Führung lernt man draussen: Bewährungssituationen als Kompetenzerwerb
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Buchvorschau
Führung lernt man draussen - Andrea Zuffellato
Andrea Zuffellato
Führung lernt
man draussen
Bewährungssituationen
als Kompetenzerwerb
Verlag Neue Zürcher Zeitung
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2014 (ISBN 978-3-03823-916-1)
Umschlag: GYSIN [Konzept+Gestaltung] Chur
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-03823-944-4
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Einleitung
«Führungserfahrung wird vorausschauend erarbeitet oder in Zeiten der Not teuer erkauft.»
Erfahrung ist die nachhaltigste Form des Lernens, weil wir im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, weil wir ergriffen werden und uns voll und ganz einbringen müssen. Erfahrung ist eine wichtige Voraussetzung, um Herausforderungen schnell und wirksam zu meistern. Wir können dank der Erfahrung auf die Best Practice der Vergangenheit zurückgreifen und handeln dadurch weitsichtig und anschlussfähig. Erfahrung kann aber auch zum Hemmnis und gar zum Risiko werden, wenn sie zur unreflektierten Routine wird und die situative Aufmerksamkeit darunter leidet. Das Lernen von Führung fördert idealerweise sowohl den Erwerb als auch den Erhalt dieser situativen Aufmerksamkeit. Gleichzeitig trägt es dazu bei, unterschiedliche Erfahrungen in unterschiedlichen Führungskontexten zu sammeln und unterschiedliche Herausforderungen zu meistern.
Es gibt Parallelen zwischen den Führungsrealitäten in natursportlichen Outdoor-Projekten und dem Führungsalltag von Managern. Lernerfahrungen von Bergführerinnen, Seeleuten und Outdoor-Guides können für Leitungsverantwortliche in ganz anderen Bereichen relevant und lehrreich sein, und Outdoor-Erfahrung bietet sich als vielseitige und wirksame Lern-, Übungs- und Trainingsplattform für Führungskräfte an. Der Alpinismus etwa schult Selbstführung und Verantwortungsübernahme. Es bedarf der Disziplin, des Organisationstalents und der Zuverlässigkeit, um Kletterrouten erfolgreich zu meistern, man braucht Mut, Durchsetzungsvermögen und eine korrekte Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und der äusseren Bedingungen. Gruppenaktivitäten wie Seakajak-Touren oder Trekkings verlangen klare Kommunikation und präsente Führung. Die Leitung muss delegieren und übernehmen, die ganze Gruppe im Blick behalten, Etappenziele festlegen und das Vorankommen kontrollieren, um nötigenfalls Planänderungen durchzuführen. Kochen im Team wiederum hat Projektcharakter, Trainees üben Zeitmanagement, Controlling und Koordination, wenn sie ein mehrgängiges Menu entwickeln und umsetzen.
Dieses Buch stellt vier Wege systemischer Führung vor, die eine Brücke von der Outdoor-Erfahrung zum Führungstraining bilden. Die vier Wege konkretisieren und operationalisieren das Handwerk, der Weg betont dabei den handlungsorientierten und prozessualen Charakter von Führung. Dabei gelten die Wege über Outdoor-Bewährungssituationen hinaus und bieten Zugang zu einer nachhaltigen Führungserfahrung und zur persönlichen Weiterentwicklung als Führungskraft.
Über Führung nachdenken heisst, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, sich Haltungen und Werte bewusst zu machen und sowohl das eigene Handeln als auch das Handeln bedeutsamer Menschen zu reflektieren. Dabei durchdringt das Führen alle möglichen Lebensbereiche, von der Gestaltung privater und professioneller Beziehungen über das Selbstmanagement, die Berufsausübung und die Freizeitgestaltung bis zur Lebensführung ganz allgemein.
Über Führung nachdenken bedeutet aber auch, unsere Kommunikation und die Art und Weise, wie wir anderen zuhören, zu reflektieren. Es bedeutet sich zu fragen, wie es uns gelingt, einander zu sehen und zu verstehen und in welcher Qualität wir miteinander sprechen, was unsere Botschaften sind und wie wir unsere Bedürfnisse und Absichten mitteilen.
Es heisst zudem, die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, die den Führungskontext ausmachen, bewusst wahrzunehmen und einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Wer oder was führt hier auch noch?, könnte eine Frage lauten. Die Auseinandersetzung mit Führung soll aber über die reine Betrachtung hinausgehen. Aus dem Nachdenken sollen (Selbst-)Erkenntnisse resultieren, die wiederum das Handeln bestimmen und Wandel und Entwicklung anstossen.
Führungsaufgaben, Entscheidungen und Entwicklungsarbeit sind in modernen Organisationen und Institutionen komplex und vielschichtig. Sie stellen hohe Anforderungen an Führungspersonen und fordern fachliche, soziale und persönliche Kompetenzen. Dennoch kann Führung nicht (mehr) von einer einzelnen Person gewährleistet werden, auch wenn sie noch so kompetent ist. Vielmehr ist es die Aufgabe aller Führungsverantwortlichen – und das ist konsequenterweise die Mehrheit der Mitarbeitenden –, die Organisation zur Selbstführung zu befähigen. Kommunikation ersetzt in diesem Prozess der Befähigung zur Selbststeuerung die klassische Hierarchie oder ergänzt diese zumindest.
Wenn Führung eine so zentrale Rolle in diesen wichtigen Systemen einnimmt, dann sollte man sich mit ihren Funktionsweisen und Disziplinen sinnvollerweise vertraut machen – Führung professionalisieren, anstatt sie zu heroisieren.
Die Weisheit eines Systems, die Entscheidungskompetenz und -befugnis erwachsen aus diesem gemeinsamen Kommunikationsprozess. In einer Organisation werden unzählige Informationen aufgenommen, verarbeitet, gefiltert, geprägt und weitergegeben. Auch wenn vielleicht einzelne Personen letztlich für bestimmte Entscheidungen oder Handlungen verantwortlich gemacht werden, speist sich auch deren Wirklichkeit aus diesem Geflecht der gemeinsamen Wirklichkeitsverarbeitung und Kommunikation. Dieser Lebendigkeit und Komplexität wird keine Theorie gerecht. Vereinfachende Modelle können Perspektivenwechsel ermöglichen und Verständnis fördern, aber schliesslich kann Führung mit allen ihren Dimensionen sozialer Interaktion und Kommunikation nur in der Kombination aus realen Lernerfahrungen und angemessener Reflexion gelernt werden. Es braucht einfache Konzepte, die das Führen erfassen und erklären, ohne es zu simplifizieren, und es braucht Gelegenheiten, Führung zu üben und Führungserfahrungen zu ermöglichen.
Um als Geselle anerkannt zu werden, gehen Zimmerleute auf die Walz. Die Handwerkertradition der Lehr- und Wanderjahre schöpft bewusst aus dem Reichtum des Lernens durch Erfahrung, um neue Arbeitspraktiken und (Arbeits-)Kulturen kennenzulernen. Für das Führungshandwerk gibt es keine vergleichbare Schulung. Das ist schade, denn gerade die biografisch geprägte Führungspraxis kann von unterschiedlichen Erfahrungswelten und Umständen profitieren. In diesem Buch lade ich zu solchen Bewährungssituationen ein. Ich schöpfe dabei einerseits aus der frühen eigenen Erfahrung als Spitzensportler, als ich über den Kampfsport Durchhaltewillen, Disziplin und Fairness lernte, international reüssierte und schon bald jüngeren Judokas zur Seite stand, und andererseits aus natursportlichen Hobbies als junger Erwachsener, bei denen ich als Gleitschirm-Flughelfer, Divemaster, Snowboardlehrer, Kletterhallenbetreuer und Raftguide Menschen zu Land, zu Wasser und in der Luft begleiten und anleiten konnte. Ausserdem konnte ich in bewusst gewählten Führungsaufgaben bei meinem Berufseinstieg als Lehrer in Regel- und Sonderklassen, als Gründer und Leiter einer Schule für Schülerinnen und Schüler in schwierigen Lebenssituationen, als Lehrtrainer, Outdoor-Trainer und Coach sowie als Inhaber und Leiter von planoalto, einem Institut für Aus- und Weiterbildung in natursportlicher und systemischer Erlebnispädagogik, im Outdoor-Training und in naturorientierter Organisationsberatung wichtige Erfahrungen sammeln. Mit diesem Buch stelle ich einen Werterahmen sowie ein Kompetenzmodell zur Verfügung, die zur Reflexion anregen und Möglichkeiten zur gezielten Entwicklung von Führungsfähigkeiten auf der Grundlage einer systemischen Haltung bieten.
1 Soziale Systeme führen
Man möchte meinen, dass ein Begriff wie «Führung» keinerlei Erklärungen mehr bedarf, denn er ist branchenübergreifend gültig, in unserem Sprachgebrauch omnipräsent und fester Bestandteil des gesellschaftlichen Grundvokabulars. Management nimmt in dieser Führungsgesellschaft ökonomisch, gesellschaftlich wie politisch viel Raum ein, besonders wenn es sich um schlechtes Management handelt.
Leadership wird noch immer mit heroischen Vorstellungen überfrachtet und dementsprechend hochgehalten. Die Idee von Führung setzt die Existenz von Zielen oder zumindest einer bevorzugten Richtung voraus und dass es bestimmte, gewünschte Wege gibt, aber eben auch die reale Möglichkeit, sich zu verirren, sich zu verzetteln oder auf der Strecke zu bleiben. Vielleicht gerade deshalb lohnt etwas Skepsis und ein prüfender Blick auf das Phänomen Führung.
Soziale Systeme, ob es sich nun um Lerngruppen, Arbeitsteams oder eine Sportmannschaft handelt, werden sehr unterschiedlich definiert und begriffen. Es gibt Ansätze, sie über die Zusammensetzung ihrer Individuen und deren psychische und physische Eigenheiten zu beschreiben, wie das etwa bei Fussballmannschaften oft passiert. Funktionale Ansätze versuchen soziale Systeme vor allem über ihre Aufgaben zu definieren und darüber, wie sie sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben anstellen, also über ihr Verhalten. Andere Ansätze interessieren sich für die Kommunikationsmuster innerhalb der Gruppen und wie sie mit ihren relevanten Umwelten agieren. Jede dieser Perspektiven führt zu einem anderen Verständnis von Führung.
Historisch betrachtet war Charisma wohl am längsten mit dem Anspruch an Führung gekoppelt. Führung wurde auf die Eigenschaften von Menschen bezogen und im Wesentlichen vererbt – to be or not to be a leader. Später fokussierten Führungsansätze auf die Beziehungsdimension zwischen den Menschen, und daraufhin wurden Führungsstile und Verhaltenskodizes für Führungskräfte definiert und entwickelt. Situatives Führen wurde propagiert, um der Tatsache Herr zu werden, dass unterschiedliche Situationen auch unterschiedliche Führungsstile oder Verhaltensweisen bedingen.¹
Die Systemtheorie beschreibt Teams, Gruppen und Organisationen als soziale Systeme, die im Hinblick auf einen Gründungszweck nützliche Kommunikations- und Interaktionsmuster aufbauen und aufrechterhalten. Diese Muster werden konstant wiederholt und bilden so die individuellen Strukturen und Routinen, die jedes soziale System schliesslich ausmachen. Neben einigen Grundprinzipien der Musterbildung gibt es viele individuelle, kontext- und letztlich personenabhängige Faktoren, die zur Originalität jedes einzelnen Systems beitragen. Führen bedeutet aus dieser Sicht gezieltes Eingreifen in die Kommunikationsmuster im Hinblick auf ihre Ziele. Führen integriert dabei aber auch die zirkulären Wirkungsdimensionen von Kommunikation und Interaktion sowie den daraus resultierenden Kontrollverlust und die grundsätzliche Unberechenbarkeit sozialer Systeme.²
Führung ist in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zum festen Bestandteil wohl der Mehrheit aller gesellschaftlichen Aufgaben und Berufsbilder geworden. Multioptionsgesellschaft, globalisierte Vernetzung, Technologisierung und soziale Netzwerke sind nur einige der Stichworte, die verdeutlichen, wie sich der individuelle Anspruch an Führung verändert hat. Kaum ein Lebensbereich, in dem man heute nicht entscheiden, planen, managen oder führen muss. Angefangen vom Selbstmanagement über das Interagieren in realen oder virtuellen sozialen Netzwerken bis hin zur Erledigung beliebiger Aufgaben, die heute allesamt Schnittstellenfunktionen zu haben scheinen. Führen heisst somit keinesfalls nur mehr Personalführung, Abteilungsleitung und Topmanagement. Führen ist zu einem Überbegriff für Lebensführung und insbesondere für die Gestaltung von Interaktionen und Beziehungen sowie der Erfüllung von Aufgaben geworden.
Führung wird heute bereits in der Schule gefordert und äussert sich in Begriffen wie Schlüsselqualifikationen, Selbstorganisation, Selbstkompetenz usw. Anstelle des (blinden) Gehorsams wird Mitdenken und Mitgestalten verlangt, und das ist natürlich auch gut so. Doch es ist eine nicht weniger hohe Anforderung, die an die heranwachsende Generation und natürlich auch an alle anderen