vor. Aber nicht zu laut.«

    Ich nahm das Buch über dem ich eingeschlafen war: »Die Schatzinsel.«

    »Ist leider nur die deutsche Übersetzung«, sagte ich entschuldigend.

    »Macht nix«, murmelte Iggy schlaftrunken, »wenn ich erstmal in London bin, besorg ich dir das Original.«

    Als ich mit vor Aufregung bebender Stimme die krasse Stelle vorlas, wo Long John Silver die Meuterei lostritt, bemerkte ich, dass Cousin Iggy eingeschlafen war. Der Junge musste Nerven wie Drahtseile haben. Ich schaltete das Licht aus. Den Wecker zu stellen war nicht nötig, das Aufwecken würde mein Vater erledigen.

    Das Klirren von Glas riss mich aus dem Schlaf. Hatte er also vergessen, das Wohnzimmerfenster offen zu lassen. Oder meine Mutter hatte es nach ihm wieder geschlossen, wegen der gefährlichen Zugluft.

    Cousin Iggy war schon auf und packte seine Sachen. Das hier war ein guter Moment, um unbemerkt zu entkommen. Mein Vater kehrte die Scherben unter den Schrank und baute die Geschenke im Wohnzimmer auf, meine Mutter musste sich schlafend stellen.

    »Wir sehen uns«, sagte Iggy und drückte mich kurz.

    »Danke für die Musik«, sagte ich.

    Cousin Iggy öffnete das Fenster, warf seinen Seesack runter und sprang hinterher. Hui. Das waren mindestens drei Meter. Musste ich auch mal versuchen. Er schulterte den Seesack, winkte mir noch einmal zu, dann lief er die Straße hinunter und verschwand um eine Ecke.

    Ramonesmania

    »Und, wie war Nikolaus bei euch? Hat sich dein Vater nicht allzu schwer verletzt?«, fragte Ralphie auf dem Weg zur Schule.

    »Bloß ein paar Schnittwunden«, sagte ich. »Die Fensterscheibe muss natürlich ersetzt werden. Wie jedes Jahr.«

    Ralphie machte sich immer solche Sorgen um meinen Vater. Vielleicht weil er selbst keinen zuhause hatte. Sein Vater hatte die Familie auf Nimmerwiedersehen verlassen, als Ralphie noch sehr klein war. Das nahm unsere ganze Ortschaft seiner Mutter bis heute übel. Was genau passiert war, wusste ich nicht. Ralphie redete nie darüber, und dem Geschwätz der Erwachsenen konnte man ja nicht trauen. Nichts brachte Ralphie schneller zum Ausrasten, als wenn man etwas gegen seine Mutter sagte. Außer wenn man ihn Dumbo nannte, das vertrug er noch weniger.

    »Das Playmobilpiratenschiff ist heil geblieben«, wechselte ich das Thema. »Die Cruiser-Mk II-Panzer und das Kings Rifle Corps haben den Transport ebenfalls überlebt. Und was hast du bekommen?«

    »Na, Hauptsache, deinem Vater geht’s gut«, sagte Ralphie. »Bei mir lief alles nach Wunsch: Das Kradschützen-Bataillon 20 und zwei Panzerjäger.«

    Dann waren die Truppen für den Afrikafeldzug gut aufgestellt. Ralphie und ich waren mit unserem ambitionierten Projekt, nämlich alle großen Schlachten aus Opas Buch »Die großen Schlachten der Weltgeschichte« nachzuspielen, mittlerweile beim Wüstenkrieg 1942 angekommen. Heute Nachmittag würde »Operation Crusader« beginnen. Das Los hatte bestimmt, dass Ralphie den Wüstenfuchs Rommel spielen durfte, während ich die Verteidigung von Tobruk organisierte.

    Aber erstmal musste der heutige Schultag überstanden werden, der eine Parade von Nikoläusen jeder Form und Größe versprach. Wir bogen durchs Schultor, wo uns mit Hausmeister Martens der erste Nikolaus des Tages erwartete. Eigentlich sollten Hausmeister Martens und der junge Kaplan Müller als das bipolare Tandem Nikolaus/Knecht Ruprecht auftreten. Sie hatten sich jedoch im Vorfeld des Auftritts zerstritten, da keiner von ihnen den Ruprecht spielen wollte. Nun waren beide Nikoläuse. Damit sie sich nicht über den Weg liefen, war der Hausmeister auf acht Uhr programmiert, der Kaplan kam nach der großen Pause um Zehn. So hatte unsere Klassenlehrerin, Frau Rousseau, die letztes Jahr erfolglos versucht hatte, den Knecht-Ruprecht-Auftritt zu verhindern, weil er unsere weichen verletzlichen Kinderseelen traumatisierte, am Ende doch noch gewonnen.

    Hausmeister Martens hatte allerdings auch als Nikolaus Ruten dabei, sie waren aber nicht als Strafe für unartige Kinder gedacht, sondern Geschenke und sollten der Selbstverteidigung dienen.

    Für neun Uhr hatte Frau Rousseau einen Typen von der Uni bestellt, der uns, natürlich in historischer Verkleidung, einen Vortrag über den Mithras-Kult und die heidnischen Ursprünge des Nikolausbrauchs hielt. Das war ein erfrischendes Kontrastprogramm zu Kaplan Müllers Gig, der seine Wandergitarre mitbrachte und Joan-Baez- und John-Denver-Lieder für uns sang. Um elf fuhr ein Lastwagen der Supermarkt-Kette Kaktus vor, auf dessen Ladefläche vier Nikoläuse herumtorkelten, die uns mit abgelaufenen Süßigkeiten und überreifem Obst bewarfen. Frau Rousseau hatte uns in der Klasse halten wollen, da sie gegen diesen Kommerz war, aber eine schnell durchgeführte Volksabstimmung hatte es anders entschieden. Im Gegensatz zu den meisten Lehrkräften an unserer Schule war Frau Rousseau Basis-Demokratin.

    Dann war da noch der alte Schulmeister Schank, seit zwanzig Jahren pensioniert, der es sich aber nicht nehmen ließ, jedes Jahr den Nikolaus zu spielen. Da er ein bisschen gaga war, vertat er sich allerdings oft im Datum. Letztes Jahr war er zu Allerheiligen als Nikolaus über den Friedhof gegeistert und hatte damit die schöne Tradition des Verkleidens an Halloween begründet. Dieses Jahr hatte schon keiner mehr mit ihm gerechnet, bis sich kurz vor zwölf die Nachricht verbreitete, dass ein Osterhase auf dem Schulgelände gesichtet worden sei.

    Schwerbeladen mit sauren Äpfeln, Lebkuchen, Mandarinen, Nüssen und Ostereiern schleppten wir uns in der Mittagsstunde nach Hause.

    Als ich eintrat legte meine Mutter gerade den Telefonhörer auf die Gabel. Mein unnützer Cousin Yves-Guillaume sei aus dem Internat weggelaufen, erzählte sie mit stockender Stimme, was für eine furchtbare Tragödie. Die armen, armen Eltern.

    Von wegen arm, dachte ich. Soweit ich wusste, waren Cousin Iggys Eltern schwerreich. Ins Internat hatten sie ihn gegeben, weil er letztes Schuljahr so schlecht abgeschnitten hatte. In Latein und Mathe hatte er nur eine Zwei gehabt.

    »Alles halb so wild«, brummte mein Vater. »Der kommt schon wieder.«

    Da war ich mir aber nicht so sicher.

    »Ich geh zu Ralphie«, sagte ich nach dem Mittagessen. »Mit den neuen Sachen spielen.«

    »Seine Mutter ist sicher nicht da, um euch zu beaufsichtigen«, sagte meine Mutter mit leisem Tadel in der Stimme.

    »Sie muss eben arbeiten«, erwiderte ich.

    Meine Mutter schüttelte missbilligend den Kopf. Mein Vater erhob sich vom Mittagstisch.

    »In dem Aufzug wirst du mir aber nicht aus dem Haus gehen«, sagte meine Mutter zu ihm. Er trug den Häuptlingsfederschmuck, den er sich selbst zum Nikolaus geschenkt hatte, auf dem Kopf. Mein Vater sah an sich hinunter: »Sitzt meine Krawatte schief?«

    Das Playmobilpiratenschiff ließ ich zu Hause. Anachronismen waren in unserem Historienspiel bislang geduldet gewesen, aber bei Tobruk hatten wir uns vorgenommen, ausnahmsweise historisch akkurat vorzugehen. Das war die Lehre, die wir aus Austerlitz, Crécy und Teutoburger Wald gezogen hatten. Bei Crécy hatte ich Ralphies englische Langbogenschützen mit den Luft-Boden-Raketen meiner Mirage-Kampfbomber neutralisiert, was dieser mir in Austerlitz heimzahlte, indem er meine Napoleonischen Streitkräfte unter seiner ferngesteuerten Dampfwalze zermalmte. Dass er die Legionen des Varus ohne vorherige Absprache mit Flammenwerfern ausgestattet hatte, fand ich auch nicht eben die feine Art. Zwar hatte ich trotz dieses faulen Tricks gewonnen, aber von meinen mächtigen Kriegsdinosauriern waren fünf Stück abgefackelt worden.

    Ich nahm Cousin Iggys Ramoneskassette mit zu Ralphie. Bisher hatte ich noch keine Zeit gehabt, sie mir anzuhören. Vielleicht eignete sich diese Punkmusik ja gut als Soundtrack zum Wüstenfeldzug. Ralphie war erstmal nicht besonders interessiert. Er betrachtete die Kassette kurz und gab sie mir dann mit den Worten zurück: »Ramones? Nicht dein Ernst. Klingt wie ’ne drittklassige Country & Western-Kapelle. Aber vielleicht leistet sie dir ja als Panzersperre gute Dienste.«

    Das konnte ich nicht auf Cousin Iggy sitzen lassen, und so erzählte ich Ralphie, wie die Kassette in meinen Besitz gelangt war. Er machte große Augen: »Na gut, dann leg ich das Ding mal ein. Vielleicht ganz lustig.«

    Ich begab mich auf meinen Posten in der Feste von Tobruk, hier durch das Schreibpult dargestellt, und rückte meine Artilleriepositionen zurecht. Aus Ralphies Kassettenrekorder erklang ein rhythmisches Knattern. Wie eine extrem gutgelaunt ins Feld rollende Panzerdivision. Man konnte nicht stillsitzen dazu. Ich hüpfte von einer Einheit zur anderen und bellte sinnlose Befehle durch den Pulverdampf.

    Ralphies Pioniere kämpften sich in Schüben, die zum Rhythmus der Musik passten, durch die Stacheldrahtverhaue unterhalb von Tobruk. Er grinste entrückt. Meine Geschütze ließen Feuer und Verderben auf die Angreifer hinab regnen. Der Geruch von Schießpulver und zerschmolzenem Plastik begann sich zu verbreiten. Das Knattern stoppte kurz, und dann:

    »Hey-Ho, lets go!«

    Was war das denn?

    »Hey-Ho, lets go!«

    Ich blickte Ralphie an. Seine Haare hatten sich steil aufgerichtet und seine etwas zu groß geratenen Ohren schlackerten, vor-und-zurück-vor-und-zurück, im Takt der Musik.

    »They’re formin’ in a straight line,

    They’re going through a tight wind«

    Ich schob das Pult einen halben Meter nach vorn. Ich hatte auf einmal Superkräfte. Der Vormarsch des Gegners geriet ins Stocken. Die Truppen der Achsenmächte purzelten und wurden zerknirscht. Ralphie saß immer noch wie angewurzelt. Es wirkte, als sei er vom Blitz getroffen. Mein Nervensystem schien besser mit Punk klar zu kommen. Kein Zurück. Artillerie. Feuer. Mittlerweile stand ich auf dem Pult.

    »The kids are losing their minds,

    The Blitzkrieg Bop«

    Blitzkrieg Bop, wie knorke war das denn?

    Blitzkrieg.

    Bop.

    Was Bop wohl sein mochte? Bestimmt eine Geheimwaffe der Nazis. Eine Flugscheibe. Viele Flugscheiben. Milliarden Flugscheiben auf denen Zilliarden Aliens mit Lichtschwertern ritten.

    »They’re piling in the back seat,

    They generate steam heat«

    Mehr Artillerie. Mehr. Sie schossen mir zu langsam, also bewarf ich Ralphies Truppen mit den Kanonen. Als die Kanonen alle waren, bewarf ich sie mit dem Rest meiner Armee.

    »Pulsating to the back beat,

    The Blitzkrieg Bop«

    Ich sprang auf dem Pult auf und ab, damit es zusammenkrachte. Tobruk war egal. Ich hatte keine Armee mehr. Ralphie hatte keine Armee mehr. Was kratze mich Tobruk? Tobruk war gestern, heute war Blitzkrieg Bop.

    Eine neue Salve »Hey-Ho, lets go!« ballerte aus dem Kassettendeck und Ralphie kam wieder zu sich. Aus der Vogelperspektive – ich hing an der Deckenlampe, wie war ich denn da hinauf gekommen? – sah ich wie Ralphie die Überreste unserer Armeen gegen die Wand warf. Ein Sherman-Panzer zerplatzte, ein Truppentransporter zerschellte, eine Pak … hey, das war ja meine, geht’s noch?

    »Hey Ho, lets go, shoot ’em in the back now«

    Ich stürzte mich von oben auf Ralphie und wir balgten uns durch das Trümmerfeld.

    »What they want I don t know,

    They’re all revved up and ready to go«

    Nächstes Lied: »Beat on the Brat«, was war ein Brat? Ein BRAT. Bestimmt so ein russischer Superpanzer, groß wie ein Hochhaus, mit einer 240-mm-Bordkanone. Wir kugelten über das Schlachtfeld. Ich wand mich aus Ralphies Würgegriff, verschanzte mich hinter dem umgestürzten Pult und bewarf ihn mit allem was mir in die Hände kam.

    »Judy is a Punk«, sangen die Ramones.

    Lied Nummer Vier war eine eher getragene Nummer: »I Wanna Be Your Boyfriend«. Zeit für eine Verschnaufpause. Erschöpft lagen wir auf dem Rücken.

    Dann ertönte »Chainsaw« und die zweite Schlacht um Tobruk begann, doch Tobruk existierte längst nicht mehr. »Now I wanna sniff some glue«, krähten wir und jagten uns um das umgekippte Schreibpult.

    »Das ist der Sound der Zukunft«, sagte Ralphie als die erste Kassettenseite zu Ende war und betastete sein blaues Auge. Ich bog meine Brillenbügel wieder gerade und setzte das herausgefallene Glas ein. Das Zimmer sah aus, als hätte ein Bataillon betrunkener Nikoläuse darin gewütet.

    Ich lief, ich segelte, nein ich flog nach Hause, in meinem Kopf knatterten die Riffs, klangen die Refrains der Ramones. Wie langsam alle waren, die ganze Welt schien sich in Zeitlupe fortzubewegen, alle kreisten auf 33 Umdrehungen, nur ich rotierte auf 45. Ich schwirrte durch das Fenster in unsere Wohnung hinein, mein Körper folgte durch die Tür.

    Meine Mutter legte mir die Hand auf die Stirn: »Hast du Fieber?«

    Ich glitt zurück in meinen Körper und schüttelte den Kopf: »Ich möchte etwas zu tun haben. Jetzt. Ich möchte jetzt etwas zu tun haben.«

    »Der Junge ist zu nervös«, sagte mein Vater hinter seiner Zeitung hervor. »Er braucht eine Modelleisenbahn. Das beruhigt.«

    Ihre Stimmen klangen dumpf, dunkel. Sie langweilten mich. Sie waren so schwerfällig. So langsam. Wie Elefanten. Nein, Triceratopse. Urzeitschnecken. Ich schwebte schon mal vor in mein Kinderzimmer, während mein Körper sich am Abendessen beteiligte und besorgte Fragen beantwortete.

    Meine Mutter hatte Recht. Ich hatte wirklich Fieber. Das Rock ’n’ Roll-Fieber.

    Probleme

    Bislang hatte Musik in meinem Leben keine große Rolle gespielt. Vor Cousin Iggys Punk-Kassette, war die rebellischste Musik, die ich kannte, die von Gunter Gabriel im Autoradio gewesen, wenn mein Vater zu »Hey Boss, ich brauch mehr Geld« oder »Papa trinkt Bier« entfesselt mit dem Kopf wackelte und seine Koteletten schüttelte, bis meine Mutter die Musik leiser drehte und, spätestens bei »Baby gib Gas« wieder Howard Carpendale einlegte.

    Meine eigene Plattensammlung war überschaubar. Neben Hörspielen und Standards wie dem »Biene-Maja-Lied« oder »Wickie und die starken Männer« war meine letzte Errungenschaft eine Kassette mit Schlumpfmusik. Die Schlümpfe wurden als der neuste heiße Scheiß aus Belgiens nimmermüden Comicschmieden gehandelt. Doch nachdem ich die Ramones gehört hatte, kamen mir die Schlümpfe wie eine Boygroup aus der Retorte vor. Mir wurde

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