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Projekt Zukunft: 14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk
Projekt Zukunft: 14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk
Projekt Zukunft: 14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk
eBook360 Seiten4 Stunden

Projekt Zukunft: 14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk

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Über dieses E-Book

Robert Jungk, Journalist, Bestsellerautor und politisch engagierter Zukunftsforscher, hat die Entwicklung des 20. Jahrhunderts in wesentlichen Aspekten beschrieben und auf seine Entwicklung vorausschauend, warnend und ermutigend Einfluss genommen. Am 11. Mai 2013 wäre er, der seit dem Jahr 1970 in Salzburg lebte, einhundert Jahre alt geworden.
Die Erkundung möglicher, wahrscheinlicher, unerwünschter "Zukünfte" war sein zentrales Anliegen, vor allem aber ging es ihm auch darum, "Betroffene zu Beteiligten", zu Akteuren und Mitgestaltern des Kommenden zu machen.
Der Band versammelt Beiträge prominenter Freunde und Weggefährten Robert Jungks, beleuchtet die Aktualität seines Wirkens und schreibt dieses, durchaus auch kontroversiell argumentierend, fort. Demokratie und Mitbestimmung, Herausforderungen und Potenziale der Energiewende und der Friedensforschung, Möglichkeiten eines gelingenden (Zusammen)Lebens oder die Rolle von Kunst als Instrument der Zukunftsgestaltung sind einige der diskutierten Themen. Darüber hinaus wird in sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen die private Seite Robert Jungks beleuchtet: Eine differenzierte Würdigung des "Zukunftsmenschen" Robert Jungk und zugleich eine spannende Erörterung zentraler Fragen unserer Zeit.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2013
ISBN9783701362073
Projekt Zukunft: 14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk

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    Buchvorschau

    Projekt Zukunft - Otto Müller Verlag

    Autoren.

    1. KAPITEL:

    Demokratisierung der Zukunft

    NORBERT R. MÜLLERT

    Der lange Weg zu Zukunftswerkstätten und sozialen Erfindungen

    Soziale Phantasie

    Es ist vor Beginn des Wintersemesters 1967/68. Durch die Technische Universität Berlin (TUB) geht ein Lauffeuer. Der berühmte Bestseller-Autor des Buches „Die Zukunft hat schon begonnen" hält eine Vorlesung und ein Seminar ab. Die überwiegende Mehrheit der Naturwissenschafts- und Ingenieurstudenten kennt das Buch von Robert Jungk, hat teilweise sogar dadurch zu einem Studium an der TU gefunden. Bei dieser Bekanntheit verwundert es nicht, dass an den Fakultäten über die Veranstaltung nicht nur diskutiert wird, sondern so etwas wie ein Muss entsteht, dorthin zu gehen.

    Der Andrang ist entsprechend stark. Ein größerer Hörsaal wird nötig. Und immer noch dicht zusammengedrängt staunen wir über den untersetzten Mann in Anzug und Rollkragenpullover, der beladen mit mehreren Plastiktüten den Raum betritt. Auf dem Tisch neben dem Podium breitet er Bücher und Zeitschriften aus. Dann tritt er ans Pult und beginnt seinen Vortrag zu Prognosemethoden und Befunden der Zukunftsforschung. Doch nach ein paar Sätzen geht er zum Tisch, entschuldigt sich, dass er unterbreche, er wolle versuchen, frei zu sprechen und zugleich in den Austausch mit den ZuhörerInnen kommen. Dazu merkt er noch an, ablesen sei überholt, sein Skript könne zum Nachlesen und Vertiefen vervielfältigt werden.

    Für uns Studentinnen und Studenten ist das, was da passiert, außergewöhnlich. Wir erleben zum ersten Mal einen Dozenten, der von einem anderen Stern zu sein scheint. Er unterbricht seine Ausführungen nämlich wiederholt, um uns zu Meinungsäußerungen und Diskussionen herauszufordern. Dabei hat er anfänglich sichtlich Mühe, uns zum Sprechen zu bringen. Von Veranstaltung zu Veranstaltung aber wird es lebendiger, so lebendig schließlich, dass nach Ende der ,Vorlesung‘ die Gespräche weitergehen, sich Diskussionstrauben um ihn bilden.

    Wir erfahren, es gibt auch andere Möglichkeiten der Wissensvermittlung. Das unkonventionelle Vorgehen setzt sich auch im Seminar fort. Die Tische werden nach draußen getragen. Wir finden es zunächst befremdlich, im großen Kreis zu sitzen, in den sich der Dozent mit einreiht. Robert Jungk erläutert dazu, nur die Bereitschaft zur Veränderung seiner selbst und seiner Umgebung eröffne neue Perspektiven und Chancen. Und daran wolle er in diesem Seminar mit uns zusammen arbeiten, an wünschbaren und alternativen, an ökologischen und menschenfreundlichen Zukünften. In diesem Zusammenhang betont er, Zukunft sei im Grunde genommen etwas Offenes, doch wie er in der Vorlesung schon dargelegt hätte, drohe der Gesellschaft eine Zukunft, die von wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interessen bestimmt sei, oder, wie er es nenne, gemacht würde.

    Im Seminar, das samstags stattfand und meist drei volle Stunden dauerte, standen wünschenswerte Zukünfte im Mittelpunkt. Hatten wir in der Vorlesung überwiegend linear fortgeschriebene Prognosen kennengelernt, so lautete die Aufgabe nun, selbst Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, regelrecht Gegenentwürfe zu wagen. Das stellte sich als schwieriger als gedacht heraus. Denn es gelang uns kaum, den vorherrschenden und vorgefertigten Denkschablonen zu entrinnen. Wir mussten erst lernen, uns von den Fesseln des Bestehenden zu befreien, Phantasien, Wünsche, Ideen und Unausgegorenes auszusprechen.

    Damit wir überhaupt zu etwas Neuem, zu alternativen Entwürfen gelangten, lernten wir, uns dem ‚Ver-rücken des Denkens’ durch Kreativitätsmethoden anzunähern. Beispielsweise benutzten wir die sogenannte ‚Kopfstandtechnik’, wodurch eingangs kritisierte Zustände umgekehrt, also positiv gesehen wurden. Oftmals entstanden auf diese Weise absurd anmutende Sichten, aus denen wir dann wünschenswerte Perspektiven abzuleiten suchten. So gab es beim Thema ‚Freizeit’ Kritiken wie ‚Muss zu festgelegten Stunden’, ‚notwendiges Outfit’ oder ‚organisierter Urlaub’. Daraus wurden die Umkehrungen: ‚nach Belieben losjoggen’, ‚Klamottentauschladen’, ‚Experimentierurlaub’.

    Mithilfe derartiger Techniken benötigten wir viele Anläufe, um tatsächlich ohne Scheuklappen soziale Phantasien zu entwickeln, um ‚wild zu denken’, um niederdrückende Aussichten hinter uns zu lassen, um uns genehme Zukünfte ausmalen zu können. Durch Robert Jungk immer wieder angestachelt und von ihm mit Ideen unterfüttert, nahm schließlich unsere Zukunftsgesellschaft zu unterschiedlichen Bereichen Gestalt an: Berufe und Erziehung, Kommunikation und Bedürfnisse, Technik und Verkehr, Eigentum und Freizeit.

    In dem Skript „Aspekte einer Zukunftsgesellschaft", das aus den Seminaren hervorging, fassten wir unsere Wunschvorstellungen zusammen, ein Kaleidoskop, das Ideen zu zukünftigen Notwendigkeiten hoffnungsfroh aufblitzen ließ. Wie ein anderes Morgen aussehen sollte und könnte, dazu ein Auszug zur Thematik ‚Erziehung und Bildung‘:

    „Aber wozu soll überhaupt erzogen werden? Wie soll der Mensch aussehen, der dem Erziehungsprozess entsteigt? Welche Fähigkeiten wird oder soll er haben?

    –  er soll kritisch sein – Kritik als Vorbedingung jeder Verbesserung;

    –  er soll schöpferisch sein – Kreativität darf nicht das Vorrecht einiger weniger bleiben;

    –  er soll tolerant sein – wichtig für ein erträgliches Zusammenleben aller;

    –  er soll wandlungsfähig sein – flexibel, änderungs- und anpassungsfähig;

    –  er soll phantasievoll sein – zum Überleben und Gestalten unentbehrlich;

    –  er soll experimentierfreudig sein – bereit zur Erprobung des Neuen;

    –  er soll informiert sein – nur so kann er mitbestimmen und mitlenken;

    –  er soll neugierig sein – um über das Wissen seiner Zeit hinauszugelangen;

    –  er soll furchtlos sein – keine Angst mehr vor Fehlern und Versagen;

    –  er soll freudig sein – Lustgewinn als eine legitime menschliche Möglichkeit."

    Am Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bedeuteten obige Erziehungsziele Brüche mit Überkommenem. Es handelte sich um Grundlagen für wahrhaftige Selbstverantwortung, letztlich um Eigenschaften mündiger BürgerInnen, die sich in die demokratischen Strukturen einzubringen verstehen. Genau genommen ist auch heute noch Vieles davon Forderung geblieben, ohne große Chance auf Verwirklichung, denn dazu müsste sich das Bildungssystem stark wandeln.

    Endgültige Form der Zukunftswerkstatt

    Dachten wir uns anfangs in Seminaren genehme Zukünfte aus, Gegenwelten zu den etablierten Vorgaben für das Aussehen der nächsten Jahrzehnte, so merkten wir bald, dass dieses akademische Vorgehen nicht genügte. Es fehlten Kommunikation und Diskussion über den universitären Tellerrand hinaus. In dieses Vakuum brachte Robert Jungk neues Leben, indem er vom ‚Citizen-Movement’ in den USA berichtete. Dort fanden sich in einer Reihe größerer Städte BürgerInnen zu Gruppen zusammen und überlegten, was in ihrer Umgebung schief lief, was sie störte, welche Ärgernisse es gab. Zu den Defiziten, die sie auf diesem Wege identifizierten, suchten sie nach Abhilfen, durchaus auch solche, die über das Übliche hinausreichten. Die Hauptfrage dieser Analyse lautete: „Was können und wollen wir mit unseren Mitteln tun, mit unserem Engagement und unseren Kräften?" Als Antwort darauf wurden ganze Stadtteile gesäubert, hergerichtet und erneuert – und das in Eigeninitiative und Selbsthilfe.

    Bei der Beschäftigung mit dieser Bewegung wurde uns bewusst: wir mussten beim eigenen Erfahrungsumfeld ansetzen, wollten wir in Richtung einer anderen Zukunft etwas bewegen. Diese Betroffenen-Komponente ließ uns die Universität in den Mittelpunkt rücken. Zuvor waren wir mit dem Praktischwerden bei den allgemeineren Gesellschaftsthemen gescheitert. Zu den ‚Aspekten einer Zukunftsgesellschaft’ erdachten wir zwar durchaus erstrebenswerte Zukünfte, gelangten aber über abstrakte Vorschläge und Ideen nicht hinaus.

    Das war beim Universitätsbereich anders. Hier gehörten wir zur Struktur, hier eröffneten sich Realisierungsmöglichkeiten. Ohne in Details gehen zu können: Es wurde eine Universität erdacht,

    –   die Beteiligung und Mitbestimmung auf allen Ebenen vorsah,

    –  die kein Abitur als Zugangsbedingung mehr kannte,

    –  die Öffentlichkeit in jeder Hinsicht anstrebte,

    –  die Militärforschung und -zuarbeit verbot,

    –  die Professoren zum Nachdenken über den Praxisbezug ihres Faches veranlasste,

    –  die von den Fachbereichen Aussagen zu den beruflichen Zukunftsaussichten verlangte,

    –  die Betreuung von Anfangssemestern durch Studenten mit Vordiplom organisierte,

    –  die Studenten zeitweise zu Leitern von Seminaren machte,

    –  die Professoren auf befristete Zeit Arbeiten in fachfremden Gebieten anempfahl,

    –  …

    In der universitären Aufbruchstimmung der siebziger Jahre blieben viele der erdachten, oft phantastisch anmutenden Vorschläge nicht Papier. Im Kleinen wurden Ideen direkt vorangebracht und erprobt, vielfach erzwungen durch kurze Besetzungen und Streiks. Vieles, was auf diesem Wege den Professoren und Fachbereichen abgetrotzt wurde, hatte meist nur kurzfristig Bestand. So versandeten beispielsweise das Leiten von Seminaren durch Studenten oder Patenschaften für jüngere Studenten bei nachfolgenden Studentengenerationen. Von den umfassenderen Projekten, die aus den Robert-Jungk-Seminaren – sie nannten sich jetzt Samstags-Zukunftswerkstätten – hervorgingen, ragen heraus:

    –  Mit den Fachbereichen über ihre Zukunft reden: 12 von 21 Fachbereichen luden Robert Jungk und seine Seminargruppe jeweils zu einer vierstündigen Zukunftsveranstaltung ein.

    –  Zur Bereicherung der Lehre Professoren der Humboldt-Universität (DDR) einladen: Drei Professoren der Politischen Ökonomie und Soziologie konnten gewonnen werden, und sie erhielten sogar ein kleines Honorar.

    –  Studenten organisieren Gegenveranstaltungen und führen sie eigenverantwortlich durch. Etablierte Angebote werden so durch Stoff bereichert, der sonst unter den Tisch fällt – einen Monat lang im Rahmen der Kritischen Universität (KU).

    Mit dem Lernen, wie Verwirklichungsfelder erschlossen werden können, hatten wir den Durchbruch geschafft, ohne es zunächst zu merken. Die Phantasiezustände waren in der Regel nicht zu halten. Es mussten Abstriche vorgenommen und Kompromisse eingegangen werden, um wenigstens einige praktische Schritte auf das Ideal hin machen zu können. Robert Jungk hatte seit Mitte der sechziger Jahre von Zukunftswerkstätten gesprochen, und jetzt war der letzte Baustein gefunden.

    Wir erkannten, dass nicht nur Kritisieren und Phantasieren eine Zukunftswerkstatt voranbrachten, sondern das näherungsweise Umsetzen der Phantasien den Erfolg bestimmten. Die Zukunftswerkstatt als soziales Problemlösungskonzept erhielt durch diese Praxisklärung eine klare Ausrichtung. Der Dreischritt wurde verbindlich: Beschwerde-, Phantasie- und Verwirklichungsphase. Dass unser Vorgehen nur konsequent war, erkannten wir zudem bald. Im Grunde genommen entsprach es dem dialektischen Schließen. Die Beschwerde- und Kritikphase entsprach der THESE; die Phantasie- und Utopiephase der ANTITHESE und die Verwirklichungs- und Praxisphase der SYNTHESE. Diese Analogie stellt natürlich nur eine grobe Entsprechung dar, die jedoch zeigt, dass der Verlauf einer Zukunftswerkstatt durchaus auch theoretisch folgerichtig und nicht einfach aus der Luft gegriffen ist.

    Was ist nun das Besondere an einer Werkstatt, wie sie sich über Jahre, vornehmlich in Seminaren an der Technischen Universität Berlin, herausgebildet hatte und immer wieder erprobt wurde? Vor allem sind folgende Punkte zu beachten: Eine Zukunftswerkstatt

    –  durchläuft drei Phasen, die scharf voneinander getrennt sind,

    –  wird inhaltlich von den Teilnehmenden verantwortet, aber methodisch von der Moderation,

    –  kommt durch Arbeit in der Gesamtgruppe und in Kleingruppen voran,

    –  lebt im Plenum von visualisierten Stichworten und Minisätzen,

    –  versucht, stets konkret und beispielhaft am Thema zu bleiben.

    Obige Hauptelemente des ‚Werkens‘ in Zukunftswerkstätten helfen, teilnehmerInnen-orientiert und -getragen zu Lösungen für das anstehende Problem zu gelangen, indem die drei Phasen nacheinander durchlaufen werden:

    1.  Beschwerde- und Kritikphase

    Das Anliegen durch seine kritische Aufarbeitung genau klären – Bestimmung des Ist-Zustands.

    2.  Phantasie- und Utopiephase

    Den Ist-Zustand mit sozialer Phantasie und Kreativität überwinden – Entwicklung des Wunschhorizonts.

    3.  Verwirklichungs- und Praxisphase

    Teile des Wunschhorizonts zu Forderungen bzw. Projektansätzen verdichten – Klärung des Handlungspotenzials.

    Um das Vorgehen, besonders den Abschluss, zu veranschaulichen, greife ich auf eine Werkstatt zurück, bei der Arbeitsüberlastung und Arbeitsfrust in den Vordergrund rückten. In der Beschwerdephase spitzten sich die Kritiken zu: auf ‚ständige Kundenstörungen’, ‚keine Arbeitsvorgänge zu Ende bringen können’, ‚überreizte Kolleginnen’, ‚ständige Motzerei’. In der Phantasiephase fand die Arbeit in einer Gartenlandschaft auf einer Südseeinsel statt – in einer lustvollen Atmosphäre für MitarbeiterInnen und Klienten. Daraus entstanden über mehrere Zwischenschritte, schließlich mithilfe der Konkretisierungsfragen, zwei Projekte:

    1.

    Was soll angefangen werden?

    Einmal wöchentlich einen Tag lang für Kunden nicht erreichbar sein.

    Wie soll das angefangen werden?

    Geschäftsführung ansprechen, Betriebsrat einschalten.

    Wer hilft? Wer unterstützt?

    Betriebsrat, Kolleginnen und Kollegen.

    Ergebnis: Nach längeren Verhandlungen mit der Geschäftsführung: zwei Stunden wöchentlich das Büro zuschließen können – nach Eintragung in eine Liste.

    2.

    Was soll angefangen werden?

    Freude in die Arbeit tragen, Umgang miteinander entspannen.

    Wie soll das angefangen werden?

    Blumen mitbringen, gemeinsames Frühstück, Lächeln üben, Klienten zu einer Tasse Kaffee einladen, …

    Wer hilft? Wer unterstützt?

    Alle in der Abteilung zusammen. Wöchentlich einen Nicht-Motz-Tag festlegen.

    Ergebnis: Insgesamt Verbesserung des Arbeitsklimas, sich persönlich näher kommen, bei Rückfall in griesgrämiges Verhalten genügt meist der Ausruf: „Denk an die Zukunftswerkstatt!"

    Angesichts obiger Ergebnisse lässt sich sicherlich einwenden, ob dazu wirklich eine Zukunftswerkstatt mit ihren drei Phasen notwendig war. Diese Argumentation verkennt die gruppendynamische Komponente. In einer Werkstatt finden die Beteiligten thematisch und persönlich auf eine konstruktive Weise zusammen, werden oft zu einer Gemeinschaft und übernehmen bei der Umsetzung eine voranbringende Rolle. Der Werkstattprozess verändert und unterstützt den Weg, sich für Neues zu öffnen – sei das Ergebnis von außen gesehen auch noch so klein!

    Soziale Erfindungen

    Um 1975 hatte die Zukunftswerkstatt ihre ‚praxistaugliche’ Form gefunden, eine Form, die wenig Aufwand verlangte und die alle Teilnehmenden in das Durchlaufen der drei Phasen gleichberechtigt einbezog. In der Zukunftswerkstatt wird mit basisdemokratischen Elementen gearbeitet, sie macht ernst mit der Beteiligung von unten. Jahre später formulierten Robert Jungk und MitarbeiterInnen Absichten und Hoffnungen zusammenfassend in einem Forschungsbericht:

    „Uns geht es darum, das Konzept der Zukunftswerkstatt als eine Demokratisierungschance weiter zu verbreiten. Unsere Utopie: Zukunftswerkstätten in jeder Stadt und an jedem Ort, an dem gesellschaftliche Probleme auftauchen und Unmutsäußerungen hochkommen. Dort mit dem Werken zu beginnen, kann Kraft und Mut der Betroffenen fördern, so dass sie ‚ihre’ Sache wirklich anpacken – auch gegen Widerstände. (…)

    Zukunftswerkstätten und soziale Experimente sind nur Werkzeuge, die der Entwicklung menschlicher Möglichkeiten dienen; sie sind keine neuen Instrumente der Lenkung, sondern Geburtshelfer einer Demokratie, die zwar oft versprochen und viel besprochen wurde, aber bisher noch nie und nirgendwo zu wirklichem Leben erwacht ist."

    Jenseits obiger Vorstellungen stellte sich uns bald die Frage, ob Zukunftswerkstätten nicht auch soziale Erfindungen hervorbringen könnten. Auslöser waren die Studien des kanadischen Sozialfürsorgers und Erwachsenenberaters Stuart Conger, der das Ständig-weiter-Auseinanderklaffen von technischen gegenüber sozialen Erfindungen herausstellte. Er verlangte, dass Regierungen ‚Social Invention Centers’ aufbauen sollten, um ein Gegengewicht zu der Übermacht des Technischen auf allen Gebieten, vor allem in Wirtschaft und Gesellschaft, zu schaffen.

    Eine Antwort auf die Forderungen Congers gab Robert Jungk in seinem Buch „Der Jahrtausendmensch, in dem er emanzipatorische Initiativen aus der ganzen Welt zusammentrug. Mit dem Untertitel ‚Berichte aus den Werkstätten der neuen Gesellschaft’ sprach er die soziale Dimension seiner Darstellung deutlich an. Und bis zu seinem Tod 1994 verschrieb er sich der Aufgabe, in Vorträgen und Aufsätzen, in Interviews und Diskussionen, bei Demonstrationen und Versammlungen, aber besonders in seinen Büchern, Perspektiven für ein humanes und umweltdienliches Miteinander von BürgerInnen aufzuzeigen. Was er vorstellte, waren zukunftsweisende soziale Projekte, Erfindungen und Experimente, insgesamt Keime für drängende Korrekturen in Richtung einer menschenfreundlichen Welt im wahrsten Sinne des Wortes – so beispielsweise in den Büchern „Modelle für eine neue Welt, „Projekt Ermutigung, „Menschenbeben, „Delphinlösungen oder „Katalog der Hoffnung.

    Soziale Erfindungen zu machen und soziale Innovationen anzustoßen, faszinierte so stark, dass wir uns wiederholt in Robert-Jungk-Seminaren und -Arbeitsgruppen damit beschäftigten. Wir fanden heraus, dass das Problem der technischen Dominanz bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem amerikanischen Sozialwissenschaftler William F. Ogburn thematisiert worden war. Ogburn sah starke gesellschaftliche Verwerfungen mit der Industrialisierung einhergehen. Ob Rechtswesen, Arbeitsregelungen oder freie Meinungsäußerung, letztlich das gleichberechtigte Miteinander der BürgerInnen in Kommune und Staat wurden vom sogenannten technischen Fortschritt überrollt. Ogburn bezeichnete dieses Phänomen mit ‚social and cultural lag’, also dem Hinterherhinken des sozio-kulturellen Bereichs gegenüber den technisch-naturwissenschaftlichen ‚Errungenschaften’.

    Dieser Wettlauf zwischen Gesellschaft und Technik ist zuungunsten des Sozialen weitergegangen. Eine Vorherrschaft des Technisch-Wissenschaftlichen im Verbund mit dem Ökonomischen hat sich herausgebildet, eine Vorherrschaft, die alles Lebendige zu vereinnahmen droht und bestrebt ist, es so reibungslos wie möglich anzupassen. Nicht Technik ordnet sich dem Menschen unter, sondern der Mensch muss sich ihren oft ‚inhumanen’ Vorgaben fügen. Es sei hier nur an die oft absurden Vorgaben des ‚Computerhandlings’ erinnert.

    Dass Zukunftswerkstätten als basisdemokratisches Problemlösungskonzept Chancen für soziale Erfindungen boten, war für uns in keiner Weise strittig. Doch wir sahen es als schwierig an, die oft speziellen Werkstattergebnisse ins Gesamtgesellschaftliche zu übertragen, sie als soziale Erfindungen zu deklarieren. In dieser Hinsicht leistete das ‚Institute for Social Inventions’ in London Pionierarbeit. Die Mitarbeiter hatten das Zukunftswerkstätten-Buch übersetzt und begonnen, mit verschiedensten Gruppen von SchülerInnen, mit Müttern und mit unterschiedlichen Berufsgruppen Werkstätten durchzuführen sowie die Resultate als soziale Ideen und Erfindungen zu veröffentlichen.

    In den Publikationen des Londoner Instituts werden soziale Erfindungen folgendermaßen definiert: Eine soziale Erfindung ist eine neue und phantasievolle Lösung für ein soziales Problem oder ein neuer Weg, die Qualität des Lebens zu verbessern – z. B. eine soziale Dienstleistung, eine neue Form lokaler Selbsthilfe, eine neue Organisationsstruktur oder eine neue Kombination bekannter Ideen; ausgenommen sind neue Produkte, technische Erfindungen und Patentierbares.

    Um zu beurteilen, was soziale Innovationen bzw. soziale Erfindungen sind, benutzt das Institut eine Reihe von Fragen:

    1.  Ist die Idee oder das Projekt neu und phantasiereich – oder wenigstens neu in England?

    2.  Hilft die Projektidee, die Qualität des Lebens zu verbessern oder eine mehr an menschlichen Maßstäben orientierte Gesellschaft zu schaffen?

    3.  Gibt es Anzeichen, mit der Projektidee voranzukommen? Wurden Anstrengungen zur Umsetzung unternommen? Gab es bereits Reaktionen?

    4.  Hat die Projektidee eine Chance, selbsttragend oder selbstwachsend zu werden? Besitzt sie Modellcharakter?

    5.  Setzt die Projektidee direkt bei den Menschen oder im lokalen bzw. kommunalen Sektor an?

    6.  Ist die Projektidee auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegt?

    7.  Nutzt die Projektidee einer großen Zahl von Menschen?

    8.  Wie steht es mit den Chancen der Durchsetzung? Gegeninteressen? Unterstützer? Abwägung des Für und Wider?

    Um einschätzen zu können, ob Projekte aus Zukunftswerkstätten das Potenzial von sozialen Erfindungen besitzen, entwickelten wir in einem Seminar Kriterien dafür, die sich an die Prüffragen des Londoner Instituts anlehnten. Danach sollten soziale Erfindungen folgende Eigenschaften aufweisen:

    –  sozial orientiert und gemeinnützig

    –  Lebensqualität verbessernd/menschengemäß

    –  kostengünstig und ökologisch

    –  einfach und nachahmbar

    –  verbreitbar und durchsetzungsfähig

    –  neuartig und phantasievoll

    –  ansprechend und faszinierend

    –  dauerhaft und zukunftsweisend

    –  wenig Zeit benötigend und kurzfristig umsetzbar.

    Damit nachzuvollziehen ist, wie die Checkliste der Eigenschaften genutzt werden kann, wird spontan eine Seite der Publikation „Farben der Zukunft 3" aufgeschlagen, in der über 60 Projekte aus Zukunftswerkstätten beschrieben werden. Auf Seite 31 wird das ‚Info-Café‘ vorgestellt:

    „Infocafé (…)

    Zusammengefasst: Die Funktion des Cafés im hergebrachten Sinne als Ort der Begegnung und des Gesprächs, der Diskussion und des Lesens, wird erweitert um

    –  das Kennenlernen und Nutzen von Neuer Technik;

    –  das schnelle Beschaffen von Informationen jeglicher Art;

    –  das Verbreiten und Weitergeben von Informationen;

    –  das Kontakt-Knüpfen zu Gleichgesinnten;

    –  das Finden von Gesprächspartnern mit gleichen Interessen;

    –  das Sich-kritisch-Auseinandersetzen mit sozialen Folgen Neuer Technik;

    –  das Vorschlagen von aktuellen Themen für Vorträge und Kurse.

    Das Café steht allen Bevölkerungsgruppen offen. Kinder und Jugendliche, Frauen und alte Menschen sind willkommen. Es gibt keinen Zwang, sich mit Neuer Technik zu beschäftigen: Es ist ein Café, wo auch Neue Technik vorhanden ist."

    Mit obiger Checkliste lässt sich ausloten, ob das Infocafé eine Chance hat, als soziale Erfindung angesehen zu werden. Selbstverständlich unterliegt eine derartige Beurteilung subjektiven Faktoren, aber sie gibt zumindest die Richtung an, hilft, das Projekt etwas genauer zu durchleuchten. Als Bewertungskriterien werden benutzt: ja = Kriterium ist (weitgehend) erfüllt; nein = Kriterium ist (weitgehend) nicht erfüllt; teils = Kriterium nicht eindeutig entscheidbar.

    Infocafé

    Aufgrund der Bewertung kann das Projekt nur bedingt als soziale Erfindung angesehen werden. Aus heutiger Sicht lässt es sich als Vorläufer der Internet-Cafés einordnen. Ende der achtziger Jahre in einer Zukunftswerkstatt angedacht und in einer mittelgroßen Stadt verwirklicht, stellte diese Art des Cafés etwas Ungewöhnliches dar. Vor allem SchülerInnen nutzten es für Computerspiele. Da sich jedoch die Reparaturen an den Commodore/Atari-Rechnern häuften, wurde der separate Raum bald geschlossen. Was blieb, waren Einführungen ins ‚Computern’ und Beratungen.

    Nachdem wir weitere Projekte aus Werkstätten mit obiger Checkliste untersucht hatten, kamen wir zu dem Schluss, Zukunftswerkstätten können durchaus soziale Erfindungen hervorbringen, aber das Werkstattkonzept ist nur ein Instrument unter mehreren. Die meisten sozialen Neuerungen, Innovationen, Erfindungen entstehen wie nebenbei, oft aus Notsituationen heraus.

    Um sich hier einzubringen, regte Robert Jungk Denkwerkstätten an: Sie sollten maximal fünfzehn Personen umfassen, die regelmäßig zusammenkommen und für gesellschaftlich drängende Probleme Lösungen entwerfen. Dazu sei das Konzept der Zukunftswerkstatt ebenso heranzuziehen wie Kreativitätsmethoden. Außerdem müsste eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit stattfinden. Er verglich dieses Herangehen mit den ‚Think Tanks’ in den USA, die teilweise großen Einfluss auf die Politik besäßen. Solche sozialen Denkwerkstätten sind bis auf einige Ansätze und Experimente Idee und Forderung geblieben.

    Das eigentliche Konzept der Zukunftswerkstatt, so wie es Robert Jungk sah, kann selbst als eine soziale Erfindung gelten. Es hat rund dreißig Jahre gebraucht, um sich durchzusetzen. Die Entwicklung sozialer Erfindungen und Innovationen erfordert für gewöhnlich einen langen Atem, erfordert viel Einsatz und Engagement, erfordert auch, das Risiko des Scheiterns einzugehen. Nur so lassen sich soziale Erfindungen auf den Weg bringen. Um plastisch zu werden, sei an einige Innovationen der letzten Jahrzehnte erinnert: Frauenhäuser, Bürgerinitiativen, Obdachlosenzeitungen, Fair-Trade-Bewegung, Dritte-Welt-Läden, Netzwerke, Mikrokredite, Tafeln u. v. a. m.

    Zu tun bleibt viel – angesichts der Übermacht des Nur-Technischen oder des Technisch-Vermittelten, das allmählich die gesamte Gesellschaft durchwirkt und dominiert. So wäre etwa Folgendes zu tun:

    –  Ganz allgemein ein Bewusstsein für die Notwendigkeit sozialer Erfindungen schaffen und ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung herausstellen.

    –  Regelmäßig über soziale Erfindungen aus verschiedenen Bereichen berichten, z. B. in Form einer Publikation.

    –  Eine Anlaufstelle für Fragen rund um soziale Erfindungen aufbauen und dazu eine originelle Öffentlichkeitsarbeit betreiben.

    –  Als Einrichtung arbeiten, die zusammen mit einem engagierten Personenkreis soziale Erfindungen als Antwort auf drängende Probleme ‚ausbrütet’.

    –  Jährlich zu einem Wettbewerb einladen, um ‚Die soziale Erfindung des Jahres’ zu prämieren und sie dann weiterhin zu unterstützen.

    Literaturhintergrund:

    Zu Kreativitätsmethoden:

    H. Mauer/N. R. Müllert: Soziale Kreativitätsmethoden von A-Z, Nachschlagen – Verstehen – Anwenden, Neu-Ulm 2007

    Zu Erziehungszielen:

    A. H. Müller u. a.: Aspekte einer Zukunftsgesellschaft – Ergebnisse, Probleme, Ansätze, Ungereimtes, TUB-Skript, Berlin 1974, S. 25

    Zu Zukunftswerkstätten:

    R. Jungk/N. R. Müllert: Zukunftswerkstätten – Mit Phantasie gegen Routine und Resignation, überarbeitete und erweiterte Taschenbuchausgabe, München 1989

    B. Kuhnt/N. R. Müllert: Moderationsfibel Zukunftswerkstätten, Verstehen – Anleiten – Einsetzen, 3. überarbeitete Auflage, Neu-Ulm 2006

    Zur Utopie von Zukunftswerkstätten:

    R. Jungk u. a.: Zukünfte ‚erfinden‘ und ihre Verwirklichung in die eigene Hand nehmen. Was Bürgerinnen und Bürger in Zukunftswerkstätten entwickeln und vorschlagen, Werkstattbericht 78, Ministerium für Arbeit des Landes NRW, Düsseldorf 1990, S. 207

    Zu sozialen Erfindungen:

    D. S. Conger: The History of Social Inventions, in: N. Albery (ed.): The Book of Visions, London 1992, p. 3–7; Fragenkatalog des ‚The Institute of Social Inventions‘, p. 337f.

    N. R. Müllert: Zukunftswerkstätten, soziale Erfindungen und der lange Atem, in: Institut für Zukunftsstudien: Die Triebkraft Hoffnung, Band 7, Weinheim/Basel 1993, S. 93–103

    N. R. Müllert: Soziale Erfindungen nötiger denn je, Texte & Materialien, Heft 10, Heppenheim 2001

    Zur Theorie ,social and cultural lag’:

    W. F. Ogburn, Fischer Lexikon der Soziologie, Frankfurt/M. 1967, S. 256 ff. und 290 ff.

    Zu Projekten aus Zukunftswerkstätten:

    J. Becker u. a.: Farben der Zukunft 3 – Du kannst mich ruhig ansprechen, Berlin/Ratingen/Zürich 1992

    ANDREAS GROSS

    Europa braucht mehr Demokratie, die Demokratie aber auch mehr Europa.

    Robert Jungks Utopiebegriff und die dringende Reform der politischen Ordnung unseres Kontinents

    „C’est quand chacun de nous attend que l’autre commence que rien ne se passe"

    Abbé Pierre (1912–2007)

    Wenn jeder von uns nur darauf wartet, dass der andere beginnt, passiert gar nichts!"

    Jede Zeit hat ihre Utopie und ihr Utopieverständnis. In

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