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Die wahre Freiheit liegt in dir: Heile dich selbst und dann die Welt
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Die wahre Freiheit liegt in dir: Heile dich selbst und dann die Welt
eBook276 Seiten4 Stunden

Die wahre Freiheit liegt in dir: Heile dich selbst und dann die Welt

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Über dieses E-Book

Als Tochter von Saddam Husseins Privatpilot erlebt Zainab Salbi als Jugendliche hautnah mit, was Diktatur bedeutet. Auf Drängen ihrer Mutter heiratet sie mit 19, emigriert in die USA und macht sich als Menschenrechtsaktivistin einen Namen. Doch während sie sich weltweit für Frauen in Kriegsgebieten einsetzt, gerät ihr eigenes Leben aus den Fugen, als sie erkennt, dass sich ihre eigenen Schatten nicht von selbst auflösen. In diesem Buch erzählt sie die fesselnde Geschichte ihres Heilungswegs: »Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen. Das ist der Weg zur Freiheit.«
SpracheDeutsch
HerausgeberScorpio Verlag
Erscheinungsdatum27. Mai 2022
ISBN9783958034815
Die wahre Freiheit liegt in dir: Heile dich selbst und dann die Welt

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    Buchvorschau

    Die wahre Freiheit liegt in dir - Zainab Salbi

    Einleitung

    Wir leben in einer Zeit voller Schatten. Weltweit steigt all das Hässliche aus den Kellern auf, das wir dort lange Zeit unter Verschluss gehalten hatten. Länder, Gemeinschaften und Individuen sind in Extreme gespalten: links und rechts, reich und arm, Einheimische und Fremde, Muslime und Christen, Herrscher und Rebellen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Männer und Frauen, jeder von uns mit ganz verschiedenen Standpunkten, die scheinbar nie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Das schafft Panik und Verwirrung.

    Als im Irak gebürtige Amerikanerin muslimischen Glaubens, die den größten Teil ihres Lebens in den Dienst von überwiegend weiblichen Kriegsopfern gestellt hat, habe ich Instabilität und Unruhen erlebt, bin Diktatoren und Politikern von Weltrang begegnet, habe mich vor den Kugeln von Scharfschützen in Deckung gebracht und für Gerechtigkeit gekämpft. Ich habe versucht, mit meiner humanitären Arbeit in Kriegszonen manche der Ungerechtigkeiten in dieser Welt zurechtzurücken; und später auch mit meinen Medienprojekten, in denen ich über die Kämpfe und Siege von Menschen rings um den Globus berichtete – von der Kampagne zur Anerkennung des dritten Geschlechts in Indien etwa; von den Ehefrauen von IS-Kämpfern im Irak oder den jungen amerikanischen Musliminnen, die sich entschlossen, das Kopftuch zu tragen. Ich habe hautnah erfahren, was Konflikt, Kampf und Zwietracht bedeuten. Ich habe gelernt, dass wir, wenn wir uns von Angst und Wut leiten lassen, irgendwann selbst zu den Aggressoren werden, die wir doch eigentlich bekämpfen. Wir werden zu dem, was wir hassen.

    Gerade in unserer heutigen Zeit ist es wichtig, uns das klarzumachen. Überall auf der Welt zeigen wir ängstlich und wütend mit dem Finger auf vermeintliche Feinde und Aggressoren ringsum. Angst und Verunsicherung lassen uns nach dem »anderen« suchen, den es zu konfrontieren gilt. Ich bin eine Reisende zwischen den Welten von West und Ost, den USA und dem Mittleren Osten, und ich sehe allerorten die erhobenen Zeigefinger, die auf andere gerichtet sind. Im Mittleren Osten höre ich, dass Amerika an allem schuld ist. All die Zerstörung, die Revolutionen, die Unterdrückung, ja selbst der IS sind ein Produkt der Arroganz und des Machtmissbrauchs der USA. Ironischerweise bekomme ich das Gleiche in umgekehrter Richtung zu hören: Aus amerikanischer Sicht wurzelt der ganze Terrorismus, die Instabilität, die Angst und der Massenexodus von Menschen in der Verkommenheit und Korruption der »anderen« dort drüben – an jenen weit entfernten, gottverlassenen Orten.

    In der Tat gibt es viele, auf die wir mit dem Finger zeigen könnten – auf die Leute, die für Trump oder den Brexit gestimmt haben oder für die Referenden in Katalonien oder Kurdistan. Wir könnten auf die Massen von syrischen Migranten deuten oder den destabilisierenden Einfluss Russlands. Oder wir bleiben in unserem eigenen Umfeld und richten ihn auf die Leute, die andere religiöse Praktiken pflegen, die Chefs, die uns in unserer Karriere blockieren, oder Familienmitglieder, die uns übel wollen.

    Wir könnten. Aber in diesem Buch geht es nicht darum, wie wir in unsere Lage gekommen sind oder wer die Schuld daran trägt. Es stellt die Frage nach dem »Was nun?«. Jetzt, wo wir gegenseitig mit anklagenden Fingern aufeinander zeigen – welche Wege führen uns aus dieser Situation heraus?

    Jedes Leben, jeder Ort, jede Kultur, jeder einzelne Mensch trägt Gutes, Böses und Hässliches in sich. Wir alle haben eine Geschichte, und die ist in der Regel komplex. Wann immer wir irgendjemanden dämonisieren oder idealisieren, ziehen wir uns selbst aus dem Gesamtbild heraus und vereinfachen die Situation auf grobe Weise. Wir tun es, wenn wir denken, alle afghanischen Männer seien Unterdrücker und alle Kanadier Friedensstifter; alle Konservativen seien engstirnig und hartherzig und alle Demokraten weltoffen und einfühlsam. Wir tun es, wenn wir männliche Chefs generell für Chauvinisten halten, während wir weibliche Chefs als Rollenvorbilder feiern. Verallgemeinerungen wie diese mögen praktisch sein, und in manchen mag sogar ein Körnchen Wahrheit stecken, aber wirklich ins Schwarze treffen sie nie. Bei jeder Dämonisierung oder Idealisierung vergessen wir, dass auch wir selbst Gutes, Böses und Hässliches in uns tragen. Wir übersehen, dass wir alle eine Geschichte haben; und aus unserer Geschichte heraus treffen wir sämtliche Entscheidungen im Leben.

    Wir müssen nach anderen Möglichkeiten suchen, um mit unserer Panik und Verunsicherung umzugehen. Die Zeit ist reif dafür. Es reicht nicht, darüber zu reden, was in unserer Welt schiefläuft. Es gilt, einen Weg zu finden, um über alle Gräben hinweg miteinander ins Gespräch zu kommen. Im Westen wünschen sich viele, Helden im eigenen Kinofilm zu sein. Wir wollen auf der Seite der Guten stehen und den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen wie Wonder Woman oder Spider Man. Gewiss eine noble Haltung, bloß haben wir dabei nicht immer das ganze Bild im Blick. Wir begreifen nicht, was für die andere Seite auf dem Spiel steht. Und bestimmt ahnen wir nicht, welche Rolle wir in dem Ganzen spielen. Inwieweit haben wir selbst als gute Menschen, als unschuldige, mitfühlende Menschen, zu dieser besorgniserregenden Spaltung und diesem Aufruhr beigetragen?

    Wir müssen lernen, neu über diese kaputte Zeit nachzudenken. Was uns fehlt, ist eine andere Sprache, um mit denen ins Gespräch zu kommen, die wir als »die anderen« betrachten – die nicht so sind wie wir und deren Tun sich uns nur schwer erschließt. Wir müssen unseren Wunsch, Gutes zu tun, in die richtigen Bahnen lenken und das Beste aus ihm machen. Denn solange wir nicht wissen, was es heißt, in den kleinen Alltagsdingen heldenhaft zu sein, in Ehe und Familie, im Beruf und im gesellschaftlichen Miteinander, in der Art und Weise, wie wir zu vergangenen Taten stehen und uns für unsere aktuellen Werte engagieren – solange wir das nicht wissen, wird aus uns niemals einer dieser großen Helden werden, von denen wir alle träumen. Wenn wir uns darauf beschränken, von den großen Geschichten und furchtbaren Traumata dort draußen in der weiten Welt zu reden, ist es leicht, uns vor den eigenen Geschichten und Schatten zu verstecken, die in unserem Inneren lauern. Mit vorschnellen Reaktionen und Selbstgerechtigkeit schaffen wir jedoch nur noch mehr Spaltung, Aufruhr, Wut und Hass. Wir selbst werden zur polarisierenden Kraft. Wenn wir unseren Finger vorwurfsvoll auf andere richten, gebären wir selbst unsere Feinde.

    Echte Veränderungen beginnen damit, zu unseren eigenen Erfahrungen zu stehen. Das bedeutet, das Gute, Böse und Hässliche in uns anzunehmen – und auch das, was uns innere Schönheit verleiht. Es heißt, die ganze Komplexität unserer Emotionen und Träume anzunehmen – mitsamt der unangenehmen Gefühle, die unsere Fehltritte und unglücklichen Momente in uns auslösen. Es erfordert, bewusst und achtsam zu handeln, denn nur dann intellektualisieren wir unser Leben nicht. Nur dann agieren wir nicht aus der einfältigen Begrenztheit, über die Dinge bloß nachzudenken oder auf sie zu reagieren, sondern sprechen aus der Tiefe unseres wohlvertrauten Selbst. Die Weisheit des gelebten Lebens wird zu unserem Fundament. Wir lassen uns nicht mehr von anderen manipulieren, die danach trachten, an unseren Schatten anzudocken, die zu konfrontieren wir nicht wagen.

    Darüber zu reden, was mir selbst und anderen das Leben schwer macht, versetzt mich manchmal durchaus in Angst, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, mir selbst, Ihnen und der Welt, in der wir leben, authentisch zu begegnen. Es ist ein Weg nach innen, eine Heldenreise, ein Transformationsprozess. Ich will Sie nicht belügen: Der Weg ist steinig. Doch es lohnt sich, ihn zu gehen, denn am Ende winkt die Freiheit – für uns selbst in unserem eigenen Leben und für unser Engagement zum Wohl der Allgemeinheit.

    Das ist die innere Haltung, mit der ich Sie in diesem Buch an meinen persönlichen Geschichten und Erlebnissen ebenso teilhaben lasse wie an den Erfahrungen vieler anderer, die ihrer innersten Wahrheit auch Auge in Auge begegnet sind. Mit meiner Ehrlichkeit hoffe ich, all jenen ein Licht zu sein, die sich berufen fühlen, selbst diesen Weg zu gehen. Was bringt es, sich über äußere Werte auszutauschen, solange wir die inneren nicht begriffen haben?

    Was ich an Gutem, Bösem und Hässlichem in mir trage, dämmerte mir zum ersten Mal beim Schreiben meiner 2006 erschienenen biografischen Erinnerungen Between Two Worlds: Escape from Tyranny: Growing Up in the Shadow of Saddam. (auf Deutsch: Zwischen zwei Welten: die Jahre bei Saddam und meine Flucht aus der Tyrannei, Hoffmann und Campe, 2016). Die Dinge, die ich dort preisgegeben habe, empfand ich als so schmerzlich, dass ich sie mir über weite Strecken meines Erwachsenenlebens nicht einmal selbst eingestanden hatte. Als ich aufwachte und anfing, das Lied meines Lebens zu singen, konnte ich nicht länger die Augen vor dem verschließen, was in mir selbst kaputtgegangen war. Ich sträubte mich, mir anzuschauen, welche meiner Träume und Ideale gescheitert und welche Verhaltensweisen und Einstellungen fehlgeleitet waren. Ich wollte mich nicht mit Situationen konfrontieren, in die ich ohne mein Zutun geraten war. Damals diese Biografie zu schreiben war nicht einfach, wie ich in Kapitel 1 noch schildern werde, aber es war unerlässlich. Es brachte mir ein so wunderbares Gefühl von Freiheit, dass ich beschloss, mein gesamtes Leben auf die gleiche Weise unter die Lupe zu nehmen.

    Ich durchlief einen Bewusstwerdungsprozess, in dem ich das Unwahre in meinem Leben Schicht um Schicht abzutragen begann. Es geschah nicht über Nacht, und manchmal war es schmerzhaft, wie Sie lesen werden – schmerzhaft, meinen gutmütigen, liebevollen Ehemann zu verlassen, als unsere Ehe zerbrach; schmerzhaft, mich aus Women for Women International zurückzuziehen – der Organisation, die ich selbst gegründet hatte und mit der ich in den 20 Jahren ihres Bestehens Hunderttausende von Frauen weltweit unterstützte; und schmerzhaft, mir die peinliche Wahrheit einzugestehen, dass auch ich arrogant sein kann. Zunächst schockierte und deprimierte es mich, mir mein inneres »Alter Ego« anzuschauen. Es dauerte einige Zeit, bis ich erkannte, dass dies ein wichtiger Weckruf war.

    Während ich beim Niederschreiben meiner Biografie ein Geheimnis nach dem anderen lüftete und mir der Ängste bewusst wurde, die damit verbunden waren, lernte ich, auf den Prozess der allmählichen, schichtenweisen Annäherung an meine eigene Wahrheit zu vertrauen. So tat sich ungeahntes Neuland vor mir auf. Ich erfuhr, was es heißt, wirklich glücklich zu sein. Ich stieß zu meiner inneren Schönheit vor und entdeckte, dass sie schon immer da gewesen war. Ich konfrontierte mich mit meinen Ängsten und merkte, dass ich selbst für Menschen Mitgefühl entwickeln konnte, vor denen es mir graute. Ich, die ich mich stets als Kämpferin verstanden hatte, entdeckte, welche Schönheit und Kraft in der Hingabe steckt.

    Solange wir uns nicht die Zeit nehmen, zur Ruhe zu kommen, uns nach innen zu wenden, uns unsere Vergangenheit bewusst zu machen und allem, was gut und hässlich ist in uns, ins Gesicht zu sehen, spielen wir bloß eine Rolle. Wenn wir nicht das Lied unseres Lebens singen, werden wir wütend, selbstgerecht, gemein oder aggressiv. Das ist der Punkt, an dem wir uns in verdrehten Halbwahrheiten oder waschechten Lügen verlieren.

    Auf meiner inneren Reise ist mir klar geworden, dass wir nach-haken müssen, um für unsere eigenen Werte einzustehen und nach ihnen zu leben – nicht nach dem, was uns von anderen vorgegeben wird. Wir müssen unseren Schatten kennen und um unsere dunklen Seiten wissen. Wir müssen die tiefere Dimension unserer Wahrheit erkennen, in der wir nicht länger mit dem Finger auf andere zeigen. Nur hier sind unser Reden und Handeln im Einklang. Nur hier können wir uns mit den dunklen Seiten unseres momentanen Lebens konfrontieren und uns ehrlich und ohne Hintergedanken fragen: »Warum passiert das jetzt?« Haben wir unsere eigenen Licht- und Schattenanteile erst einmal besser integriert, verändert sich die Tonlage unseres Protests. Aus harschem Gebell, das die einen begeistert, aber andere verprellt, wird ein wohlformulierter Appell, der eine deutlich größere Menge von Menschen erreicht.

    Im Prozess des Erwachens schlagen wir eine Brücke zu unserer Authentizität und treten in einen ehrlicheren Dialog mit uns selbst und anderen. Auf einmal sehen wir unsere Schatten und unser Licht, unsere Dämonen und unsere Schönheit. Wir können glaubhaft und mit Integrität über die größeren Themen reden. Dieses innere Erwachen lässt uns zu einem ehrlicheren Miteinander finden – mit denen, die uns besonders nahestehen, aber auch mit Leuten, über deren Leben wir uns womöglich nie große Gedanken gemacht haben. Wir fangen an, die Welt um uns herum besser zu verstehen. Erst wenn wir den »anderen« in uns selbst erkennen, können wir den »anderen« auch in diesen Menschen erkennen – in den amerikanischen »Hinterwäldlern«, den französischen »Arabern«, den islamischen »Fundamentalisten« – in jedem von uns. Ab da beginnen wir, die Kluft zwischen uns und ihnen zu überbrücken, zu den vielen »anderen« dort draußen und unserem inneren »anderen«, mit dem wir tagtäglich leben.

    Ein wahrer Held ist ein normaler Mensch, der das Schwert der Wahrheit zu halten und sich in seiner ganzen eigenen Wahrheit zu zeigen vermag, mit all ihren guten, bösen und hässlichen Seiten. Er trifft seine Entscheidungen aus diesem Verständnis heraus. Als Helden sind wir nicht von Angst und Wut getrieben, sondern schreiten mit Integrität, Liebe und Weitblick voran.

    Gelingt es uns, in uns zu gehen und unserer Wahrheit ins Gesicht zu sehen – der ganzen Wahrheit –, bringen wir vielleicht auch den Mut und die Glaubwürdigkeit auf, unseren Blick nach außen zu wenden und in dieser Welt zu einer Kraft des Wandels zu werden. Wir begreifen plötzlich unsere eigene Rolle in der von uns erschaffenen Welt, und dann setzen wir uns für etwas ein, statt bloß gegen etwas zu kämpfen. Und aus unserer kollektiven Integrität und unseren gemeinsamen Werten entsteht zwangsläufig der ersehnte Wandel.

    Jeder von uns hat alles, was nötig ist, um zu beginnen. Es ist ganz einfach, denn wir brauchen nur eins – uns selbst.

    Alles fängt mit uns selbst an.

    1

    Unsere Geschichte erzählen

    Nur wenn wir die Wahrheit aussprechen, kann echte Heilung geschehen.

    Die längste Zeit meines Lebens war die Dynamik von »wir« gegen »die anderen« die Basis meiner Weltanschauung. Ich dachte in Begriffen von gut und böse, gerecht und ungerecht, Freiheit und Unterdrückung. Die Amerikaner, denen ich in meiner Wahlheimat USA begegnete, hielt ich für frei und selbstbewusst, die Iraker daheim nahm ich als Opfer von Unterdrückung wahr. Amerika empfand ich als Land der Freiheit, während mir der Irak – das Land, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin – verglichen damit bedrückend eng erschien wie ein Gefängnis.

    In dem Maße aber, wie sich mein Lebensmittelpunkt mehr und mehr vom Irak in die USA verlagerte und ich im Rahmen meiner Arbeit ständig neue, vom Krieg zerrüttete Länder rings um den Globus kennenlernte, begriff ich allmählich, dass es das Gute, Böse und Hässliche überall gibt. Leid und Schmerz gingen nicht nur von autoritären Herrschern oder prügelnden Ehemännern aus, sie entsprangen auch den Worten und Taten selbsterklärter erleuchteter Amerikaner, die sich als spirituelle, weltoffene Menschen begriffen, die nach persönlichem Wachstum strebten. Die Erkenntnis, dass es in dieser unserer Welt doch keine Utopien gibt, ließ mich aus allen Wolken fallen.

    Ich hatte mich geirrt in meiner Art und Weise, das Konzept von »wir« zu romantisieren und das »der anderen« zu dämonisieren. Ich war davon ausgegangen, dass eine Kultur und Lebensweise der anderen überlegen sei, doch damit lag ich falsch. Dies zu begreifen öffnete mir die Tür zu weiteren Erkenntnissen. Möglicherweise hatte ich ungeachtet meines Wunschs, Menschen zu helfen und sie nicht zu verraten, trotzdem den einen oder anderen verletzt. Ich war die Personifikation der selbstlosen Aktivistin, die ihr Leben in den Dienst der Armen und Kriegsopfer stellt. Was auch immer ich tat, ich tat es für sie. Aber mir dämmerte allmählich, dass das, was ich für gut gehalten hatte, ganz so perfekt nicht war – und das schloss meine eigene Person mit ein. Ich war vom Bösen nicht unbeleckt. Auch ich hatte eine Schattenseite.

    Wer wir auch sind und wo wir auch herkommen mögen – wir alle haben unsere Geschichte. Sie erzählt von unseren guten Seiten und unserem Leid, unseren Privilegien und Mittäterschaften, unserem Licht und unserem Schatten und vielem anderen mehr. Sie hat ihre ganz eigene Melodie und Harmonie, ihren Rhythmus und Takt. Die meisten von uns erzählen nicht ihre ganze Wahrheit, sondern nur den guten Teil. Ich weiß das aus eigener Erfahrung!

    Erst in der Begegnung mit Nabintu, einer Kongolesin Anfang fünfzig, wurde mir klar, dass auch ich eine Geschichte hatte, die es wert war, mit einem breiteren Publikum geteilt zu werden. Ich hatte gedacht, ich würde ihr helfen, nachdem ihr Leben durch einen grauenhaften Milizenangriff komplett zerstört worden war. In Wirklichkeit aber war sie es, die mir ein Stück Weisheit mit auf den Weg gab, das mein Leben verändern sollte.

    Als ich Nabintu 2003 in der Demokratischen Republik Kongo kennenlernte, war ich 34 und arbeitete seit über einem Jahrzehnt mit Kriegsopfern. Ich befand mich auf einem Erkundungstrip, um zu entscheiden, ob wir uns mit Women for Women International, der Organisation, die ich 1993 in den USA gegründet hatte, in diesem Land humanitär engagieren wollten. Neben unserem Angebot von finanzieller Soforthilfe für die weiblichen Kriegsüberlebenden war es mir stets wichtig, mir von Betroffenen ihre Einzelschicksale schildern zu lassen. Diese Frauen mussten gehört werden! Außerdem wollte ich unseren Unterstützern daheim erzählen können, was sie erlebt hatten. Das Wissen um die entsetzliche Lebensrealität von Frauen wie Nabintu trug nun mal dazu bei, die Spendenbereitschaft für weibliche Kriegsüberlebende weltweit zu erhöhen. Unser Plan war, diesen Frauen irgendwann eine Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen.

    Als ich Nabintu traf, hatte ich bereits Tausende von ähnlichen Geschichten gehört – von Frauen, die in Bosnien in Vergewaltigungslagern gefangen gehalten worden waren, dem Genozid in Ruanda noch eben entkommen konnten oder denen die Taliban in Afghanistan jegliche Ausbildung oder anderen Grundrechte verweigert hatten. Unzählige Frauen hatten mir geschildert, was sie alles auf sich genommen hatten, um ihre Familien durchzubringen, satt zu bekommen und zusammenzuhalten. Die von Frauen erlittenen Traumata werden in der Kriegshilfe nur allzu oft übersehen, und wir wollten eine Möglichkeit finden, Nabintu ebenso zu helfen wie vielen anderen Frauen vor ihr.

    Was Nabintu widerfahren war, mochte noch so furchtbar sein, sie war mit ihrem Schicksal nicht allein. Alles hatte damit angefangen, dass eine Gruppe rücksichtsloser Rebellen ihr Dorf überfiel. Als sie die Männer kommen sah, versteckte sie sich unter ihrem Bett. Sie fanden sie trotzdem. Ihre drei Töchter im Alter von neun, 21 und 22 Jahren ebenso. Die Männer zwangen sie, sich auf den Boden zu legen, die Arme zur Seite zu strecken und die Beine zu spreizen. Sie konnten es kaum abwarten, bis sie an der Reihe waren, sich über sie herzumachen. Sie vergewaltigten sie alle. Ihre Töchter waren von so vielen Männern umringt, dass sie zu zählen aufhörte. Schließlich befahlen sie Nabintus Sohn, seiner Mutter selbst die Beine zu spreizen und sie festzuhalten, während sie sie vergewaltigten. Danach sollte er sich an seiner eigenen Mutter vergehen. Als er sich weigerte, schossen sie ihm in den Fuß.

    Die Gewalt der Rebellen hatte damit noch kein Ende. Sie verwüsteten Nabintus bescheidene Bleibe, nahmen mit, was sie brauchen konnten, und verbrannten alles Übrige – das Haus, die Kleidung, noch das letzte bisschen Geschirr und Mobiliar. Sie ließen Nabintu und ihre Töchter nackt zurück. Nachbarn, die den Angriff überlebt hatten, eilten herbei und gaben jeder von ihnen ein Tuch, um sich darin einzuhüllen. Wir begegneten uns kurze Zeit später. Nabintu war aus Angst vor einem weiteren Angriff aus ihrem Dorf geflüchtet. Sie hatte noch dasselbe Tuch am Leib, das sie an jenem grauenhaften Tag von ihren Nachbarn bekommen hatte. Es war das einzige Kleidungsstück, das sie besaß. Schuhe hatte sie sich aus Teilen zusammengebastelt, die sie auf den Müllhaufen rings um ihre neue Bleibe fand.

    Ungeachtet der Vielzahl von Gräueltaten, von denen ich im Laufe der Jahre erfahren habe, bin ich doch immer wieder schockiert über das Maß an Grausamkeit, zu dem Menschen fähig sind. Obwohl ich mich immer bemüht habe, vor den Frauen, mit denen ich sprach, meine Tränen zurückzuhalten, habe ich nie aufgehört zu weinen. Sollte das jemals geschehen, würde ich mir große Sorgen machen.

    Als Nabintu am Ende ihrer Schilderung angelangt war, suchte sie meinen Blick. »Außer Ihnen habe ich das alles noch keinem erzählt.«

    Ich holte tief Luft. »Nabintu, ich bin Geschichtenerzählerin. Ich erzähle der ganzen Welt von Schicksalen wie dem deinen, um die Leute um Unterstützung zu bitten und darauf aufmerksam zu machen, was mit Frauen in Kriegsgebieten wie in der Demokratischen Republik Kongo geschieht. Willst du, dass ich das, was du mir erzählt hast, für mich behalte?« Ich musste ehrlich zu ihr sein. Die Spendenmittel, die ich mit ihrer Geschichte würde eintreiben können, würden nicht ausschließlich ihr zufließen. Einen Teil davon würde sie bekommen, der Rest käme vielen anderen Frauen in ähnlicher Lage zugute.

    Sie lächelte. »Wenn ich der ganzen Welt erzählen könnte, was mir passiert ist, um anderen Frauen das gleiche Schicksal zu ersparen, würde ich es tun. Aber ich kann es nicht. Du kannst es! Geh und erzähl es allen da draußen in der Welt! Nur nicht meinen neuen Nachbarn.«

    Es kommt im Leben gelegentlich vor, dass uns ein Stück Weisheit wie ein Pfeil mitten ins Herz trifft. Für mich war das ein solcher Moment. Nabintu konnte weder lesen noch schreiben; sie

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