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Oben am großen Fluss
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eBook309 Seiten4 Stunden

Oben am großen Fluss

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Über dieses E-Book

Sarah fällt aus der Zeit, weil sie Ihre Schwester Eva gehen lassen muss. Was ihr auf der Weiterreise dann begegnet liegt jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Manchmal muss man sterben und sterben lassen, um zu werden, wer man wirklich ist. Der Zeit-Raumwechsel vom österreichischen Waldviertel in die spirituelle Realität Mexikos und weiter in den bedrohten Urwald des Volksstammes der Lakandonen zeigt Sarah, was das Leben wahrhaft lebenswert macht. Yaxchilan, die alte Mayaruinenstätte im Dschungel an der Grenze zu Guatemala heißt in der Sprache der Lacandon "Oben am großen Fluss." An diesem Ort geht sie jenseits ihrer Begrenzungen.
Auf ihrer Reise findet sie verborgene Talente und die große Liebe - vor allem zu sich selbst.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Juni 2020
ISBN9783752902433
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    Buchvorschau

    Oben am großen Fluss - Sabine Bacher

    Prolog

    Oben am großen Fluss

    Sabine Bacher

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    Impressum

    Texte: © Copyright by Sabine Bacher

    Umschlag: © Copyright by Anna Kromer

    Bild: © Painting by Alexandra Steiner

    www.alexandra-steiner.webnode.at

    Verlag: Sabine Bacher

    Weitersfeld 1, 2084 Weitersfeld

    sabinebacher24@gmail.com

    Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Printed in Germany

    Blau, tiefes strahlendes Blau dieser Augen, darein sinken, aufgenommen im ozeanischen Urgrund. Salziges Tränen, meertugendhaftes Tun. Ihre persönliche Geschichte erschien ihr komplex, gespeichert in Erinnerungsstücken. Die Ahnen und Urahninnen hatten sie mit ihren Talenten beschenkt. Mit deren Suchen und Versuchen wurde sie betraut. Allein sortierte sie das Geschehen in den Farben der Erinnerung, die sie schon lange zusammengetragen hatte.

    Langes Haar, immer sollte es wachsen, blonde Wirrnis, die Wildheit des Ungezähmten, offen fließend, selten gebannt. Auf der Suche wurde gefunden. Oder fand man, wenn die Suche endete? Die Unruhe trieb sie voran zu neuen Taten, das Alte zu vollenden. Wo war die Geschichte verblieben, wo sollte sie den Faden aufnehmen? Das Leben der Vielfalt wollte ihres sein, seit dem Tage ihrer Geburt.

    Weiche Konturen, wohlgeformter Mund, zu grobe Nase, kein perfektes Gesicht aber doch ansehnlich, leuchtende Konsistenz.Sie dachte immer, sie wäre auf einem fremden Planeten gestrandet, ihre Kindheit Trubel, ungestümes Fohlendasein, eine Welt voller Farben, Gerüche, Menschen, viel Leben rundum. Reisen und Fantastisches, mal verwildernd, mal in ihrem Kind sein zärtlich umfangen von den Gestalten dieser Tage. Sie wuchs in das hinein, was zu sein sie dachte. Es ist uns jedoch bestimmt, das zu werden was wir wirklich sind. So sollte es geschehen.

    Sie träumt und wacht, sie ist hier, immer in Bewegung, Leben ohne Anfang, Leben ohne Ende. Auf der Durchreise.

    Evas Heimkehr

    Der Telefonanruf kam in der Rushhour der Informationsverwaltung, inmitten der letzten hektischen Textbearbeitungen und Korrekturen brach er sich eine Schneise in das gewohnte System. Die Komplexität des Umbruchs forderte volle Aufmerksamkeit und immer noch trudelten aktuelle Berichte freier Mitarbeiter ein. Ein Chaos, in welchem alles wie am Schnürchen laufen sollte, im Zeitschriftenalltag, der sie wie ein Strom mitnahm, sie den vielen Schwierigkeiten zu trotzen wusste, und doch ging immer etwas schief, so musste es sein, um die Sucht nach den Symptomen des erhöhten Adrenalinspiegels zu befrieden.

    Diesmal kam es anders. Die Nachricht war nicht völlig unerwartet, aber sie war von einer Macht, die den Boden unter den Füßen wegzureißen vermochte. Als sie den Anruf entgegennahm ahnte sie bereits, dass dies kein gewöhnliches Gespräch sein würde. „Sarah, David hier, ich hab schon ein paar Mal versucht dich zu erreichen, gut dass ich dich jetzt dran habe. Komm so schnell du kannst ins Allgemeine Krankenhaus. Eva hat es erwischt, die Ärzte sind sich nicht sicher, ob sie es schaffen wird. Sie hat eine schlimme Lungenentzündung und ihr Immunsystem ist in einem sehr schlechten Zustand, nach all den Jahren, du weißt… Wir sind alle schon da, bitte mach schnell, Lars, Mama, Papa. Ich bin so froh, dass ich im Land bin." Sie zitterte kaum merklich, ein inneres Schaudern war das, scheute sich zu lauschen, erinnerte diesen dunklen Albtraum, der sie heute Nacht nicht zur Ruhe kommen ließ. Filmriss.

    Eva liegt im Sterben.

    „David, das kann nicht sein. An Lungenentzündung stirbt man doch heute nicht mehr."

    Schneller und schneller, wir wurden selten müde dieses Spiel zu spielen. Evas lachendes Gesicht, wir kreischen was das Zeug hält, die Hände halten sich überkreuz, ihr dunkles langes Haar fliegt, legt sich um ihren Hals, wir kreiseln bis wir umfallen. Tellerreiben - wieso das Spiel diesen Namen trägt wissen wir nicht, aber das kümmert uns auch wenig. Als Kinder haben wir die Begriffe nicht hinterfragt, wir haben sie genommen wie sie sind.

    Ach, der schöne Schwindel, wir krümmen uns vor Lachen, kitzeln uns, ich drücke sie an mich und so bleiben wir 2,3 Sekunden liegen. Unsere Welt, wir sind in unserer Welt, was verstehen die Großen davon. Nix und nochmal nix. Hinter dem Haus haben wir ein Lager gebaut, ein Versteck, da tragen wir alles zusammen, wie Eichhörnchen, kleine Hamster, unser Palast ist voller Schätze, goldene Glimmersteine, bunte Bänder, jede Menge Spiegel und Lippenstift, Rouge, Schminkzeugs, das wir von unserer Mama geklaut haben. Klauen ist überhaupt ein beliebtes Abenteuer in jenen Tagen. Alle Objekte, die uns begehrenswert erwachsen erscheinen, werden als Trophäen hier zusammengetragen. Los ins Lager‘, ruf ich, ‚los, los!‘ Ich packe Eva bei der Hand, wir klettern den staubtrockenen Pfad in den Wald hinauf, klammern uns an Wurzeln fest, bis wir wieder aufrecht stehen können, ein Stück weiter noch, dann zwischen Reisighaufen und dem Ameisenhügel hindurch und an etlichen Fliegenpilzen vorbei - die sind giftig, hat man uns gesagt. Dann geht´s wieder ein bisschen raus aus dem Wald und hier im Lichtgrünen haben wir, an eine alte Buche, unseren kleinen Palast aufgeschlagen - aus Brettern, Reisig, Ästen und alten Decken, alles Material, was wir zum Bauen zusammentragen konnten.

    Ich habe Zigaretten geklaut, ein ganzes Päckchen. ‚Wollen wir die ausprobieren?‘ Eva weiß nicht so recht. ‚Die riechen doch so scheußlich, das kann doch gar nicht gut sein.‘ ‚Aber den Erwachsenen schmeckt´s. Komm schon, allein macht´s keinen Spaß.‘ ‚Na gut, aber nur ein bisschen.‘ Ich nehme zwei aus der rot-weißen Schachtel. Reiche eine davon Eva und hole das Feuerzeug aus dem Blechkästchen mit den ganz besonderen Schätzen, entzünde damit umsichtig und ein wenig unbeholfen erst meine und dann Evas Zigarette. Lässig halten wir die Zigaretten, lehnen uns an den Baum und ziehen an. Beide fangen wir gleichzeitig zu husten an, einen Lungenzug haben wir gemacht – was das bedeutet habe ich allerdings erst später erfahren – das ist wirklich ekelhaft, mir wird speiübel, ich huste und finde das überhaupt nicht mehr toll. Eva gluckst seltsam, sie greift nach mir, ich sehe ihr ins Gesicht, o Gott, sie fuchtelt mit den Armen, ist ganz rot, kriegt keine Luft, panisch rüttle ich sie, schlag ihr auf den Rücken, ich weiß nicht was ich tun soll, Eva, nicht, atme wieder, ich pack sie bei der Hand, zerr sie den ganzen Abhang hinunter, sie stolpert widerlich röchelnd hinter mir her. Ich habe Angst, ich zerr sie weiter, bis zum Haus, Mama sieht aus dem Fenster, sie erkennt sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich laufe weiter, Eva bricht zusammen, sie ist ganz blau, so ein Blau habe ich noch nie gesehen, ich zerre an ihr will sie weiterbringen, bin zu schwach, ich versuche sie zu tragen. Da kommt uns Mama entgegen, der Schock steht ihr ins Gesicht geschrieben, es ist ihr ein Leichtes Eva hochzuheben, sie macht etwas, was ich nicht verstehe, sie läuft zum Bach und steigt mit Eva hinein, taucht ihren Körper in dem eiskalten Wasser unter, was macht sie da, ich schreie, bitte, bitte, Eva nicht sterben, ich kreische, flehe, verzweifelt, ich bin schuld. Es wirkt, Eva atmet plötzlich wieder ein, ganz tief, und kreischt kurz, aber schrill auf, das fährt durch Mark und Bein. Mama riecht an Evas Mund, riecht den Zigarettenrauch, sie ist furios, so wütend habe ich sie noch nie gesehen, verzweifelt wütend, sie legt Eva nieder und kommt auf mich zu, sie schlägt mir ins Gesicht, ich hasse sie, ich habe es verdient. Eva lebt, Gott sei Dank, sie lebt, ich heule Rotz und Wasser, nie wieder werde ich so etwas machen. Evas Lunge ist schwach, von Geburt an, es ist eine zerbrechliche Brücke, die sie mit dem Leben und der Außenwelt verbindet, Asthma nennen Papa und Mama das, ich habe es vergessen. Mama trägt Eva ins Haus. Alles wird wieder gut.

    Sarah war erstarrt. Sie musste ins Spital. Die Kollegen hatten gleich begriffen, dass etwas nicht stimmte. Sarah wirkte verwirrt. Ihr Gesicht gläsern. Die anderen sahen betreten, peinlich berührt halb zu, halb weg. Blickte das Ungewollte zur Tür herein, löste es Gefühle der Scham aus.

    „Fahr nicht mit dem Auto, nimm dir ein Taxi! und schon hatte Rita, die Sekretärin, die Nummer gewählt. „In fünf Minuten vor dem Nebeneingang.Ihr Stellvertreter Jürgen Bayer versprach ihr, die finale Produktion zu übernehmen. Sie wusste, auf ihn konnte sie sich verlassen. Sarah nahm ihre Jacke, die Handtasche und verließ die Redaktion.

    Vor dem Eingang wurde ihr schwarz vor Augen. Sie lehnte sich kurz gegen die Wand, atmete tief, das Surren im Kopf ließ langsam nach. Die flirrenden Punkte formten wieder ein Bild. Das Taxi stand bereits vor der Tür. Der Fahrer sprang raus, hielt ihr die Türe auf und fragte mit arabischem Akzent und einem Lächeln nach dem Ziel. „Das Allgemeine Krankenhaus, bitte." Sarah registrierte alles minutiös. Sie war einem unwirklichen Zustand ausgesetzt. Das Irreale ein Tor zu etwas anderem. Das andere war nicht greifbar. Sie klammerte sich an kleine Dinge, an die Art wie der Taxilenker den Taxometer bediente, wie er das Lenkrad hielt, wie er leise vor sich hin summte und über den Rückspiegel bemerkte, dass dieser Fahrgast kein Gespräch wünschte, dass es hier um etwas Ernstes ging. Manche Menschen, die in seiner 15jährigen Laufbahn als Chauffeur in sein Auto gestiegen waren, suchten das Gespräch, sprudelten alles heraus. Andere wiederum, wie jene Frau, verkrochen sich in einen Winkel, wollten nicht angestoßen werden und hatten Angst, der Damm könne brechen und weil sie Angst davor hatten, sich zu zeigen, verschwanden sie lieber an einem dunklen lichtlosen Ort.

    Es steckte immer etwas dahinter.

    Er wusste das zu respektieren. Sie war ihm dankbar dafür, denn sie spürte in all ihrer Verwirrtheit die Rücksichtnahme der Menschlichkeit.

    Die Reise an Evas Krankenbett war ihr endlos. Wie die Zeit dehnbar wurde, wenn sich das Unglück darin breit machte, als wären da ungreifbare Barrieren, unsichtbare Hände, die nach einem fassten, zogen und zerrten und zu sagen schienen: Du willst da nicht hin! Nein, das wollte sie wirklich nicht.

    Der Verkehr der Stadt zäh, das AKH ein Labyrinth, monströs in seiner scheinbaren Undurchschaubarkeit. Der lange Krankenhausgang hin zu Evas Zimmer wollte kein Ende nehmen.

    Als sie den Raum betrat, das Herz bis unter die Schädeldecke pochend, bemerkte sie zuallererst die Stille, irgendjemand flüsterte leise. Sie hatte Angst, vor dem was sein könnte. Sarah war immer für jegliche Art von Gefühlen empfindsam gewesen. An der sphärischen Zusammensetzung der Luft erkannte sie, welche Qualität an jedem Ort prägend war und damit das Geschehen bestimmte. Die Emanationen der Menschen erreichten sie ohne Filter. Ein Grund, warum sie es aufgegeben hatte, auf große Konzerte zu gehen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.

    Warum gab es in diesem Zimmer keine Hektik und keine Ärzte, die um ein Leben kämpften? Wie konnte hier schon diese Stille des Todes eingekehrt sein? Sie erkannte das mit einer Deutlichkeit wie selten und begriff es nicht. Es war nicht das erste Mal, dass ihr der Tod begegnete. Sie erlebte jenen ihrer geliebten Minna hautnah, aber sie war mit ihren damals siebzehn Jahren noch zu jung, um die Tragweite des Erlebnisses wirklich zu erfassen. Das Leben ihrer Großmutter war ein erfülltes gewesen und obwohl sie jene in den Zeiten nach ihrem Tod schrecklich vermisste, wusste Hannah instinktiv, dass Minna Sophie glücklich war, dass sie ihren Mann wiederhatte, und dass ihre Lebensreise vollendet war. Aber dies hier blieb ihr sinnlos. Sie wollte hinauslaufen, nach einer Schwester, einem Arzt rufen, aber etwas hielt sie zurück, war es die Kraft ihrer großen kleinen Eva? Es schnürte sie ein. Eva möglicherweise jetzt schon zu verlieren entbehrte jeglicher Logik, und dass das alle Anwesenden offenbar akzeptierten stieß sie sauer auf.

    Verhalten bewegte sich Sarah auf das Bett zu, da saßen der Vater, die Mutter, David und Evas Freund Lars, der sich über Eva beugte. David nahm kurz ihre Hand, drückte sie, sandte ihr dieses bittere Augenlächeln. Sie flüstert ihm zu: „Was ist hier los? Warum sind hier keine Ärzte, die alles daransetzen, dass Eva gesund wird. Da stimmt doch was nicht. „Eva hat darauf bestanden, dass jetzt Ruhe ist, vor einer Stunde. Davor war hier die Hölle los und alles wurde getan was möglich war. „Wie geht das? Ich verstehe es nicht. Wir können doch dagegen an, wegen ihrer Drogensache. Man kann sie doch nicht einfach liegen lassen, zulassen, dass das geschieht. David sah sie traurig wie bestimmt an. „Wie kannst du deiner Schwester in den Rücken fallen. Du weißt, wie sie ist und du weißt, wenn sie so etwas sagt, dann meint sie es auch. Und sie war gnadenlos präsent, als sie darüber entschieden hat, dass sie ihren Frieden haben will. Da wurde es still in Sarah und sie wusste, erinnerte sich wieder, trat aus ihrer Enge heraus: Ja, Eva hatte ihre eigene Realität.

    An diesem Ort zeigten sich die Gesetze von Zeit und Raum aufgehoben. Auf dem Bett lag ein durchscheinend blass-dürres Geschöpf, das nur im entferntesten Sarahs quirlig leuchtender Erinnerung von Eva ähnelte, und doch ist sie es, die Kleine, die sie immer zu behüten wünschte, weil sie so zart war, aber von solcher Präsenz und inneren Stärke, dass ihr das nicht immer gelang, weil die Kleine das gar nicht unbedingt wollte.

    Der Druck im Raum ansteigend.

    Sie hatten sie aufgelesen, gestern Abend, mitten auf der Straße, sie musste schon eine Weile hoch fiebernd durch die Stadt gelaufen sein. Um das durchzustehen, hatte Sarah bestimmt einen Drogencocktail geschluckt, um sich gleich darauf mit Tequila zu betäuben, wie sie es schon oft in ihrem jungen Leben getan hatte. Sie rasselte und keuchte atemlos, als sie sie in dem Respekt einflößenden Wagen mit Blaulicht und Sirene mitnahmen, das Fieber in astronomische Höhen gerückt. Lars sagte leise, er hätte sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Immer wenn sie ihre Schübe, ihre Abstürze hatte, verschwand sie in den städtischen Labyrinthen, wo sie ihre psychotischen Ergüsse durchlebte. Natürlich kannte Lars einige der Plätze, an denen sie sich dann aufhielt, die Wohnungen, in der sie in ihrer Sucht Unterschlupf fand, aber wenn Eva weder gesehen noch gehört werden wollte, dann verstand sie sich darauf unsichtbar zu werden, verschwand in ihrer ganz eigenen Welt aus Poesie und Trugbildern, aus den Traumstoffen ihrer Seele geschöpft. Aber ihr Körper konnte diesen Kreislauf nicht mehr verkraften und ihre Seele sehnte sich schon lange danach aufzugeben. Die gläsernen Geschichten und Gedichte, die sie seit ihrer Kindheit mit diesem unstillbaren Hunger schrieb, zeigten auf eine Welt hinter den Toren unserer Wirklichkeit. Diese leuchtendgrünen Augen schauten nie gesehene Wahrheiten und wollten sich wenig mit den drückenden Anforderungen unserer Realität befassen und dennoch konnte Eva knochenhart sein. Sie warf anderen ihre Meinung ins Gesicht, mit einer Schärfe, die für die Wiener Mentalität, welche lieber zu verdrängen sucht, als klar zu sehen, eher ungewöhnlich war. Ihre Streitlust kannte man als legendär. Kraftvoll und beherzt stritt sie sich um Kopf und Kragen. Probierte man nur einmal Eva zu sagen, was gut für sie wäre, was sie zu tun hätte, dann entfachten sich funkelnde Drachenaugen im Elfengesicht. Worte brannten sich ein. Da war Schluss mit lustig.

    Sie rauchte wie ein Schlot und konnte tagelang von nichts als einem Apfel und einem Joghurt leben, um tags darauf eine Riesenportion von allem zu verschlingen. Eva ließ sich nicht in eine Form pressen und darum wurde sie von uns geliebt. Der Schatten der Liebe war ihr Schmerz.

    Eva, dieses seltene Geschöpf, wahrhaft einem anderen Universum entstiegen, mutete mit ihrer körperlichen Zartheit zerbrechlich an. Das tiefschwarze Haar, das sie gewöhnlich kurz geschnitten und völlig verworren trug, klebte jetzt farb- und glanzlos um ein, Sarah wenig bekanntes, kantiges Profil.

    Ihre Gesichtszüge wechselten entspannt und verbissen ihren Rhythmus. Sie atmete schwer und langsam, mit langen Atempausen. Ihre Augen schimmerten durch einen Spalt ihrer Lider, aber es waren keine offensichtlichen Zeichen von Bewusstheit erkennbar. Eva strahlte Müdigkeit aus, die alles an Energie rundum absorbierte, um die so gewonnene Substanz in ihren Kampf zwischen Leben und Tod zu investieren, den sie mit gewohnter Härte zu bestreiten schien. Manches Mal zuckte sie, ihre Muskeln spannten sich an, sie richtete sich mit aller Kraft auf, murmelte Unverständliches, sackte wieder in sich zusammen und ließ locker, bis in die nächste Phase ihres sterbenden Gebärens. Die Fäuste verkrampft, die Augen verdreht, in den Mundwinkeln klebte gelblicher Schaum, das Gesicht eingefallen, die Backenknochen, in glühendes Rot gefärbt, stachen krotesk wie Felsen daraus hervor. Dann völlig hingestreckt, weich, ein langgezogenes Ausatmen folgte dem Krampf. Sarah fand diesen Anblick kaum erträglich, wollte eingreifen, ETWAS tun. Plötzlich - völlig unerwartet - riss Eva die Augen auf, keuchte schwer und zeigte sich mit ihrem Geist klar und anwesend. Sie blickte rundum und fand was sie suchte in den Augen Sarahs. Ihre Hand fragte kraftlos nach der ihren und Sarah drängte angstvoll und doch gefasst in ihre Nähe. Sie ignorierte die Kanülen, griff die zerbrechliche Hand ihrer Schwester, beugte sich vor, lehnte sich ganz nah an sie heran, bis sie die Haut von Eva berührte, die von Hitze erfüllt brannte. Da war aber auch ein seltsames Empfinden von Kühle und Auflösung, materielle Substanz schwand dahin, ungreifbar das, was sich entzog. Ihr Atemhauch blieb schwach und Sarah witterte den Ruch des Todes, einer eigenartigen Süße, die sie schon einmal gerochen hatte. Da war endlich Frieden eingekehrt, der Kampf beendet. Alles gut, vielleicht konnte es das noch werden.

    Es ist schön. schienen die schwachen Laute jetzt vermitteln zu wollen. Sarah krampfte Evas Hand allzu fest, wollte sie zurückhalten, etwas in ihr wusste glasklar, dass das eine sinnlose Geste war. War es soweit? Niemals. Wie kann man das wahrhaben wollen.

    Ich gehe nach Hause.

    Das was Sarah als ihre Schwester Eva kannte, wurde von einer neuen Qualität geflutet, war umgeben davon, ES war überall, fast mit Händen fassbar, stofflich, wie ein Sprühnebel, war es von Substanz und doch vergeistigt. Sie konnte dieses Etwas nur mit dem Wort Liebe definieren, eine andere Bezeichnung schien ihr kaum angemessen. Es war ein Fühlen, das sie berührte. Und alles war ebenso durchdrungen von der Schwäche, die Eva in ihrem Bett fesselte, dieses offenkundige Ende einer Reise, Ohnmacht im Gepäck, das Unvermeidliche. Ein Körper, der starb und verfiel, schon bald Fäulnis, schon bald Gewürm, wie grausig, wie konnte sie nur so etwas denken. Evas Augen verschleierten sich wieder, aber ihr Gesicht hatte ein aufkeimendes Licht, das Sarah neu war. Als die 32 Jahre junge Frau, dieses seltene Juwel, ihren letzten Atemzug mit einem sachten langgezogenen Seufzen aussandte, da verließ sie das Reich der Irdischen. In diesem Moment wurde Sarah ausgehoben, sie fiel rückwärts aus dem Körper, der Raum öffnete sich mit einem surrenden Rauschen, Strukturen lösten sich auf, es knackte Ohren betäubend. Übrig blieben Weite und Dunkelheit. Ihr Körper war in sich zusammengesackt und vornüber mit dem Gesicht auf Evas Schulter gefallen. Sie schwebte im Raum, über der Szene, die da vor sich ging. Das erregte keinerlei Angst. Die Wahrnehmung, von allem abgelöst zu sein, schuf ein schwereloses, sehr leichtes Empfinden. Es gab keine Trauer mehr, keine Verzweiflung. Es war alles gut, wie es gekommen war, exakt, wie es sein sollte. An ihrer Seite befand sich Eva, schimmernde geliebte Evaschwester. Hier war alles wahrer als wahr, die Szene unter ihnen beiden wirkte wenig real. Fremde Körper, lichtloser Raum, wie ein zweidimensionales Gemälde ob der Bewusstheit die sie eben fühlten. Die Gestalten in dem Gemälde weinten oder wirkten erstarrt. Jemand lief hinaus, um nun doch nach den Ärzten zu rufen. Es war Lars. Seine stumme Verzweiflung hallte in dem Krankenhausflur wider.

    Es berührte sie beide wenig.

    Sarah fühlte die unerschütterliche Verbindung zwischen Eva und sich selbst, ein Band, von dem sie wusste, dass es sie noch durch ihr weiteres Leben begleiten würde, bis an den Tag, da sie sich wiederfinden konnten, am Ende ihres eigenen irdischen Lebens. Sie erkannte jene Sphäre, in welche Eva bereit war einzutreten, die äußersten Ausläufer dieses Raumes. Sie sahen einander ein letztes Mal an, in einer anderen Dimension, einem Ort des Ge-wahr-seins. Eva lächelte.

    Einen Augenblick später fand Sarah sich wieder an Evas leeren Körper gelehnt, vom Klang und Geschmack der Fassungslosigkeit berührt, den sie hier zurückgelassen hatte.

    Der Tod veränderte nicht nur die Welt des Sterbenden, er veränderte vor allem die Welt der Lebenden, mehr konnte sie nicht wissen. Ihre Schwester war ihr nahe, wertvoll für ihre eigene Identifikation mit dem was Leben für sie ausmachte und nun war sie einfach gegangen.

    Die Trauer in diesem Raum lastete schwer. Erstarrung und Nicht-Wahrhaben wollen kennzeichnet die erste Phase des Trauerns. Verzweiflung und Apathie, die Formen des Schocks sind bei jeder Persönlichkeit anders ausgeprägt, so sagt man. Mama und Papa halten sich an der Hand. Mama nimmt mich in die Arme. Will ich das? Ich lasse geschehen und weiß nicht mehr, ob das hier wirklich noch ich bin. Was zerbricht, das ist in mir, der Schmerz fühlt sich körperlich an. Ich will weg hier, weg,....

    Sarah fand sich selbst auf einem Krankenlager wieder. Sie hatten ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, weil sie hyperventilierte, fast hysterisch wurde.

    War sie wahrlich dermaßen emotional? Sie kannte sich nicht in dieser Spielart, jedenfalls schon sehr lange nicht mehr. Ihr Kopf fühlte sich betäubt an, im Mund dominierte ein unangenehm süßlicher Geschmack. Sie lag auf einer rosa Wolke, einer trügerischen Wolke, von der sie wusste, dass sie jeden Moment in sich zusammenpappen konnte, wie Zuckerwatte, klebrig und süß, aber dennoch nichts als Luft. Da war diese Kühle, eine steinerne Kühle in ihr. Was war passiert? Die Erinnerung setzte aus, aber wahrscheinlich wollte sie das, nur nicht erinnert werden, nur nicht den Schmerz fühlen. Da war doch auch dieses andere Bild, dieses Entzücken und in der Kluft zwischen den unterschiedlichen Erfahrungsräumen befand sie sich, verhielt sich ruhig, unbeweglich, um weder in die eine noch in die andere Welt zu kippen. Sarah drückte die Hände fest an ihre Ohren, wie ein Kind, das verweigerte.

    Sie hatten sich auf Evas Hülle gestürzt und alles gegeben, sie wieder zurück zu holen. Wiederbelebung in vielen Spielarten, alles was ihr medizinisches Wissen hergab. Sie fühlten sich schlecht, das konnte Sarah spüren, waren sie doch gefühlt ihrem Eid untreu gewesen. Sarah wusste bereits, dass es vorbei war, dass es so oder so geschehen wäre. Der Zeitpunkt war gekommen.

    Als sie sich wehrte, gegen das, was da geschah, da machte etwas klick, etwas setzte aus. Sie verlor die Kontrolle. Nun lag sie hier, willentlich runtergefahren in Zeitlupentempo.

    Ich will nach Hause.

    Eva ist nicht mehr, alles kehrte wieder, der Gefühlsorkan. Sie raffte sich auf, und bewegte sich vorwärts. Nur raus, ein Taxi und in die Wohnung, weg vom Leben in dieser Welt.

    .....

    Zum fünften Mal versuchte sie nun den Schlüssel ins Schloss zu stecken, zitternd, hielt sie die rechte Hand mit der Linken, wie eine Betrunkene stützte sie sich ab. So gelang es ihr die Türe zu öffnen und als sie sie wieder hinter sich schloss, war ihre Erleichterung groß. Vertrautes kleines sicheres Sarahversum

    Ruhe, Stille, lass die Welt zerbrechen. Dieses unbehagliche mulmige Gefühl ließ sie NICHT in Ruhe. Es war genau das, was man fühlte, wenn man sich in einer Zwischenwelt befand, wenn man weit jenseits der Komfortzone angelangt war. Das konnte nicht wahr sein, konnte einfach nicht wahr sein was hier passierte und doch war es das. In diesem Augenblick erreichte sie die Angst vor dem Nichts.

    wie sie den tag verbrachte, wusste sie kaum. sie saß, starrte vor sich hin. es war Sarah bewusst, dass es viel zu tun gäbe, die beerdigung vorbereiten, die arbeit, so vieles, vieles, aber sie konnte nicht, ließ das telefon läuten, kümmerte sich nicht einmal um sich selbst, schob alles beiseite. weder essen, noch waschen, noch schlafen, noch sonst etwas interessierte sie. sie ließ gehen, alles, nichts von welt, das da noch wichtig schien. wenn sie wenigstens schlafen könnte, den süßen tiefen schlaf des vergessens. sie wusste nicht, ob sie gar nichts oder viel zu viel spürte, es war indifferent, es gab nichts mehr das ihr etwas bedeutete, das leben war mit eva gestorben, oder war sie selbst es, die gerade erst gestorben war und das noch nicht begriffen hatte? wer weiß. sarah rumorte, innen wie außen, gleich auch in eisiger erstarrung gefangen, ein zustand, der an die grenzen des menschenmöglichen geht, ein zustand, den schon viele durchgemacht hatten, kein einzelzustand, aber vereinzelnd. sie lief im kreis. der raum füllte sich mit schwärzestem dunkel, draußen, wie drinnen. sie lief, im kreis, rundum, rundum, alles drehte sich, kippte vornüber, das gesicht auf den boden, hatte sich was angeschlagen. die nase? war das blut? wenn schon. sie blieb liegen, schluchzte verhalten in den boden, krümmte sich. „warum, verdammt noch mal? bitte!!!! wann hat das ein ende, ich

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